Hitler, Syphilis, Euthanasie (V.)

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Heute: Hermann Burte: Wiltfeber, der ewige Deutsche. Leipzig 1912, vorgestellt

von Christian Niemeyer

Dieser Roman eines gewissen Hermann Strübe (1879-1960) (vgl. auch Niemeyer 2013a: 43 f.; 2015: 135 ff.; 2019: 286 ff.) war die „Bibel rechtsgerichteten Wandervögel“ (Laqueur 1962: 56). Dies erklärt auch Burtes Antisemitismus, seinen Antiurbanismus sowie seinen Anti-Rousseauismus, zu lesen als Teil des völkischen Kampfes gegen die französischen ‚Ideen von 1789‘ und zutage tretend in Sätzen von bis dato ungehörter Aggressivität[1], wie wir sie aktuell nur zu hören bekommen von Vertreter*innen der Neuen Rechten (die bei jenem und anderen Alten Rechten offenbar in die Lehre gegangen sind; vgl. Niemeyer 2021).[2] Ihr (beider Rechten) gemeinsames Credo: Gegenaufklärung an allen Fronten, auch an der sexuellen, das Ganze, wie bei Burte, eingebaut in das Projekt einer überaus instruktiven Strategie der völkischen Umwertung Nietzsches.

Dies verdeutlicht schon die Figur des (natürlich blonden) Romanhelden Martin Wiltfeber, mitunter „Wanderer“ geheißen, der nach neunjähriger Abwesenheit zurückkehrt in sein Heimatdorf, ähnlich wohl wie Zarathustra mit dreißig Jahren die Wälder verlassend und den Daheimgebliebenen am Ende einer gut vierundzwanzigstündigen sonntäglichen Inspektion seines Heimatortes (in den Rubriken „Landschau, Feuerschau, Wohnungsschau, Kirchenschau, Schulschau, Leuteschau“; Burte 1912: 68) eine Art ‚Macht Platz, ihr Alten!‘ entgegendonnernd, gleichsam als Extrakt einer Bilanz wie der Folgenden:

„Ich suchte den Gott der Leute in der Heimat, da war es der Stammesgott, das vergottete Rassenselbst einer Wüstensippe; ich suchte die Macht, da war sie geteilt unter alle, so daß keiner sie hatte und nichts getan werden konnte; ich suchte den Geist, da faulte er in Amt und Gehalt; ich suchte das Reich, da war es eine Herde Enten, welche den Aar lahmschwatzten; ich suchte meine Rassebrüder: da waren es Mischlinge siebenten Grades, bei denen jedes Blut das andere entartete […].“ (ebd.: 334)

Ein Mängelkatalog wie dieser, nicht mehr mit Nietzsche resp. Zarathustra vermittelbar und insoweit die völkische Umwertung beider auf den Punkt bringend, wird einem gut zwei Jahrzehnte später fast in jedem zweiten NS-Buch begegnen. Einschlägig im Blick auf die hier interessierende Sexualitäts- resp. Syphilisthematisierung ist vor allem die Generalprobe zu dieser Diagnose, zu besichtigen in einer der ersten Szenen des Romans: Wiltfeber besucht den „alten Jäger“ (ebd.: 61) und lehrt ihn seine in den zurückliegenden neun Jahren aufgelaufene Lehre, etwa die in Zarathustra-Manier vorgetragene, aus frei komponierten Nietzsche- sowie (in diesem Fall) Schopenhauer-Motiven zusammengesetzte Einsicht:

„Weder Wille noch Vorstellung ist ihnen [den Menschen; d. Verf.] die Welt und sie haben auch nicht den Willen zur Macht: sie wollen weder erkennen noch herrschen, sondern gelten.“ (ebd.: 69)

Das Problem ist nur: Ähnlich wie Zarathustra bei seinem Versuch einer Vermittlung seiner Lehre scheitert auch Wiltfeber als Erzieher, wird also vom zwar gutwilligen, aber schlicht überforderten Alten einfach nicht verstanden. Wiltfebers zentraler Trost, basierend auf dem Lob eines ominösen Dritten:

„Du bist ein Mann aus deutschem Blute, aber deutsch heißt völkisch, und arisch heißt herrisch, und so bist du von den Deutschen der oberen Rasse, welche herrscht oder stirbt.“ (ebd.: 73)

Wie man sieht, war dies eine durchaus passende völkische Botschaft an die Jugendbewegten, zynisch geredet: pünktlich zu Kriegsbeginn.

Mit Nietzsche indes hatte derlei, anders als insinuiert, nichts zu tun, auch nicht mit Nietzsches Sexualtheorie. Dies wird deutlicher, wenn man die Hauptbotschaft einbezieht: Burte will der nachwachsenden (völkischen) Jugend der um 1900 Geborenen die Botschaft vermitteln, dass der ‚schwarz-braune‘ Frauentyp zwar sexuell verlockend sei, aber, rassenhygienisch betrachtet, nicht wirklich in Frage komme insbesondere für Fortpflanzungsbestrebungen. Eben dies ist denn auch die entscheidende Einsicht Wiltfebers am Ende seines Nachdenkens über sein „schwarzes Madlee“ („kein deutsches Mädchen von sanftem Blick und mildem Sinn“) während des Gottesdienstes:

„Und Mischlinge dieser Rassen saßen da in den Bänken: alle Haarfarben, alle Kopfformen, alle Körperverhältnisse waren zu erschauen […]. Und Wiltfeber sagte sich: Deutsch, das ist ein Wort und bezeichnet eine mitteleuropäische Mischlingsrasse dritten Grades.“ (Burte 1912: 125 f.)

Wiltfebers private Lektion aus diesem öffentlich zu besichtigenden angeblichen Desaster kann kaum fraglich sein: Er darf sein Glück nicht in den Armen Magdalenas suchen, sondern er muss es finden in denen Ursula von Brittloppens – immerhin auch nicht zu verachten, gemahnt ihn doch ihr Äußeres „an die langgliedrigen, blonden Engel in den täuschenden Deckenbildern geschickter venetianischer Maler.“ (ebd.: 167)

Das war’s dann eigentlich schon mit diesem Roman eines NS-Autors, den der Kulturantisemit Adolf Bartels in seiner Geschichte der deutschen Literatur (1934) an die „Spitze“ der „deutschvölkischen Bewegung“ (Bartels 13,141934: 671) in der Dichtung rückte. Auch in der NS-Literaturgeschichte des Josef Nadler wurde Burtes Anpreisung des Therapeutikums „Aufzucht aus nordischer Rasse“ (Nadler 1938-41, Bd. 4: 420) heftig gelobt angesichts allfälliger Dekadenz, und dies vor dem Hintergrund des heiligen Auftrags an die Jugend, das ins Vergessen gebrachte Erwachsenenideal der Jahre 1870/71 zurückzugewinnen. Unausgesprochene Botschaft dahinter: Syphilis, ein Thema eher des ‚schwarz-braunen‘ Frauentyps, der „Buhlin des Leibs“, nicht aber ein solches für Ursula, die „Herrin der Seele“ (Burte 1912: 312), muss draußen bleiben und wird es auch, sofern die Partnerwahl den Kriterien der Rassenreinheit genügt und Rassenmischung als indiskutabel ausweist.

In Übersetzung geredet und als mein persönlicher Zusatz: Es ging schon 1912 um vorbereitendes Denken im Blick auf die Wannseekonferenz vom 30. Januar 1942, die filmisch auf schockierende, also hervorragende Weises umgesetzt wurde von Matti Geschonneck im gleichnamigen Fernsehfilm von 2022.

Autor: Prof. Dr. Christian Niemeyer, Berlin/TU Dresden (i.R.)

Text: Basiert auf meiner Darstellung Sex, Tod, Hitler. Eine Kulturgeschichte der Syphilis (1500-1947) am Beispiel von Werken vor allem der französischen und deutschsprachigen Literatur. Universitätsverlag Winter: Heidelberg 2022. Dort auch alle Literaturhinweise, Nachdruck (S. 265-267) aus jenem Buch mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

[1] „Der Selbstbeflecker aus Genf hat aus seinem unreinen Mund den Pesthauch in die Welt geschnauft, an dem sie siechten und eingingen, als er schrie: Zurück zur Natur! Da brach der Haufe los und erschlug die Edlen.“ (Burte 1912: 12)

[2] Näheres hierzu, am Beispiel der neu-rechten Bibel Tristesse Droite (2015), in meinem neuen Buch Die AfD und ihr Think Tank im Sog von Trumps & Putins Untergang. Eine Analyse mit Stil- und Denkmitteln Nietzsches (= Bildung nach Auschwitz, Bd. 2). Beltz Juventa: Weinheim 2023.