„Mittendrin und ahnungslos“

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Die Heimat neu entdeckt – Föhrenwald reloaded

Das Thema Jüdische Displaced Persons (DP) hat Konjunktur und rückt seit Längerem verstärkt in die Medien-Öffentlichkeit. Eine wichtige Einrichtung war das bedeutende DP-Camp Föhrenwald in der Nähe von München. In letzter Zeit erschienen: „Als die Juden nach Deutschland flohen“ (2017), „Displaced Persons – Vom DP-Lager Föhrenwald nach Frankfurt am Main“ (2019) sowie „LebensBilder: Porträts aus dem jüdischen DP-Lager Föhrenwald“ (2020). Soeben legte der Journalist Alois Berger den Band „Föhrenwald, das vergessene Schtetl“ vor. Alle Autoren treten an, ein „verdrängtes Kapitel der deutsch-jüdischen Nachkriegsgeschichte“ vor dem Vergessen zu bewahren.

Nun, so unbekannt ist die Geschichte jedoch nicht: Denn schon 1987 publizierte die Historikerin Juliane Wetzel ihre vielbeachtete Dissertation über die Situation der jüdischen Displaced Persons, in der das Lager Föhrenwald erstmals fachkundig thematisiert wurde. Nur wenige Jahre später legte Wetzel mit ihrer Kollegin Angelika Königseder das Buch „Lebensmut im Wartesaal“ (1994) vor. In diesem mittlerweile als deutsches Standardwerk der DP-Forschung geltenden Buch werden die Selbstverwaltung, der Alltag, das kulturelle, sportliche und politische Leben im jüdischen DP-Camp Föhrenwald umfassend nachgezeichnet. Es folgten weitere wissenschaftliche Aufsätze, Beiträge in Magazinen und Zeitschriften aus der Feder der beiden Historikerinnen. Dadurch wurden auch andere deutsche Forscher für das lange verdrängte Thema „jüdische DPs“ sensibilisiert. Eine Fülle von zumeist wissenschaftlichen Publikationen ist in den letzten 25 Jahren erschienen. Aber auch Ausstellungen, TV-Dokumentationen, Radiofeatures, populärwissenschaftliche Abhandlungen oder Zeitzeugenberichte informierten über das DP-Lager Föhrenwald. Als weiteres Beispiel sei noch auf diese Veröffentlichungen verwiesen: „Das DP-Lager Föhrenwald 1945–1951“ von Joachim Schroeder im Sammelband „Leben im Land der Täter“ (2001) sowie die von Michaela Melian editierte Publikation „Föhrenwald“ (2005) mit einer CD des gleichnamigen preisgekrönten Hörspiels der Herausgeberin, und die Ausstellung mit Katalog „Von da und dort – Juden 1945“ (2011) des Jüdischen Museums München.

Doch nach Meinung von Alois Berger wurde „Föhrenwald aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht“, wie er schreibt. Der Journalist ist in Waldram, wie die Siedlung nach der Auflösung des Camps ab 1957 hieß, aufgewachsen. Der 1957 Geborene entdeckte erst vor einigen Jahren, dass an seinem Geburtsort für rund zwölf Jahre Tausende von Überlebenden der Shoa untergebracht waren. Er habe in seiner Jugend „mittendrin und ahnungslos“ in dieser geschichtsträchtigen Siedlung gelebt, bekundet er, und sehr spät von dem ehemaligen jüdischen Schtetl erfahren. Erzählt habe ihm das eine ehemalige Lehrerin, die er nach vielen Jahrzehnten wieder traf. Sie ist auch in Waldram aufgewachsen und engagiert sich seit 2012 für das Projekt „Badehaus“, ein Lern- und Gedenkort, in dem sich während der Zeit des jüdischen Camps die Mikwe befand. Mit Ausstellungen und Vorträgen wird in dem kleinen Museum des Hauses seit 2018 die Erinnerung an das jüdische DP Lager Föhrenwald wachgehalten.

Alois Berger will mit seiner sehr persönlichen Spurensuche eine „erzählende Annäherung an die Geschichte“ wagen. Denn, so räumt er ein, „die meisten Fakten zu Föhrenwald sind zwar wissenschaftlich lange bekannt und längst aufgearbeitet“, in der Bevölkerung aber „noch immer weitgehend unbekannt – vor allem außerhalb von Wolfratshausen“. Der Band basiert auf Zeitzeugengesprächen mit ehemaligen Föhrenwald-Bewohnern, Erinnerungen aus dem sozialen Umfeld des Autors und der Auswertung der umfangreichen Sekundärliteratur. Ergänzend hat der Autor Interviews mit Historikern geführt. Da sich aktuell ein bislang „verschlossenes Fenster geöffnet“ habe, zog Berger aus seinen Erkenntnissen „Schlussfolgerungen“, die ihm „plausibel erschienen“. Dabei unterlaufen ihm allerdings einige Fehlinterpretationen. Sein Ziel: Die „verschwiegene Vergangenheit“ seiner Heimat, die „Geschichte der Juden im Nachkriegsdeutschland einem möglichst breiten Publikum nah zu bringen.“

Als gemeinverständliches Überblickswerk aus einem sehr persönlichen Blickwinkel und einer erste Annäherung an das Thema „jüdische Displaced Persons“ ist die Publikation geeignet, macht sie doch Geschichte anschaulich erfahrbar, neue Erkenntnisse bietet sie allerdings nicht. – (jgt)

Alois Berger, Föhrenwald, das vergessene Schtetl: Ein verdrängtes Kapitel deutsch-jüdischer Nachkriegsgeschichte, 240 Seiten, München 2023, 24 €, Bestellen?

Bild oben: Straßenszene im Camp Föhrenwald, Foto: Hebrew Immigrant Aid Society (Public Domain)

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