Kein Name soll vergessen sein

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Vor genau 70 Jahren verabschiedete die Knesset ein Gesetz, das die Errichtung der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem vorsah. Daraus entstand die wichtigste Gedenkstätte, die an die nationalsozialistische Judenvernichtung erinnern soll. Doch die Anfänge waren schwierig.

Von Ralf Balke

Der Kontrast könnte kaum größer sein. Eben noch dem grellen Jerusalemer Tageslicht ausgesetzt, stehen die Besucher der kleinen unterirdischen Halle, die den rund 1,5 Millionen in der Schoah ermordeten Kindern und Jugendlichen gewidmet ist, schlagartig im Dunkeln und brauchen einige Momente, um sich zu orientieren. Der Raum selbst ist nur von fünf Kerzen beleuchtet, deren Licht von zahlreichen Spiegeln reflektiert wird und eine Art Sternenhimmel erzeugt. Zu sehen sind dann Porträtaufnahmen einiger der Opfer, eine Stimme aus dem Off nennt immer wieder Namen, Herkunftsort und biographische Angaben. Möchte man sie alle hören, müsste man non-stop mehr als drei Monate in der Halle verweilen – so lange dauert es, bis jeder einzelne genannt wird und die Bandaufnahme von vorne beginnt. 1987 wurde das Gebäude errichtet, und zwar als weiterer Teil der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, zu deutsch: Denkmal und Name, deren Grundsteinlegung im Juli 1954 erfolgt war.

© Talmoryair / CC BY 3.0

Doch die Idee, den Opfern der deutschen Judenverfolgung eine Gedenkstätte zu errichten, ist weitaus älter. Schon im Sommer 1942, als die ersten Berichte über die Massenvernichtung der europäischen Juden das damals britische Mandatsgebiet Palästina erreichten, begannen im Yishuv, der vorstaatlichen jüdischen Gemeinschaft zwischen Mittelmeer und Jordan, die Diskussionen darüber, und zwar auf Initiative von Mordechai Shenhavi, einem Vertreter der Kibbuz-Bewegung und führender Kopf der sozialistisch-zionistischen Jugendorganisation HaShomer HaZair. Er selbst hatte, übrigens handschriftlich, schon damals ein erstes Konzept ausgearbeitet, wie „allen jüdischen Opfern der Katastrophe, die durch die Grausamkeiten der Nazis und den Krieg“ gedacht werden könnte: „1) Ein Nationalpark mit einer Fläche von mindestens 500 Dunam [50 Hektar] in einem bedeutenden Gebiet mit landwirtschaftlichen Siedlungen. 2) Das dafür infrage kommende Gebiet wäre Metsudot Ussishkin [in der Nähe der Kibbuzim Dan und Dafna], nicht weit von den Quellen des Dan-Flusses…. 3) Ein Zentrum in Safed: ein Pavillon über die Geschichte des Leidens und der Opfer.“ Bereits zu diesem Zeitpunkt ging es auch um das Erfassen von Namen und Dokumenten. „Es sollte ein spezielles Büro eingerichtet werden, um das Material nach geographischen Gebieten zu sammeln – Einzelheiten über die Gräueltaten und die Art und Weise, wie die Opfer ermordet wurden, zusammen mit ihren Namen – all dieses Material sollte in Form von historischen Schriften über das jüdische Volk zusammengetragen werden.“

Doch zwischen den ersten Vorschlägen und ihrer Umsetzung sollten noch Jahre vergehen. Mordechai Shenhavi reichte im September 1942 sein Konzept an den Keren Kayemeth LeIsrael, den Jüdischen Nationalfonds, weiter, der das Ganze sehr wohlwollend aufnahm, jedoch Änderungen verlangte. Parallel dazu wurden von Vertretern des Jewish World Congress, des American Jewish Congress sowie der Hebräischen Universität in Jerusalem ähnliche Überlegungen angestellt, woran sich unter anderem Chaim Weizmann und Nachum Goldmann beteiligten, was wiederum den Keren Kayemeth LeIsrael dazu motivierte, das Projekt, dem Mordechai Shenhavi den Titel „Yad Vashem – Memorial Enterprise for the Destroyed Diaspora“ gab und welches er im Mai 1945 in der Tageszeitung „Davar“ näher erläuterte, weiter voranzutreiben.

Nach der Gründung des Staates Israel im Mai 1948 fand es einen weiteren wichtigen Fürsprecher, und zwar in der Person von Ben-Zion Dinur, erster Minister für Kultur und Erziehung sowie selbst ein prominenter Historiker. In Zusammenarbeit mit Mordechai Shenhavi erarbeitete er einen Gesetzesentwurf, der im Frühjahr 1953, also genau zehn Jahre nach dem Warschauer Ghetto-Aufstand, in die Knesset eingebracht wurde und schliesslich am 19. August desselben Jahres verabschiedet wurde. Auf deutsch lautet sein Titel: „Das Gesetz zur Erinnerung an Holocaust und Heldentum – Yad Vashem“. Beschlossen wurde damit der Bau einer gleichnamigen Gedenkstätte in Jerusalem, nunmehr die Hauptstadt des jungen Staates Israel, das nicht nur den sechs Millionen Opfern der Schoah gewidmet ist, sondern ebenfalls dem „Heldentum jüdischer Soldaten in den Armeen und in den Widerstandsorganisationen in Städten und Wäldern, die ihr Leben im Kampf gegen den nationalsozialistischen Tyrannen und seine Helfer verloren haben“ und für die „unaufhörlichen Bemühungen der Eingeschlossenen, ihr Heimatland [Israel] zu erreichen und für die Hingabe und das Heldentum ihrer Brüder und Schwestern, die den kleinen Rest an Überlebenden retteten und befreiten“. Doch Yad Vashem sollte von Anfang an mehr als nur eine Gedenkstätte werden. Man verstand sich ferner als Dokumentationszentrum, das „alle Zeugnisse zum Holocaust und zu Heldentum“ sammelt und die Forschung zum Thema Schoah voranbringt. Eine weitere wichtige Passage des Gesetzes vom 19. August 1953 lautetet, das Yad Vashem dazu ermächtigt werden sollte: „Den Angehörigen des jüdischen Volkes, die vernichtet wurden, und jenen, die im Holocaust und in Aufständen fielen, gleichsam die israelische Staatsangehörigkeit im Gedenken zu verleihen als Zeichen dafür, dass sie zu ihrem Volk genommen wurden.“ Dieser Aspekt sollte später von ganz besonderer Relevanz sein, und zwar in den Diskussionen um die sogenannten „Wiedergutmachungszahlungen“ sowie Fragen der Restitution des Eigentums der in der Schoah ermordeten Jüdinnen und Juden.

Doch die Initiative dazu hatte nicht nur Befürworter. Einer ihrer erklärten Gegner war niemand Geringeres als Staatsgründer David Ben Gurion. Noch im Frühjahr 1952 hatte er in der Tageszeitung „Davar“ folgendes geschrieben. „Der einzige Grabstein, der für das Gedenken an das durch die Nazi-Bestien vernichtete europäische Judentum passend ist, ist der israelische Staat in seiner Gesamtheit.“ Doch mit seiner Haltung stand David Ben Gurion ziemlich alleine da. Das Gesetz wurde trotzdem in der Knesset verabschiedet. Dennoch gab es heftige Diskussionen um bestimmte Begriffe wie „Heldentum“ und die gestalterische Umsetzung. Denn das Konzept von Mordechai Shenhavi, das 1956 von den beiden Architekten Aryeh Elhanani und Arieh Sharon präsentiert wurde, sah eine Zweiteilung vor. Es sollte eine „Halle der Erinnerung“ geben, die den ermordeten europäischen Jüdinnen und Juden gewidmet war, sowie eine weitere „Halle des Heldentums“, die den bewaffneten Widerstand der Partisanen und jüdischen Kämpfern in den Armeen der Alliierten thematisierte.

„Diese Zweiteilung folgte im Wesentlichen der auch im Jischuw verbreiteten Sichtweise, die grundlegend unterschied zwischen Ghettokämpfern und Partisanen auf der einen Seite und Opfern, die sich vermeintlich >wie Lämmer zur Schlachtbank< führen ließen, auf der anderen Seite“, schreibt der Historiker Roni Stauber in der von Dan Diner herausgegebenen „Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur“. „Während Vertreter der Organisation ehemaliger Ghettokämpfer und Partisanen die Pläne Shenhavis unterstützten, formulierten andere, wie etwa der Generalsekretär der Histadrut, Yosef Sprinzak, oder das dem Beirat angehörende führende Mitglied der religiös-zionistischen Arbeiterpartei Mizrahi, Zerah Warhaftig, Einwände gegen eine solche Zweiteilung. Sie vertraten die Auffassung, das jüdische Heldentum habe verschiedene Formen angenommen und sich nicht nur auf den bewaffneten Kampf beschränkt.“ Mordechai Shenhavis Pläne wurden letztendlich revidiert, weil die Claims Conference, die rund 50 Prozent der finanziellen Mittel für den Bau von Yad Vashem zur Verfügung stellte, den alltäglichen Kampf ums Überleben in den Ghettos, in Verstecken oder in den Konzentrationslagern ebenfalls als Widerstand definierte. Auch die Doppelfunktion als Gedenkstätte und Dokumentationszentrum sollte für weitere interne Konflikte sorgen. Überlebenden-Verbände in Israel hatten die Befürchtung, Yad Vashem könnte zu einem reinen Forschungsinstitut werden und damit ein bloßer Ableger der Hebräischen Universität.

Das erste Gebäude, das infolge des Gesetzes vom 19. August 1953 auf dem Har HaZikaron, dem „Berg des Gedenkens“, errichtet wurde, sollte die Bibliothek, das Archiv sowie die Verwaltung beherbergen. 1957 war es fertig. Hinzu kamen 1961 die „Halle der Erinnerung“ und 1962 die „Allee der Gerechten unter den Völkern“, die nichtjüdischen Personen gewidmet ist, die Jüdinnen und Juden vor dem Zugriff der Deutschen gerettet hatten. 1968 begann man mit der Präsentation der Namen, biographischen Daten und Herkunftsorten der Ermordeten in einem separaten Raum, woraufhin 1973 das Museum zur Historie des Holocausts eröffnet wurde, das 1981 um eine Kunstabteilung vergrößert wurde und schliesslich 2005 in einen Neubau zog. Weitere Denkmäler erweiterten das Konzept, darunter das 1992 fertig gestellte „Tal der Gemeinden“, das alle zerstörten jüdischen Gemeinden aufzählt.

Seit den 1950er Jahren sammelt Yad Vashem im Auftrag der israelischen Regierung sämtliche Namen der Opfer des Holocaust. Bis heute wurden ungefähr 4.800.000 Identitäten von jüdischen Männern, Frauen und Kindern auf diese Weise erfasst und zusammengetragen. Allein im Jahr 2022 kamen weitere 40.000 Namen hinzu. Nach Schätzungen von Yad Vashem-Mitarbeitern könnten in den kommenden Jahren noch zusätzliche 200.000 bis 300.000 Personen identifiziert und in die zentrale Datenbank aufgenommen werden, so dass bald insgesamt mehr als fünf Millionen Identitäten der schätzungsweise sechs Millionen Opfer des Holocausts erfasst sein dürften.

„Von Anfang an war uns klar, dass es eine besondere Herausforderung sein würde, die Namen gerade der Kinder ausfindig zu machen, da sie in vielen Fällen nicht registriert wurden, als man sie zusammen mit ihren Familien ermordete“, weiß Dr. Alexander Avram zu berichten. „Wir werden wohl nie alle Namen vollständig erfassen können. Denn die Nazis waren bewusst nicht daran interessiert, ihre Verbrechen zu dokumentieren und versuchten sogar, sie zu vertuschen“, so der Direktor von Yad Vashems Projekt „Halle der Namen und Wiederauffindung der Namen“ weiter. Deshalb ist jeder neue, den wir entdecken und verewigen können, ein weiterer kleiner Sieg gegen die Nazis und ihre Komplizen sowie ihrem Versuch, die Juden und das Judentum vom Angesicht der Erde zu tilgen.“