Bedingt abwehrbereit?

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Über 1.100 Angehörige der israelischen Luftwaffe haben in einem Schreiben erklärt, dass sie nicht mehr zum freiwilligen Reservedienst erscheinen werden, wenn die Regierung wie geplant den Umbau des Justizwesens vorantreibt. Auch in anderen Teilstreitkräften der Armee rumort es. Verteidigungsminister Yoav Gallant bemüht sich um Schadensbegrenzung.

Von Ralf Balke

Krisensitzung in Israels Verteidigungsministerium. Diesmal geht es nicht um Raketenterror aus dem Gazastreifen oder die drohende Atom-Gefahr aus dem Iran. Vielmehr herrscht große Unruhe unter den Angehörigen der Streitkräfte. Denn am Freitag erhielten die Abgeordneten der Knesset, der Generalstabschef der israelischen Armee, Herzi Halevi, sowie der Kommandeur der Luftwaffe, Tomer Bar, Post, die es in sich hatte. 1.142 aktive Reservisten der Luftstreitkräfte, darunter rund 400 Piloten, erklärten in einem gemeinsamen Schreiben, dass sie aus Protest gegen das, was die Regierung Justizreform nennt, nicht mehr länger ihren freiwilligen Reservedienst leisten würden – ein in der Geschichte Israels beispielloser Vorgang. Unter anderem war darin zu lesen: „Eine Gesetzgebung, die es der Regierung erlaubt, in einer extrem unvernünftigen Weise zu handeln, wird der Sicherheit des Staates Israel schaden, einen Vertrauensverlust verursachen und meine Motivation unterminieren.“ Sollte in den nächsten Tagen wie geplant in zweiter und dritter Lesung die Abschaffung der Angemessenheitsklausel, ein zentraler Aspekt in dem Vorhaben der amtierenden Koalition, den Obersten Gerichtshof zu entmachten, im Parlament durchgewunken werden, so ihre Ankündigung, werden sie sich aus der Armee verabschieden.

Verteidigungsminister Yoav Gallant bemüht sich nun um Schadensbegrenzung – schließlich sei die Situation schwierig, weshalb er sich mit dem Generalstabschef und dem Kommandeur der Luftwaffe in Verbindung setzte, um einen Überblick über die Lage zu erhalten. „Ich arbeite mit allen Mitteln daran, einen breiten Konsens zu erreichen, damit die Sicherheit Israels nicht in Gefahr gerät und die Armee aus der politischen Debatte herausgehalten wird“, erklärte er deshalb. Laut Medienberichten setze Gallant hinter den Kulissen alle Hebel in Bewegung, um die Lage zu entschärfen, weshalb er wohl auch dafür plädieren könnte, dass die Abstimmungen verschoben werden und die Gesetzesvorlage noch einmal überarbeitet wird. Ähnliches hatte der Verteidigungsminister bereits im März gefordert. Das sollte ihn beinahe den Job kosten. Denn Benjamin Netanyahu hatte verärgert auf diese Intervention reagiert und ihn gefeuert. Daraufhin nahmen die Proteste gegen die geplante Entmachtung des Obersten Gerichtshofes eine neue Dimension an, woraufhin der Ministerpräsident erklärte, dass das mit dem Rausschmiss nicht so gemeint war. Gallant blieb im Amt und der Umbau des Justizwesens wurde kurzfristig für einige Monate auf Eis gelegt.

Doch Anfang Juli sollte es Ernst werden und die Knesset stimmte in erster Lesung für die Abschaffung der Angemessenheitsklausel, die es den höchsten Richtern des Landes ermöglicht, Entscheidungen der Regierung außer Kraft zu setzen – entsprechend nahmen die Proteste, an denen seit Anfang des Jahres sich auch zahlreiche Reservisten und Veteranen beteiligt hatten, darunter auch die Gruppe „Achim LeNeshek“, zu deutsch: „Waffenbrüder“, die mehrere tausend Reservisten vertritt, an Schwung wieder zu. „Wir werden keiner Diktatur dienen“, hieß es erst vor einigen Tagen wieder in einem ihrer Statement. „Der Gesetzentwurf zur Abschaffung der Angemessenheitsklausel, über den in den kommenden Tagen abgestimmt werden soll, tritt die Werte der Unabhängigkeitserklärung mit Füßen und widerspricht dem Geist der Armee, der uns groß gemacht hat und auf dem der Staat gegründet wurde.“ So erklärten die „Achim LeNeshek“, sie hätten „eine klare Botschaft“ an Benjamin Netanyahu, den Verteidigungsminister sowie den Generalstabschef. „Ihr brecht den Vertrag mit uns. Das Herz schmerzt und die Seele leidet, aber ihr habt uns keine andere Wahl gelassen. Wie in all den Jahren in der Reserve werden wir auch jetzt mit Leib und Seele dabei sein, um das Land zu verteidigen.“ Nur in diesem Fall gegen die Regierung.

Die Proteste der Reservisten und anderer Militärangehörigen berühren einen ganz zentralen Punkt, und zwar das Verhältnis zwischen Staat und Armee sowie die traditionelle Haltung der Streitkräfte, sich aus innenpolitischen Debatten herauszuhalten, kurzum Neutralität zu bewahren. Denn Soldaten und ihre Offizieren kommen – mit Ausnahme der Ultraorthodoxen und der israelischen Araber, die nicht der Wehrpflicht unterliegen – aus allen Gesellschaftsschichten und repräsentieren somit das gesamte Spektrum an politischen Einstellungen, also von linkszionistisch, säkular bis hin zu traditionell, konservativ oder nationalreligiös. Die militärische Führung aber stammt seit der Staatsgründung so gut wie immer aus dem, was man politische Mitte nennen kann, verkörperte den Konsens und damit auch die Idee von „Mamlachtiyut“, einem Konzept, das sich mit „Staatlichkeit“ übersetzen lässt und eine sehr pragmatische, sachliche Einstellung zu gesellschaftlichen und politischen Angelegenheiten umschreibt, in der die staatlichen Interessen über allem anderen stehen. Zwar gab es in der Vergangenheit immer wieder zwischen politischer und militärischer Führung Dissens zu einzelnen Fragen. Auch Prostete von Soldaten, beispielsweise gegen die Besatzungspolitik, den Libanonkrieg 1982 oder die Idee einer Räumung der israelischen Siedlungen im Gazastreifen, sind nichts Unbekanntes – doch handelte es sich dabei ausschließlich um Randphänomene. Nun aber stellt Benjamin Netanyahu gemeinsam mit seinen extremistischen Koalitionspartner grundlegende Prinzipien in Frage, die seit Jahrzehnten so etwas wie die Leitplanken der Politik und ihrer Institutionen repräsentieren.

Genau das bringt die Soldaten und Offiziere so wie aktuell im Fall der Angehörigen der Luftwaffe auf die Barrikaden. Und es handelt sich um Personen, deren Expertise unverzichtbar ist. Zwar sind die allermeisten Israelis nach ihrem obligatorischen Militärdienst dazu verpflichtet, jedes Jahr für einige Zeit zu Reserveübungen anzurücken. Doch von denjenigen, die in Spezialeinheiten gedient haben, darunter zählen ebenfalls Piloten, wird erwartet, das sie sich freiwillig melden, um ihre Aufgaben in der Reserve weiter zu erfüllen. Und aufgrund der Art und Weise ihrer Tätigkeitsfelder müssen Angehörige von Spezialeinheiten und Piloten der Reserve häufiger und länger zum Reservedienst erscheinen, damit ihr Know-how frisch bleibt und sie notwendige Zusatzqualifikationen erwerben können – und natürlich an Einsätzen teilnehmen. Entsprechend brisant ist daher ausgerechnet ihr Protest, der in dem Schreiben zum Ausdruck kam. Mehrere der Unterzeichner, die anonym mit dem TV-Kanal 12 News sprachen, betonten, dass es ihnen das „Herz zerreiße“. Israel stehe aber „vor einer noch nie dagewesenen Vertrauenskrise in die Führung, die uns alle in den Abgrund zieht“. Das Land laufe in Gefahr, in eine Diktatur umzukippen, und einer solchen wollen sie nicht dienen. „Wir haben in der Vergangenheit alle Regierungen und alle Krisen miterlebt, aber nie einen solchen Schritt gemacht.“

Im Verteidigungsministerium nimmt man die Sache jedenfalls sehr ernst. So erklärte ein Sprecher, Konteradmiral Daniel Hagari, das man sich die Liste der Unterzeichner sehr genau anschauen werde. „Die Sicherheit der Bürger des Staates Israel basiert auf den aktiven Soldaten und der Reserve“, so Hagari weiter „Sie zählen zu den Besten unseres Volkes und wir sind voller Wertschätzung für den Beitrag, den sie leisten.“ Die Position der Streitkräfte zu den Drohungen, sich nicht zum Dienst zu melden, habe sich aber keinesfalls geändert. „Das Nicht-Erscheinen zum Reservedienst beeinträchtigt die Sicherheit des Staates“. Ferner fügte er hinzu, dass die Kontroversen der letzten Monate „dem Zusammenhalt der Armee bereits offensichtlich einen Schaden zugefügt haben, dessen Behebung noch lange andauern wird.“ Militärs und Politiker haben ferner gewarnt, dass die Verweigerung einer größeren Anzahl von Personen, die zudem hohes Spezialwissen mit sich bringen, Israel anfälliger für Bedrohungen von außen machen könnte, da die Einsatzbereitschaft vor allem der Luftwaffe beeinträchtigt werden könnte. Doch wie man nun darauf reagieren wird, ob mit Sanktionen wie Entlassungen oder Gefängnisstrafe, darüber herrscht weder Einigkeit noch gibt es irgendwelche Auskünfte.

Weil in den Monaten zuvor bereits viele andere Militärangehörige angekündigt hatten, nicht mehr zum Reservedienst zu erscheinen, wenn die Regierung mit ihrem Vorhaben, das Justizwesen umzukrempeln, Ernst mache, reagierte Ministerpräsident Benjamin Netanyahu dieser Tage äußerst verschnupft und versprach am vergangenen Montag, hart gegen all diejenigen vorgehen zu wollen, die einen solchen Schritt wagen. Das würde die Gefahr mit sich bringen, Israels Feinde zu Angriffen zu motivieren sowie die Demokratie untergraben, so seine Worte. „Die Regierung wird einen solchen Ungehorsam nicht akzeptieren“, sagte er zu seinem Kabinett. Denn tags zuvor hatten bereits knapp 4.000 Reservisten in Schlüsselpositionen, darunter 400 Angehörige von Sayeret Matkal, genau jener Eliteeinheit, der Benjamin Netanyahu selbst einmal angehört hatte, mindestens 350 Militärärzte sowie 950 militärische Nachrichtendienst-Spezialisten sowie zahlreiche Profis aus den Cyberware-Abteilungen ebenfalls in mehreren öffentlichen Schreiben angekündigt, nicht mehr zum Reservedienst zu erscheinen. Eine Gruppe Piloten begründete den Schritt mit den Worten: „Wir haben geschworen, dem Königreich zu dienen, nicht aber dem König.“

Itamar Ben Gvir und Miki Zohar, seines Zeichens Kulturminister, reagierten auf ihre ganz eigene Weise auf das Schreiben der Luftwaffenangehörigen vom Freitag. Sie teilten auf Twitter ein Video, das Bodentruppen zeigt, die bei einem Einsatz um Luftunterstützung bitten. Die Piloten jedoch fragen zuerst, ob die Soldaten pro oder contra „Justizreform“ seien, bevor schließlich Explosionen zu sehen sind. Ein sterbender Kämpfer erklärt dann am Ende des Films: „Meine Brüder von rechts und links, bringt keine Politik in die Armee.“ Die Luftwaffenführung jedenfalls zeigte sich entsetzt über diesen Clip, weil er laut ihrem Sprecher die Armeeangehörigen auseinanderdividieren würde und sie zum Streit aufhetzt. Verteidigungsminister Yoav Gallant nannte es „abscheulich“. Man forderte, dass die beiden Minister im Kabinett Benjamin Netanyahu dieses Video sofort wieder löschen, was jedoch nur Miki Zohar tat. Itamar Ben Gvir dagegen weigerte sich. Er wolle so auf die Gefahren hinweisen, die die Gegner der „Justizreform“ für die Sicherheit des Landes bedeuten. Die Zahl derer, die sich den Aufrufen zur Verweigerung des Reservedienstes anschließen, dürfte deshalb kaum kleiner werden – eher im Gegenteil.

Bild oben: Screenshot Facebook Achim leNeshek