Zwischen Isar und Jordan

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Schalom Ben-Chorin 1975 in München. (Foto: © Harald Bischoff / CC BY-SA 3.0)

Vor 110 Jahren wurde der Schriftsteller und Religionsphilosoph Schalom Ben-Chorin geboren

Ein Beitrag von Bavaria-Judaica.de

Schalom Ben-Chorin wurde am 20. Juli 1913 als Fritz Rosenthal in München in eine deutsch-jüdisch assimilierte Familie hinein geboren. Vater Richard war Kaufmann und starb, als Fritz elf Jahre alt war. Fritz wuchs mit seiner Mutter Maria, die einen kleinen Seifenhandel betrieb, und der älteren Schwester Jeanne auf.

Die erste bewusste Begegnung mit Antisemitismus war für Fritz Rosenthal der Hitler-Putsch von 1923. Damals sei er als Jude wiedergeboren worden, erinnerte er sich später. In Kontakt mit der jüdischen Religion und Tradition kam er bei seinem ersten Sederabend, den er im Haus seines Klassenkameraden Hans Lamm erlebte. Mit 13 Jahren feierte er seine Bar Mizwa in der Münchner Hauptsynagoge, der großen liberalen Synagoge der Stadt mit „ihrer besonders schönen Orgel“. Geschenkt bekam er die bei assimilierten Juden jener Zeit üblichen Bücher: „Von Eichendorff über Gottfried Keller bis Theodor Storm erhielt ich die Werke deutscher Klassiker und Romantiker. Judaica blieben äußerst rar.“

Zwei Jahre später sollte es zu einem Bruch mit der Familie kommen. Immer mehr suchte Fritz nach den Wurzeln seiner Identität und versuchte, dem assimilierten Leben zu entkommen. An Weihnachten 1928, die Familie stellte stets einen reich geschmückten Baum auf, erklärte er, „diesen Klimbim“ nicht mehr mitzumachen. Auch wenn ihm die Ausmaße des Irrtums und die „tödliche Gefahr dieser Illusion“, der die assimilierten Juden in Deutschland aufsaßen, noch nicht bewusst waren, fühlte er doch „den Widerspruch, die Unlogik, die Illusion, die mit diesem Baum und diesem Fest im jüdischen Hause verbunden war.“ Es kam zum Streit und Fritz verließ die Familie. Er kam noch am Weihnachtsabend bei einer ihm bekannten orthodoxen Familie unter und sollte dort ein ganzes Jahr leben. Hier lernte er das orthodoxe Judentum und die vielen Gebote den Lebensalltag betreffend kennen. In seiner Autobiographie beschreibt Ben-Chorin einen Abend des Laubhüttenfestes, an dem man zuerst lange gewartet habe, bis der Regen aufhöre, nur um dann, kaum in der Laubhütte, den Müll von Nachbarn von oben abzubekommen. „Nie habe ich es so stark empfunden, dass der Jude außerhalb des Landes Israel, in der Verbannung lebt.“

Auch in der orthodoxen Lebensweise fand sich der Jugendliche nicht umfassend wieder. Er begann, sich für den Zionismus zu begeistern und schloss sich der Jugendbewegung Kadima an. Mit 16 Jahren wurde er mit der Leitung des Kulturreferat des Bundes in München beauftragt und begann, Hebräisch zu lernen. Später gründete Fritz Rosenthal eine Münchner Gruppe der revisionistisch-zionistischen Jugendbewegung Beitar. Er sah sich zwischen zwei Polen: „Bubers hebräischer Humanismus bahnte mir Wege zu einer sinnvolleren jüdischen Existenz, während mir Jabotinskys politisches Klarziel die einzig mögliche Interpretation des Zionismus zu sein schien.“

1928 begann Rosenthal eine Lehre in der bekannten Ewer-Buchhandlung, die neben jüdischen Themen und Judaica auch ein allgemeines Sortiment führte. In dieser Zeit erschienen erste Veröffentlichungen Fritz Rosenthals, sowohl journalistische Beiträge wie auch Essays und Lyrik. Er publizierte sie unter dem Pseudonym Ben-Chorin („Sohn der Freiheit“). 1931 begann er ein Studium der Germanistik und vergleichenden Religionswissenschaften an der Universität München.

Seine Münchner „Lehrjahre“ sollten mit den Veränderungen von 1933 zu Ende gehen. Als einschneidend erinnerte er sich an den Reichstagsbrand, von dem er während eines Faschingsfestes in Schwabing hörte. Am 1. April, dem Tag als jüdische Geschäfte boykottiert wurden, habe er, wie die meisten, noch nicht verstanden, was auf die deutschen Juden zukommen würde. Rosenthal ging an diesem Tag mit einer Kamera durch die Stadt, um sie einem Freund zurückzugeben, wurde von der SA verhaftet, brutal zusammengeschlagen und inhaftiert. Noch zwei weitere Male wurde er in den kommenden Monaten verhaftet. Sein Studium musste er als Jude abbrechen. In dieser Zeit war er eng mit drei Künstlern verbunden, dem Graphiker Rudolf Ernst, der Malerin Maria Luiko und dem vielseitig tätigen Alfons Rosenberg. Später schloss sich die Malerin Gabriella Rosenthal der Gruppe an. Die beiden heirateten im Frühsommer 1935.

Fritz Rosenthal war im Dezember 1934 nach Prag gereist und hatte dort „zum ersten Male wieder die Luft der Freiheit geatmet, aber zugleich auch die Ängste und die Unsicherheiten eines Emigranten gekostet, der eine Heimat verloren hatte, ohne eine neue zu gewinnen.“ Die Auswanderung schien dem jungen Paar jedoch der richtige Weg. Eine Schiffskarte und das Visum für Argentinien, das seine Schwester sandte, nutzten die Rosenthals nicht, denn der Kompass seines Herzens zeige nach Jerusalem, wie er es formulierte. Über Italien fuhren sie zunächst in die Schweiz, wo die Eheleute dem 19. Zionistenkongress in Luzern beiwohnten. „Wie seltsam und wetterleuchtend war ein Zionistenkongress in diesen Tagen in der Schweiz, in relativer Nähe jenes Dritten Reiches, in dem Juden kein freies Wort mehr sprechen konnten“. Rosenthal begegnete hier den wichtigen politischen Vertretern der Bewegung, wie David Ben Gurion und Vladimir Seew Jabotinsky. Im Herbst 1935 kam das Paar nach Palästina und ließen sich in Jerusalem nieder. Hier nannte sich Fritz Rosenthal fortan Schalom Ben-Chorin. 1936 wurde Sohn Tovia geboren. Nach der Trennung von Gabriella heiratete Ben-Chorin 1943 Avital, die als Erika Fackenheim in Eisenach geboren wurde und als Jugendliche alleine nach Palästina kam. Das Paar bekam später noch eine Tochter.

In Jerusalem arbeitete Ben-Chorin weiter als Autor und Journalist, zunächst als Korrespondent für deutsche Zeitungen, darunter die Jüdische Rundschau. Später schrieb er für die deutschsprachige Zeitung Israel Nachrichten. 1958 gehörte er zu den Gründern der ersten Reformgemeinde in Israel, der Har El Gemeinde in Jerusalem. Sohn Tovia Ben-Chorin wurde Rabbiner und leitete die Gemeinde 15 Jahre lang, bevor er 1996 Rabbiner der liberalen Gemeinde Or Chadasch in Zürich wurde.

Nach Deutschland kam Schalom Ben-Chorin 1956 erstmals wieder. Seitdem war er häufig zu Gast für Vorträge, aber auch zu Gastprofessuren, etwa in Tübingen und München. Der christlich-jüdische Dialog war ihm ein sehr großes Anliegen, er gehörte 1961 zu den Gründern der „Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen“ beim Evangelischen Kirchentag.

Auch in Ben-Chorins Werk ist sein tiefer Wunsch nach gegenseitigem Verständnis prägend. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählt die Trilogie Die Heimkehr, Bruder Jesus (1967), Paulus (1970), Mutter Mirjam (1971), die die jüdische Sicht auf diese Protagonisten des Christentums untersucht. Seine Werke wurden in viele Sprachen übersetzt, seine größte Bekanntheit erreichte Schalom Ben-Chorin jedoch in Deutschland. Nur zwei seiner Bücher erschienen auf Hebräisch. In Deutschland erhielt er auch zahlreiche Auszeichnungen, darunter das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern, die Buber-Rosenzweig-Medaille und die Ehrendoktorwürde der Universität München.

Schalom Ben-Chorin starb am 7. Mai 1999 in Jerusalem. Im Münchner Stadtarchiv wurde sein Jerusalemer Arbeitszimmer detailgetreu nachgebaut, nachdem es die Familie gemeinsam mit der umfangreichen Bibliothek der Stadt vermacht hatte. Schalom Ben-Chorins schriftlicher Nachlass befindet sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach.

Quellen:
Schalom Ben-Chorin, Jugend an der Isar, München 1988.
Verena Lenzen, Schalom Ben-Chorin. Ein Leben im Zeichen der Sprache und des jüdisch-christlichen Gesprächs, Berlin 2013.
Interview von Tobias Raschke mit Schalom Ben-Chorin, haGalil, 15.11.2000