Reise in Erez Jisrael

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Der vorliegende Text von Alexander Adler erschien im Januar 1934 in der Zeitschrift Zion – Monatsblätter für Lehre, Volk, Land. Adler war einer der drei Redakteure der zwischen Januar 1929 und September 1938 erscheinenden Zeitschrift, die vom Zentralbüro des deutschen Misrachi, einer religiös-zionistischen Bewegung, herausgegeben wurde. Der Schabbat im Land findet in dem Bericht Adlers besondere Aufmerksamkeit.

Reise in Erez Jisrael

Alexander Adler
Erschienen in: Zion – Monatsblätter für Lehre, Volk, Land, Januar 1934

Vierzig Tage in Erez Jisrael gewesen sein und dann berichten: ein schweres, ein gefährliches Unterfangen. Denn man erwartet ja in einem Bericht nicht nur von den Tatsachen des Landes zu hören, sondern auch Meinungen über das Land und seine Bewohner, seine Sitten und seine Kultureinstellung. Man erwartet Werturteile und Kritik, und jeder Leser hat ein gewisses subjektives Bild von dem, was drüben vorgeht und will bestätigt wissen, daß er die Dinge richtig sieht, daß sein Urteil, das er sich aus früheren Berichten oder aus den Zeitungen gebildet hat, den Verhältnissen entspricht. Und das ist doch unmöglich, denn man kann sich auch aus noch so guten und zutreffenden Berichten keine Vorstellung von dem machen, was in unserem Lande wirklich lebendig wirkt. Vielfältig, wie ein kunstvoll gewirkter Teppich, ist das Leben im Lande, unendlich viele Farben spielen ineinander, unendlich viele kleine und kleinste Muster müssen Zusammenkommen, um das harmonische Kunstwerk zustande zu bringen. Schwarz steht neben weiß, harte und eckige Linien neben weichen und zarten Kreisen und Ovalen. Nicht nur von der Tora kann man sagen: „Wende sie um und um, Du findest alles in ihr“, auch vom Leben in Erez Jisrael gilt das gleiche. Wie könnte man nach 40 kurzen Tagen ein Bild davon geben, was das jüdische Volk sich in 40 Jahren in seinem Lande geschaffen hat.

Da ist eine Stadt, und 70 000 Juden leben in ihr. Eine junge, eine ganz neue Stadt, jünger und neuer noch als man gemeinhin glaubt. Ein Leben wie in einer europäischen Stadt, die das Mehrfache an Einwohnern zählt, mit einem Automobilverkehr, dessen sich manche Großstadt Europas nicht zu schämen hätte — und mit so wenigen Polizisten, und trotzdem nur seltene Verkehrsstockungen. Disziplin der Straße bei einer Bevölkerung, deren größte Tugend sicherlich nicht Disziplin und Unterordnung unter selbstgegebenen Gesetzen ist. Ich beobachte eine Szene in einem Autoomnibus für Ueberlandreisende. Ein deutscher Jude hat ein Retourticket, für das, laut hebräischem Aufdruck, er sich im Kontor der Linie anmelden muß. Er hatte wohl den Text nicht „richtig gelesen“, denn er saß im Auto ohne Anmeldung, und der Platz war anderweitig vergeben. Er weigert sich mit großer Energie, seinen Platz aufzugeben, in großer Aufregung und einem im Lande nicht allgemein üblichen Ton. „Man kann mich heraustragen aus dem Omnibus, ich gehe nicht von selbst hinaus, denn ich habe meinen Platz bezahlt“. Der Chauffeur redet mit ihm, verweist auf den Text der Fahrkarte, den man lesen müsse, erklärt ihm, daß der Betrieb ja nicht aufrecht erhalten werden könne, wenn man sich seinen Regeln nicht fügt Der Fahrgast bleibt beharrlich, Erwägungen nicht zugänglich. Ein zweiter Beamter kommt hinzu. Bestimmt, aber freundlich: „Sehen Sie mal, wir könnten Sie mit Hilfe der Polizei hinausbringen, aber wir tun so etwas nicht gern. Wir sind doch Juden unter uns. Wir müssen uns doch an die Vorschriften halten. Sie brauchen sich nur anzumelden und haben in einer Stunde einen anderen Autobus.“ Das Publikum hört interessiert zu, einige lächeln, niemand mischt sich ein, und nach etwa fünf Minuten ist der militante neue Mitbürger überzeugt und verläßt seinen Platz. Der Wagen geht mit 5 Minuten Verspätung ab. Mustergültig die Ruhe und Konzilianz und Sicherheit, mit der die Zivilbeamten ihre Arbeit durchgeführt haben. Auch nach Abfahrt des Wagens verlieren die Insassen kein Wort über den Vorfall.

Ist das symptomatisch für die neue Stadt und vielleicht für das ganze Leben im neuen Jischuw? Man sucht, miteinander fertig zu werden in Frieden und in Freundlichkeit und man erzieht sich gegenseitig zu Geduld und Duldsamkeit.

Die neue Stadt wie das ganze jüdische Land hat einen Lebensstil. Alles, was jüdisch ist, kann sich in Freiheit ungestört betätigen. Nicht nur in der großen Synagoge an der belebtesten Straße wird der Gottesdienst abgehalten, denn dazu sind die Räumlichkeiten trotz ihrer respektablen Ausmaße zu klein, auch in dem zwischen Synagoge und Straße liegenden offenen Hof wird gedawent. Die ganze Straße hört mit zu, und mancher Vorübergehende tritt schnell in den Hof, um eine Keduscha mitzusagen und sofort seinen Weg wieder fortzusetzen. Juden leben ihr Judentum auf der Straße, und nicht nur in Jeruschlajim sieht man am Schabbatmorgen Männer in den Tallis gehüllt ihren Weg zum Bethaus gehen. Die hoch oben auf öffentlichen Gebäuden über die ganze Stadt hin leuchtende Chanukka-Menora hat schon Schule gemacht, in manchen Kolonien leuchtet sie ebenso hell und freudig zum Zeichen, daß die Gesamtheit ein Fest feiert, weil Entweihtes wieder Weihe bekommen hat.

Das Theater, eine ganz große Angelegenheit der jüdischen Oeffentlichkeit. Erhebung und Erziehung zugleich. Ist es Zufall, daß das Stück, das ich in Europa einmal unter dem Titel „Zweihunderttausend“ spielen sah, weil der Held in einer Lotterie 200000 Mark gewonnen hatte, hier im Hebräischen den Titel „Amcha“ führt, weil derselbe Held halb als stereotype Redensart, halb als bewußte Lebensmaxime die Worte im Munde führt: „Bne Jisrael — Amcha“. Seit ich dieses Stück auf Tel Awiws primitiver Bühne gehört habe, unterdrücke ich manchen kleinen Aerger über einen Juden — in dem Gedanken: „Bne Jisrael — Amcha“. Vielleicht hatte auch der Chauffeur jenes Autoomnibusses dasselbe gedacht? Volkserziehung! Und was für ein Spiel vor diesem Arbeiterpublikum in dem einfachen Saal! Vor Königen pflegte man in den Metropolen der großen Welt in solcher Vollendung zu spielen, aber nicht in einer Provinzstadt von 70000 Einwohnern. Oder sind das etwa die neuen Könige? In ihrer Haltung haben viele dieser Arbeiter jedenfalls etwas durchaus Adliges, absolut Freies, Unabhängiges, und wenn sie abends ins Theater gehen, sieht man ihnen nicht an, daß sie sich ihre täglichen 3—4 Mark durch Schleppen von Zuckersäcken oder durch Chausseearbeiten erarbeitet haben. Oder gar am Schabbat, wenn sie zu Hunderten, jeder mit „seiner Chawera“ zum Seestrand schlendern, oder zum Oneg-Schabbat sich in Schlangen anstellen in solchen Mengen, daß nur die Hälfte von ihnen Einlaß in den großen Saal bekommen kann. Das ist ein neuer, in Europa noch nicht bekannter Arbeiterschlag, der hart zu arbeiten, aber auch froh zu feiern versteht, der arbeitet, um des Hochgenusses der Arbeit willen, und der feiert, weil nicht von Brot allein der Mensch leben kann.

Ueberhaupt der Schabbat! Er verkörpert den neuen Lebensstil. Jeder Omnibus führt eine Tafel, auf der bekanntgegeben wird, zu welcher Minute am kommenden Freitag der Betrieb stillgelegt wird. Und eine halbe Stunde vor Schabbatanfang gehen Beamte der Stadt mit einer Trompete durch die Straßen und Fanfaren verkünden: der Schabbat naht, der Werktag geht zu Ende, die Ruhe des Feiertags tritt in ihr Recht Und die lebhafte, hastende Stadt verändert im Laufe einer halben Stunde ihr Angesicht fast zur Unkenntlichkeit. Kein Wagenverkehr mehr, kein Geschäft mehr geöffnet, die Polizisten verlassen den Verkehrsposten, kein Schuhputzer, kein Zeitungsverkäufer mehr auf der Straße, kein Bau mehr belebt von Arbeitern. Die Straßen leeren sich, in den Häusern geht die große Umstellung des Arbeitsmenschen auf den Feiertagsmenschen vor sich. Gesang und Gebet schallen aus den stets geöffneten Türen der Gotteshäuser. Eine Stunde später beleben sich die Straßen wieder, und Hunderte, Tausende von jungen Menschen, ledig der Beschwerden und Mühen des Alltags, in weißen Blusen, in farbigen Kleidern und mit Feiertagsstimmung füllen und beleben die Straßen aufs neue. Die Restaurants sind sicher noch ein Problem, sie sind geöffnet, und die jungen Menschen, die sich im Laufe der Woche sicher nicht alle den Luxus eines mehrgängigen Menus leisten können, nehmen in heiterer Stimmung ihre Schabbat-Mahlzeit ein. Vielleicht wird auch dies Problem einmal einer besseren Lösung zugeführt — nichts ist unmöglich in dieser Stadt. Es ist keine Seltenheit, daß ein knatterndes Motorrad mit jüdischem Fahrer die Schabbatstimmung rauh durchbricht, — es unterstreicht nur noch die sonst so streng durchgeführte absolute Ruhe, die herrscht, und ist der rauhe Ton verhallt, spürt man den Schabbat um so eindringlicher. Vielleicht wird auch dieser Junge einmal den Lebensstil des jüdischen Landes erfassen und er wird sich dessen schämen, daß er mit roher Hand in den Ruhetag seines Volkes eingegriffen hat. Es gibt hier so viele Baale Teschuwa — das ganze Leben in Erez Jisrael ist doch eine Abkehr vom Leben der Galut. Hier wirken überirdische Kräfte. Vom Studenten und vom Karrenhändler, vom Bachur der Jeschiwa und vom Rechtsanwalt Europas zum Bauarbeiter und zum Eigenhändler ist ein weiter Weg — nicht weiter als der vom Mechallel Schabbat zum Menschen, der das Gesetz eines Volkes als etwas Geheiligtes wahrt.

Und so glaube ich auch, daß das Leben des Jischuw stärker sein wird als die Auswüchse, die verhältnismäßig wenigen Auswüchse, die die neue deutsche Kapitalisten- und Touristenalija mit sich gebracht hat. Die Silvesterfeiern werden weniger geworden sein zu Ende des Jahres 1934. Vielleicht werden diejenigen, die sie in diesem Jahre mitmachten, schon im nächsten Jahre über sie lachen. Und jener Jude, der Schinken in seinem Laden verkauft, weil die neue Alija der Touristen und Kapitalisten einen Bedarf für diesen Artikel geschaffen hat, wird hoffentlich bald seinen Laden schließen müssen, denn die jüdischen Menschen werden nicht bei ihm kaufen. Die jetzt ins Land gekommenen Assimilanten werden sich ja auch in diesem Lande assimilieren, diesmal ans jüdische Wesen, sie hebraisieren sich und werden allmählich aufgesogen in der Atmosphäre des Landes, die das Fremdartige bei Juden nicht will. Noch nie ist so eifrig Hebräisch gelernt worden wie gerade jetzt von den Neueinwanderern aus Westeuropa, und selbst wenn der Erfolg der ersten 6 Monate noch nicht überwältigend groß ist, so wird er in den nächsten 6 Monaten um so größer sein. Wir brauchen nicht mit so kurzen Zeitspannen zu rechnen, auch in anderen Auswanderungsländern akklimatisiert sich der Neukommende nicht im Laufe des ersten Jahres. Und was für die sprachliche Einstellung gilt, ist auch für die geschäftliche anzunehmen, und auch in der kulturellen, seelischen Umstellung — der Jischuw der 200 000 wird auch die neuen 20 000 verarbeiten können. Kommt noch dazu, daß von diesen Neuen der weitaus größere Teil aus Chaluzim und anderen Zionisten besteht, die sich selber ohne Schwierigkeiten in das geistige und ökonomische Leben des Landes einfügen, halb hebraisiert oder ganz hebraisiert ankommen und auch sonst wissen, was das Land ihnen gilt und was es von ihnen fordern kann. Bleiben also einige tausend Menschen, die schwer „einzuordnen“ sind, ein Teil wird dem Lande einen großen Dienst erweisen, wenn er, da er sich ja ohnehin nicht wohlfühlt und auch nicht wohlfühlen kann, das Land wieder verläßt, und der andere Teil wird vom Lande erzogen werden (es wird sie „weise machen“), und die wahren Palästinenser werden ihnen helfen — Bne Jisrael — Amcha!

Langsam und kaum merklich verläuft die Stadt in den Bezirk der Orangengärten und vorbei an dem künftigen Fabrikzentrum, Ramat-Gan, vorüber an dem in Pardeßim versteckten Bne-Brak, geht die Fahrt nach Petach Tikwa, der alten Kolonie. Ein Orangenzentrum, wachsend nach allen Seiten, neuer Pardeß fügt sich an alten, fast körperlich fühlt man, wie diese Siedlung ihre Finger ausstreckt nach immer weiteren Flächen zum Anbau. Mitten im Ort ein schmuckes, kleines Restaurant, die Küche des Kibbuz Rodges, in dem den Angehörigen des Kibbuz für billiges Geld ein ausgezeichnetes Essen verabfolgt wird. Es ist eine der bestbesuchten Gaststätten des Ortes, denn mit seiner peinlichen Sauberkeit und gesundheitlich zuträglichen Verpflegung hat es sich schnell Ansehen und Achtung, besonders in der Arbeiterbevölkerung Petach Tikwas, erworben. Es sind durchaus nicht nur Angehörige der Misrachi-Arbeiterschaft, die hier verkehren, Arbeiter aller Richtungen finden sich zusammen, wie das übrigens auch bei allen anderen Küchen des Poel Hamisrachi im Lande der Fall ist. Die Chawerot, die in dieser Küche arbeiten, befinden sich für ihren Kibbuz auf Awodat-Chuz, Außenarbeiten; der Ertrag des Unternehmens fließt der Gemeinschaftskasse des Kibbuz zu.

Ganz am Ende von Petach Tikwa befinden sich die Salvendi-Böden, auf denen der Kibbuz Rodges siedelt. An die hundert Jungen und Mädels aus der Hachschara des Brit Chaluzim Datiim bauen hier an ihrer Zukunft. Noch ist alles sehr primitiv, ganz im Anfangsstadium der Siedlung. Zwei Holzbaracken, eine für die ersten Familien des Kibbuz und für etwaige Kranke, die andere enthält die Küche und den Speiseraum, dieser wird auch als Aufenthaltsraum in der Freizeit und als Bet Haknesset benutzt. Eine Wellblechbaracke für Tischlerei und Schlosserei, 20 Zelte zum Schlafen, drei Holzbaracken als Hühnerställe, und das erste steingebaute Haus — der Kuhstall. Und, beinahe hätte ich es vergessen, das Zeichen der Zeit — ein aus Deutschland stammender Lift, als Maskirut, Sekretariat des Kibbuz, hergerichtet. Auch die Pflanzungen sind noch nicht sehr weit fortgeschritten. Pardeß im zweiten Jahr, also noch weitere vier Jahre wird es dauern, bis die ersten Erträge kommen werden. Mehrere große Flächen als Gemüsegarten gebaut, aus deren Ertrag ein Teil des Lebensmittelbedarfes gedeckt wird, zwei große Maschtelot, Baumschulen für Orangen und Grapefruit, wohl an die tausend Hühner, etwa 30 Bienenvölker, die in den Pardeßim reichlich Nahrung und Honig finden, 7 Kühe, ein Pferde- und ein Maultiergespann. Dies der äußere Rahmen.

Aber in diesem Rahmen ist mehr als Aussicht auf wirtschaftliche Entwicklung. Sprechen wir von dem Geist, der hier zur Entfaltung kommt. Die Probleme der Arbeit und der Arbeiterschaft des Landes gelten auch hier, die Arbeiterzeitung „Dawar“ ist auch in dieser Kwuza die Vermittlerin zwischen Außenwelt und der Siedlung. Der soziale Geist nationaler Arbeit und des Aufbaus des Landes durch sie weht hier wie in jeder anderen Kwuza. Aber über allem schwebt unsichtbar, doch stark fühlbar, der Geist jüdischer Tradition — hier wirkt die jüdische Lehre, hier gilt das jüdische Gesetz auf allen Gebieten des Lebens. Hier löst der Schabbat nicht nur die Arbeitswoche ab und gibt ihr die Weihe des Ruhetages, sondern hier ist er die Krönung einer ganzen Arbeitswoche, die ausgefüllt war mit letzter Hingabe an gesetzliches Judentum. Ob man morgens vor der Arbeit bei anbrechendem Tage gemeinsam im Gebet sich erhebt, ob man in einer kurzen Ruhepause eine neue Arbeit bespricht, ob man am Abend sich zum gemeinsamen Studium der Tora setzt oder sich zu fröhlichem Rundtanz vor dem Chadar Haochel sammelt, stets fühlt man sich in Uebereinstimmung mit den Normen jüdischer Gesetzlichkeit und ordnet sich dem Willen des Gesetzes freiwillig und gerne ein. Hier spürt man den Hauch des echten, wahren Judentums letzter Konsequenz. Das schafft eine eigenartige große Familie, in die man sich auch als außenstehender Gast einiger Tage sofort hineingezogen fühlt. Ein Zuhause, eine Heimat des Geistes, Ruhepunkt, Raststätte, Weihe des Schabbat das ganze Jahr hindurch. Gott gäbe, daß dies nicht nur eine Einzelerscheinung in Erez Jisrael bleibt. Dann wäre das Galut in Wahrheit überwunden.

Bild oben: Die große Synagoge Tel Avivs in der Allenby Straße in den 1930er Jahren