Hitler, Syphilis, Euthanasie (I.)

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Ausgehend von einem NS-Dutzendverbrechen mit zwei katholischen Pfarrern als Opfern und Göring als Täter sowie Hitler als Claqueur sucht dieser Eröffnungstext einer insgesamt achtteiligen Folge der Pathologie Hitlers nahezukommen.

Von Christian Niemeyer

Ausgangspunkt ist Erich Fromms These, der, schon in den 1970er Jahren, Hitler als Fall von Nekrophilie beschrieb, also der Lust am Töten und an Toten zuzuordnen (eine Idee, die an den Fall Putin gemahnt). Kausal relevant: Hitlers panische Angst vor Syphilis. Im Verein mit der Sorge Nietzsches ob seiner realen Syphilis entsteht daraus eine brisante These: Ist Hitler als Täter der Exekutor von Gedanken, die Nietzsche ohne seine Syphilis nicht gehabt hätte? Hätten die Nazis also eigentlich Nietzsche, ihn dreißig Jahre jünger gedacht und nur als ab 1889 hoffnungslos verblödenden Patienten gelesen, umbringen müssen, wie sie es mit allen Syphilitikern vom Typus „progressive Paralyse“ taten? Nicht zu vergessen: Was war eigentlich der Anteil der Sozialpädagogik an Euthanasie und Shoa? Und warum schwieg der Stellvertreter Gottes im Vatikan eigentlich zu all dem, wo es doch, wie in dieser Folge gezeigt, auch katholische Pfarrer waren, die zu den zahllosen NS-Opfern zählten?

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Warum nicht gegen Ende eines Buches[1], das so sehr wie dieses der Absicht huldigt, Geschichte mittels Geschichten anschaulich werden zu lassen, eine solche als Einführung zur Aufführung bringen, vielleicht zwei, zuerst diese hier, basierend auf einer andernorts (vgl. Niemeyer 2021a: 89, 91, 105) nachlesbaren Darstellung: Am 27. Mai 1940 sitzt der Pfarrer Josef Zilliken (1872-1942)[2] zusammen mit seinem gleichsinnigen Konfrater Johannes Schulz (1884-1942) auf der Terrasse des Gasthauses Waldfrieden bei Maria Laach, als Hermann Göring mit Gefolge die Terrasse betritt. Am gleichen Tag noch werden beide aufgrund von Görings Zorn über Respektlosigkeit – sie hatten ihn, ins Gespräch vertieft, ignoriert, – ins KZ Buchenwald verbracht, später ins KZ Sachsenhausen sowie ins KZ Dachau, Pfarrerblock. Dort mussten sie mit erhobenem Arm an einer Figur vorbeigehen, die Göring symbolisieren sollte, und auf eine Schiefertafel hatten sie zu schreiben: „Jeder Deutsche ist verpflichtet, den Reichsmarschall zu grüßen.“ Zilliken, der noch als 70-jähriger Zwangsarbeit verrichten musste, ließ sich, nur noch Haut und Knochen, auf die Krankenstation bringen; von dort kam am 3. Oktober 1942 die Nachricht von seinem Tod mit der Diagnose: „Herz-Kreislauf-Versagen in Verbindung mit einer Lungentuberkulose.“ Zur gleichen Zeit verhungerte Schulz. Zillikens Urne wurde im November 1942 in seiner Heimatgemeinde bestattet, zuvor, im Oktober, geriet ein von 60 Geistlichen besuchtes Requiem unter großer Anteilnahme der Bevölkerung in die Nähe eines NS-kritischen Ereignisses. Die katholische Kirche hat Zilliken als auch Schulz nach 1945 in das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts aufgenommen. (vgl. Ost 2005) Göring hingegen hatte sich im Juni 1940 gegenüber Hitler schenkelklopfend mit dieser Geschichte gebrüstet. Nachlesbar ist sie in Das Buch Hitler (vgl. Eberle/Uhl 2005: 123), ein erstmals 2005 veröffentlichtes Geheimdossier des NKWD für Stalin von 1948/49, basierend auf den Verhörprotokollen von Hitlers Kammerdiener Heinz Linge sowie seinem persönlichen Adjutanten Otto Günsche. Es gibt unverstellte Einblicke in Interna, darunter mehrfach beglaubigte Anekdoten, auch jene vom Sturmbannführer Kurt Meyer, der, um seinen von einem Splitter tödlich verletzten Hund zu rächen, „über 30 friedliche Bewohner zusammentreiben ließ, die er eigenhändig erschoss.“ (ebd.: 153)

Noch einmal, in Zeitlupe, konzentriert auf den Täter: Hermann Göring (1893-1946), aus Rosenheim. Kadett, Leutnant, 1918 Jagdflieger, 1920 Zivilpilot, Bekanntschaft mit Hitler, 1922 NSDAP, Hitler-Putsch 1923, verwundet, Flucht nach Österreich, Medikamentenabhängigkeit, Flucht nach Schweden, Aufenthalt in der Psychiatrie, Aufhebung Haftbefehl 1926, Wiedereintritt NSDAP 1928, MdR ab 1928, Reichstagspräsident ab 1932, Reichsminister für Luftfahrt ab 1933, Reichsmarschall 1940, 1.9.1939 Ernennung zum Hitler-Stellvertreter, in Nürnberg als Hauptkriegsverbrecher zum Tode verurteilt, gab nichts zu, hatte aber immerhin den Mut, aus Feigheit Suizid zu begehen. (vgl. Niemeyer 2021a: 45 f.) Ein junger Neu-Rechtsideologe namens (angeblich) Nils Wegner – und damit zum versprochenen zeitgenössischen Bezug dieser Geschichte – hatte 2017 ungeachtet von (Vor-) Geschichten wie dieser die von Gewissenlosigkeit, Dummheit wie Lesefaulheit umnebelte Frechheit, einer zentralen Göring-Ikone aus der NS-Zeit (vgl. Gengler 1934), dem WK-I-Jagdfliegerass und nachmaligen Freikorpskämpfer und Kapp-Putsch-Anhänger Rudolf Berthold, im AfD-nahen, von Erik Lehnert herausgegebenen Bd. 5 des Staatspolitischen Handbuchs aus dem rechtsradikalen Institut für Staatspolitik (IfS) in Schnellroda einen Kranz zu flechten vom Typ unsung heroes (vgl. Wegner 2017: 155 f.), als habe es Bertholds Nähe zum Rathenau-Attentäter Ernst von Salomon nicht gegeben und damit auch nicht die daraus entspringende Nähe zu den Motiven im Fall des Mordes am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) am 1. Juni 2019 (vgl. hierzu Niemeyer 2021: 407 ff.)

Die zweite Geschichte, kaum wenig gruselig, führt uns direkt hinein in das Thema dieses Abschnitts, mittels eines ganz kurzen Vorspiels: Am 1. Oktober 1930 verfasste Theodor Fritsch das Vorwort zur 30. Auflage seines damit im 82. Tausend stehenden Handbuch der Judenfrage, das 1887 als Antisemiten-Katechismus gestartet worden war, damals noch befeuert von Fritsch‘ durch Nietzsches Schwager Bernhard Förster genährten Hoffnung, Nietzsche könne vielleicht als Autor gekeilt werden. Auf Sand gebaut, diese Hoffnung, wie wir längst wissen. Im Übrigen: Nietzsche ist längst tot, nicht aber die ihm den Tod bringende Geschlechtskrankheit. Fritsch‘ Beitrag zu diesem Thema: Unter der Headline Die Macher der öffentlichen Meinung. Presse wird der „Verseuchung des deutschen Volkes“ durch das Judentum gedacht und, „in diesem Zusammenhang“ (Fritsch 301931: 301), der jüdischen Archivleitungen, als erstes: des Archivs für Dermatologie und Syphilis, geleitet von Josef Jadassohn (1863-1936) – nicht mehr lange, wie ich mir zu ergänzen erlaube: 1933 emigrierte dieser damals weltberühmte Professor für Dermatologie und Syphilidologie in die Schweiz, zumal er in Deutschland nichts mehr verlegt bekam; drei Jahre später starb Jadssohn in Zürich – ein symbolischer Tod, der das nach 1933 im Dritten Reich allmähliche Aussterben dieses Fachgebiets anzeigt, darin auch: das Wissen um weniger aufwändige Lösungen des in Rede stehenden Problems, wie das nun folgende Hauptspiel zeigen soll.

Es stammt, der Idee für das Drehbuch nach, von Ingo Harms (2020), kam zur Aufführung in der Zeitschrift für Sozialpädagogik, und handelt vom Oldenburger Reichsstatthalter und NS-Gauleiter Carl Röver (1889-1942), den der (vormalige) neu-rechte Chefideologe Karlheinz Weißmann – zusammen mit Erik Lehnert Mitherausgeber einiger der insgesamt fünf Bände umfassenden Staatspolitischen Handbuchs des IfS – noch recht unverzagt als den Chef der ersten „allein von der NSDAP gestellten Regierung“ (Weißmann 1998: 311) meinte vorstellen zu dürfen. Ein anderer Superlativ scheint mir weit aufschlussreicher: Röver, der sich – darin dem Fall Hans Paasche vergleichbar – seine Syphilis vermutlich in den Nuller Jahren des 20. Jahrhunderts als Kolonialkaufmann in Kamerun eingehandelt hatte, war zugleich wohl der erste Nazi, der öffentlich komplett aus der Rolle fiel – und plötzlich bei einer NS-Versammlung, als Zeichen für das offenkundig ereichte tertiäre Stadium (progressive Paralyse) seiner Syphilis, die Partei und den Führer wüst beschimpfte. Ein Fall übrigens ganz nach (damaligem) Lehrbuch, wie Rövers Parteigenosse Bodo Spiethoff 1936 notiert hatte für Fälle von Syphilis, bei denen schließlich doch noch das Gehirn ergriffen werde. Spiethoff:

„Nach Jahren und oft Jahrzehnten des Wohlbefindens können bei Patienten, die sich nicht richtig haben ausheilen lassen, noch die sogenannten Nachkrankheiten auftreten, d.h. Zerstörungen im Zentralnervensystem […]. Weit schlimmer und gefährlicher ist, wenn das Gehirn ergriffen wird […]. Die Krankheit kann aber auch plötzlich mit den allerschwersten Erscheinungen einsetzen. Wie aus heiterem Himmel heraus werden die Kranken plötzlich gewalttätig, bekommen Tobsuchts- und Zerstörungsanfälle oder auch tiefe Depressionen mit Weinkrämpfen. Die Krankheit geht fast immer, wenn auch gelegentlich mit kurzen Unterbrechungen, in tiefe Geistesverblödung und völlige Umnachtung über. Sie dauert meistens nur drei bis fünf Jahre und führt zum Tode.“ (Spiethoff 1936: 347 f.)

Nichts lässt darauf schließen, der Verfasser dieser Zeilen sei beim Schreiben auch nur von ferne von der Idee heimgesucht worden, er beschriebe hiermit Nietzsches Krankengeschichte bis hin zum Turiner Zusammenbruch vom Januar 1889 und dessen Folgen, vielleicht noch mit der Erläuterung, dass auch schon Fälle beobachtet worden seien, bei denen bis zum Tod noch elf Jahre vergingen. Der Grund für diese Scheuklappenmentalität liegt auf der Hand: Ein guter Nazi wie Spiethoff hielt sich selbstredend an das ungeschriebene und, wie gesehen, von Heinrich Härtle in einem NS-Schulungsbrief auf den Punkt gebrachte NS-Gesetz, unter keinen Umständen Zweifel aufkommen zu lassen an der geistigen Gesundheit des NS-Staatsphilosophen schlechthin, eben Nietzsche. So wie dies in besonders krasser Form zuvor, als Teil der insgesamt, via Theodor Fritsch (vgl. Niemeyer 2003), Nietzsche-skeptischen völkischen Bewegung, Karl Kynast getan hatte. Entsprechend verpönt war es, dieses Thema überhaupt anzusprechen – abzüglich von Nekrologen auf die zum Glück überwundene Zeit jüdisch motivierter ‚Seelenzerfaserung‘.

Wichtig des Weiteren, gleichsam zur anderen Seite hin: Hätte man Bodo Spiethoff damals darauf hingewiesen, seine eben gegebene Beschreibung eines Paralytikers werde vier Jahre später in Gestalt des NS-Gauleiters Carl Röver ein Paradefall zugeordnet, wäre ihm fraglos innegeworden, dass der NS-Syphiliskunde einer wichtigen Erwägung entbehre. Diese nämlich: Was macht man mit entsprechend erkrankten verdienten Parteigenossen? Das Procedere in der Charité vom Mai 1942 in diesem Fall offenbart: nichts, besser: kaum mehr als dasjenige in vergleichbaren Fällen, nur noch etwas zügiger und entschlossener. Soll sagen: Röver bekam, wie Ingo Harms überzeugend nachzeichnete, postwendend ‚Besuch‘ von Hitlers Leibarzt Karl Brandt (1904-1948) sowie dem Charité-Neurologen Maximiliane de Crinis (1889-1945). Beide zusammen, von Hitler mit einer Art Lizenz zum Töten ausgestattet, expedierten den randalierenden Syphilitiker Röver per Flugzeug und auf Führerbefehl in die Charité. Der Rest ist Schweigen nach Art der Nazis, wie schon anhand des Falles Zilliken aufgewiesen: Rövers Gattin erhielt einen Tag später, am 15. Mai 1942, ein Kondolenzschreiben des Inhalts, ihr Gatte sei leider einem Schlaganfall nach Lungenentzündung erlegen. Aus Gangstersprache übersetzt ins Hochdeutsche: Zu reden ist vom Mord in der Charité an Röver, ein Dutzendverbrechen im NS-System, und doch, nach humanen Maßstäben, ein Verbrechen sondergleichen, das mit Staatsbegräbnis und offiziell bekundeter Trauer des Führers ganz nach Art der Mafia verbrämt wurde.

Die Moral dieser Geschichte ist eine doppelte, die eine basiert auf einer einfachen, oben bereits im Zusammenhang mit Thomas Manns Doktor Faustus angedeuteten Rechenaufgabe: Gesetzt, Nietzsche wäre so alt wie Carl Röver gewesen und hätte seinen geistigen Zusammenbruch in Turin am 8. Januar 1942 erlitten, um zehn Tage später von der Mutter von Basel nach Jena transferiert zu werden, in die dortige Irrenanstalt; angenommen des Weiteren, er hätte dort wüste Flüche ausgestoßen auf die Nazis nach Art seiner Deutschenverachtung aus Ecce homo – dann, so darf man als gewiss annehmen, wäre auch ihm ein Todesengel nach Art des Karl Brandt erschienen. Derselbe übrigens ausgestattet mit einer Vita, die, wie jene Görings, Schlottern macht: NSDAP (1932), SA (1933), SS (1934), „ab 1934 Hitlers chirurgischer Begleitarzt, 1939 mit Philipp Bouhler (1899-1945) Hitlers Euthanasiebevollmächtiger, verantwortlich für den Massenmord an Kranken“, seit Juli 1942 „Hitler direkt unterstellt, zuständig für die Koordination sämtlicher medizinischer Maßnahmen, insbesondere Forschung und Menschenversuche“ (Klee 2003: 70 f.) – schlechter als mit diesem Todesengel hätte es Röver also im Mai 1942 kaum treffen können und, kurz zuvor, auch nicht Nietzsche. Zugegeben: eine Fiktion, denn Nietzsche war ja nun einmal nicht so alt wie Röver, sondern er genoss gleichsam den Schutz seiner frühen Geburt – sowie jenen seiner Schwester: Sie war es, die, wie gesehen, 1908 vorsorglich jene deutschfeindlichen Aussagen aus Ecce homo entfernt hatte, die, im paralytischen Rausch angestimmt, Nietzsche, so alt wie Röber gedacht, zum Verhängnis hätten werden können.

Die zweite Lektion ist eine moralische, und wir wollen in sie praktischerweise auch gleich Brandt, de Crinis sowie Bouhler hineinnehmen, gesetzt, man hielte es nicht für normal, dass sich Todesengel aus Jux und Dollerei als Götter in Weiß verkleiden: Fünf Psychopathen stehen nun bereit, drei von ihnen subalterne, zwei andere, Göring und Hitler, führend, einer von diesen Primus, deswegen, wohl, damit man ihn nicht mit dem andere verwechsele, ‚der Führer‘ geheißen. Meint zugleich: Hitler bleibt ein Sonderfall, auch, um diesen leichten Punkt noch zu machen, in Sachen gänzlich fehlenden Gewissens. Ein Rückschluss auf eine Geisteskrankheit, die ihn, Hitler, außer Verantwortung setzte, scheint mir also nicht erlaubt. Das Einzige, was, eine gewisse Aufmerksamkeit beanspruchen darf, ist, wie gesagt, jene gänzlich fehlenden Empathie sowie Hitlers rasanter Verfall. Anzunehmen ist, ungeachtet der peinlichen Unmutsgeste des allerneuesten Hitler-Biographen Volker Ullrich gegenüber „sensationsheischenden“ (Ullrich 2018: 590) neueren Thesen, Pervitin-Abusus, im Übrigen schon seit über dreißig Jahren im Gespräch (vgl. Lange-Eichbaum/Kurth 1992: 89), wohl durch Hitlers Leibarzt Theodor Morell zu verantworten und u.a. in Das Buch Hitler (= Akte Nr. 462a) nachlesbar. (vgl. Niemeyer 2021a: 22 f.) Im Februar 1943, nach dem Fall Stalingrads, erreichte dieser Abusus einen neuen Höhepunkt, mitsamt der unübersehbaren Nebenwirkungen, die wir in ähnlicher Form von der Modedroge Crystal Meath – mit Pervitin verwandt – kennen. Ein Beispiel gibt der Suizid Erich Udets („Des Teufels General“), dessen Verfall der Göring-Biograph Guido Knopp mit dem Abusus von „Aufputschmitteln“ (Knopp 2006: 158) erklärte, ohne zu sagen, welchem: Pervitin. (vgl. Niemeyer 2021a: 67 f.) Der Verfall Udets ist, so betrachtet wenig überraschend, jenem Hitlers komplementär – kein Thema für Volker Ullrich, der, wie gesehen, jenes des Letzteren banalisierte und den Verfall Udets ignorierte: Er hat „aus Verzweiflung über die Schwierigkeiten des Luftwaffenprogramms Selbstmord begangen.“ (Ullrich 2018: 247) Mehr war da nicht? Auch nicht in Sachen des Syphilitikers Carl Röver? „Am 15. Mai 1942 starb in Oldenburg der Gauleiter von Weser-Ems, Carl Röver. Hitler ordnete einen Staatsakt im Mosaiksaal der Neuen Reichskanzlei an“, lesen wir bei unserem Hitler-Biographen (ebd.: 345), als handle es sich bei Hitler nicht etwa um den eigentlichen Verantwortlichen für den Mord an Röver, sondern um einen Gentleman, der weiß, was sich beim plötzlichen Tod eines verdienten Mitarbeiters gehört.

Kaum weniger auffällig: Ullrichs Komplettschweigen in puncto Nietzsche unter Einschluss von Thomas Manns Doktor Faustus – als sei die Frage nach den weltanschaulichen Grundlagen der Nazis sowie die in diesem Zusammenhang interessierende Frage, ob es einer Nazifizierung Nietzsches a) bedurft hätte sowie b) gab, inzwischen eine nebensächliche. Offenbar ebenso nebensächlich wie die für Carl Zuckmayer – kein Name für Ullrich – noch wichtige Beobachtung ad Udet, wonach aus dem charmanten und galanten Jagdfliegerass des Ersten Weltkriegs im Herbst 1940 ein völlig desolater Typ geworden war: „Bleich, aufgedunsen und ungepflegt, war er nicht mehr wiederzuerkennen. Udet verfiel zusehends.“ (Knopp 2006: 158) Ähnlich lesen wir zu Hitler (allerdings nicht bei Ullrich!), als Zeichen für den Ausschlag des Pervitin-Abusus ins Paranoid-Verschwörerideologische hinein:

„Die Anfälle nervöser Gereiztheit nahmen zu. Bald schien es Hitler, sein Kragen sei zu eng und hemme den Blutkreislauf, bald waren ihm die Hosen zu lang. Er klagte über Hautjucken. Überall – im Spülwasser der Toilette, in der Seife, in der Rasiercreme oder in der Zahnpasta – vermutete er Gift und forderte genaue Analysen. Auch das Wasser, mit dem sein Essen gekocht wurde, musste untersucht werden. H. kaute an den Fingernägeln, kratzte sich Ohren und Nacken blutig.“ (Eberle/Uhl 2005: 187)

Nicht vergessen sei der diagnostisch wichtige Hinweis, dass Hitler die Temperatur in seinen Räumen auf 12° herunterregulieren ließ – eine völlig rationale Haltung, wenn man die Reduzierung des Kälteempfindens durch Pervitin in Rechnung stellt. Was denn auch Hitlers Wohlempfinden in seiner unwirtlichen, mitten im ostpolnischen Wald gelegenen ‚Wolfsschanze‘ erklären könnte. (vgl. Ohler 2015: 153) Eineinhalb Jahre nach diesem Dokument aus der Zeit zu Beginn des Unternehmens Barbarossa waren die Folgen dieser Lebensweise unübersehbar: „Hitler sah alt und müde aus. Sein Haar war grau geworden. Er ging gebeugt und zog die Beine nach. Er war ungewöhnlich nervös und unruhig, brauste noch schneller auf als sonst und traf widersprüchliche Entschlüsse.“ (Eberle/Uhl 2005: 349)

Dass Hitler nach wie vor Anhänger findet oder jedenfalls doch Interpreten wie den vormaligen Intimus von Alfred Dregger (CDU), Alexander Gauland (AfD), der von Hitlers Hinterlassenschaft als „Vogelschiss in über tausend Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“ zu reden wagte (vgl. Niemeyer 2021a: 43 f.), ist unfassbar. Ähnlich unfassbar wie das Eintreten von Wulf Kellerwessel für seinen Mit-Herausgeber und neu-rechten Ideologen Lothar Fritze im Periodikum Aufklärung & Kritik, welches seit Eintritt auch von Harald Seubert – vormals Studienzentrum Weikersheim (vgl. Niemeyer 2019a: 92) – in den Herausgeberkreis sich neu-rechten Ideologen gegenüber öffnet, etwa auch in Sachen der von Kellerwessel abgesegneten Fritze-These, „die Nationalsozialisten“ (expressis verbis genannt werden Hitler, Himmler, Goebbels und Göring) hätten „über eine komplexe Moral [verfügt] und waren nicht einfach bedenkenlos böse.“ (Kellerwessel 2020: 258) Wie leicht erkennbar, ist es von hier nur ein kleiner Schritt hin zu Gaulands Parteigenossen Björn Höcke, der 2017 gegenüber dem Wall Street Journal monierte, „dass man Hitler [in Deutschland] als das absolut böse darstellt.“ (Niemeyer 2021a: 53) Heißt: Durch ein positiveres Hitler-Bild und einen dem korrespondierenden Geschichtsrevisionismus zu einem neuen großen Deutschland als Effekt einer „erinnerungspolitischen Wende um 180°“ (Höcke) – so das Programm einer im Deutschen Bundestag vertretenen Partei, und, womöglich bald, so wir nicht aufpassen, einer Gesellschaft aus Nürnberg.

Aufpassen heißt Aufklärung & Kritik. So war Hitler, zusammen mit Stalin, der ihm mit dem Nichtangriffspakt den Rücken freihielt, verantwortlich für den II. Weltkrieg, etwa indem er, ähnlich wie Putin aktuell, als Oberster Kriegsherr („Gröfaz“) die meisten der in seinem Verlauf getroffenen, zumeist falschen Entscheidungen traf, mit der Folge von insgesamt gut vierzig Millionen Toten. Mehr als dies: Hitler kündigte im Januar 1939 im Reichstag für den Kriegsfall „die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ (zit. n. Kellerhoff 2015: 256) an, hatte, in Mein Kampf (1925/26), der Vision Ausdruck gegeben, „zu Kriegsbeginn und während des Krieges einmal 12 000 oder 15 000 dieser hebräischen Volksverderber […] unter Giftgas gehalten“, also „zur rechten Zeit beseitigt, hätte vielleicht eine Million ordentlicher, für die Zukunft wertvoller Deutschen das Leben gerettet“ (ebd.: 255) – kurz: Hitler trug Verantwortung auch für den auf Visionen wie diesen aufbauenden Holocaust mit mehr als 6 Millionen Toten, und dies ungeachtet seiner Larmoyanz, mit welcher er seinen Suizid orchestrierte, etwa in Weisung Nr. 75 vom 15. April 1945, in welcher er im Fall der Niederlage das Schicksal der Besiegten weissagte („Während die alten Männer und Kinder ermordet werden, werden Frauen und Mädchen zu Kasernenhuren erniedrigt. Der Rest marschiert nach Sibirien!“), um zu enden mit einem Satz, den man wohl als Eingeständnis lesen darf. Hitler nämlich schreibt: „Im Augenblick, in dem das Schicksal den größten Kriegsverbrecher aller Zeiten dieser Erde weggenommen hat, wird sich die Wende dieses Krieges entscheiden“ (zit. n. Hubatsch 21983: 311) – und gab damit zu, dass er eben dies war: der „größte Kriegsverbrecher aller Zeiten“, und nichts außerdem, dies auch im Blick auf seine Untaten ab 1939, als man die Krankenhäuser für die Kriegsbeschädigten benötigte und die in zureichender Anzahl verfügbaren „willigen Helfer“ unter den Ärztinnen und Ärzten die benötigten Betten gleichsam frei spritzen, unter Leitung des oben im Zusammenhang des Mordes an Carl Röver bereits erwähnten Karl Brandt, eine Zeitlang Hitlers Begleitarzt, und im Rahmen der Aktion T4 todbringend tätig. (vgl. Niemeyer 2021: 383 ff.)

Angelegt waren Maßnahmen wie diese – und damit kommen wir nun auf den in diesem Buch entscheidenden Punkt – schon in Hitlers Mein Kampf (1925/26). Die „Versyphilitisierung des Volkskörpers“ sei bedingt durch „Prostituierung der Liebe“ (Hitler 261933: 269 ff.) und werde vor allem von Juden unters (deutsche) Volk gebracht (vgl. Gilman 1994: 102 ff.; Henschel 2008), tönte Hitler hier, unter Bezug auf die Debattenlage der 1890er Jahre, als „rassenhygienische Thesen zunehmende mit einem reißerischen Antisemitismus verknüpft [wurden].“ (Schonlau 2005: 104; Geller 1992: 44) Auftritt Erich Fromm, der resümierend, wie im Prolog angedeutet, festhielt, die Syphilis stelle keine Bedrohung „in dem Ausmaß dar, wie Hitler behauptete. Aber es handelt sich dabei um die typische Phantasie eines Nekrophilen: die Angst vor Schmutz und Gift und vor der Gefahr sich anzustecken.“ Dem folgte das Fazit:

„Daß die Juden nicht nur das Blut, sondern auch die Seele vergiften, war nur eine Ausweitung der ursprünglichen Vorstellung.“ (Fromm 1974: 363)

Vor diesem Hintergrund ist die von Volker Elis Pilgrim (2017: 603) gestellte (und verneinte) Frage, ob Hitler Syphilis hatte, zweitrangig und führt in spekulative Bereiche – anders als Fromms von Pilgrim ignorierte[3] Diagnose: ‚Nekrophilie‘, verstanden als Variante bösartiger Aggression, die an Toten und am Töten ihre Freude hat, wie Fromm anhand zahlloser Dokumente als Hitlers Problem auszuweisen vermochte. (vgl. Fromm 1974: 360 ff.) Herausragend dabei: Ein erstmals 1969 publizierter Traum Albert Speers über seinen vormaligen Chef vom 13. September 1962 (vgl. Speer 1975: 557 f.). Ihn nämlich deutete Fromm dahingehend, dass Speer in Hitler nun einen Menschen sah, „der seine ganze Zeit darauf verwendet, dem Tod zu huldigen, aber auf merkwürdige Art ist sein Tun völlig mechanisch, und für Gefühle bleibt dabei kein Raum.“ (Fromm 1974: 303) Ähnlich verhält es sich, so Fromm, mit dem zweiten Psychopathen im Führungsteam der Nazis, Heinrich Himmler (1900-1945), gleichfalls vom Typus ‚bösartige Aggression‘, aber nicht der Unterform ‚Nekrophilie‘ zurechenbar, sondern jener mit den Vokabeln ‚Grausamkeit und Destruktivität‘ zu umschreibenden (ebd.: 271 ff.), der auch Stalin zugehörte (ebd.: 258 ff.).

Belassen wir es bei diesen Hinweisen unter Konzentration auf einen Punkt, basierend auf der These des führenden Psychiaters der NS-Zeit, Oswald Bumke (1877-1950), wonach bei hypochondrisch Veranlagten „die Symptome, die nach der Meinung des Kranken die Lues, die Tabes oder die Paralyse anzeigen könnten, […] im Mittelpunkt all seiner Gedanken [stehen].“ (Bumke 61944: 177) Eine in aller Unschuld dahingesprochene Erwägung – obgleich sie, dies ihre Sprengkraft, die Fälle Hitler und Nietzsche wunderbar schlüssig unter einem Hut zu bringen erlaubt:

  • Hitler, wohl eher kein Syphilitiker, aber extrem sypholophob und nekrophil;
  • Nietzsche hingegen war ein ausgesprochen hypochondrisch veranlagter Syphilitiker.

Beider Unterschied: Hitler, den Psychopathen, drängte es zur Tat; Nietzsche, dem Geistesmenschen, stand nur das Wort zur Verfügung, über welches er im Nachgang derart erschrak, dass er es nicht – gemeint ist seine über fünf lange Jahre hinweg gesammelten Aufzeichnungen zu Der Wille zur Macht (vgl. Niemeyer 2013a) – mit seinem „Imprimatur!“ zu versehen sich getraute.

Mehr als dies: Nietzsche stand, genau betrachtet, auch unter dem Schutz Bumkes. Denn vergleichsweise gemütlich merkte dieser zum Stichwort ‚Syphilitiker‘ an: „Von ihnen wissen wir, daß sie in einem gewissen, freilich nicht kurzen Abstand von der Infektion ihrer Krankheit gewöhnlich nicht mehr übertragen. Daß der Kranke selbst darum noch eine Paralyse bekommen kann, versteht sich von selbst. Eine Gefahr für die Nachkommenschaft bedeutet er in diesem Stadium aber gewöhnlich nicht mehr.“ (Bumke 61944: 131) Indes: Ungeachtet dieses Einwandes, den wir angesichts der oft als Oberschichten-Krankheit rubrizierten Syphilis und verglichen mit Bumkes harscher Haltung gegenüber etwa „Säufern“, die „beinahe immer schon von Haus aus minderwertig sind“ (ebd.: 130), gerne als Zeichen lesen würden für einen schichtenbezüglichen, also soziologisch zu erklärenden Bonus, zog die Zwangssterilisationsmaschine unbarmherzig ihre Spur mit der unmittelbaren Folge von Hunderttausenden von zeugungsunfähig Gemachten mit nachfolgender Euthanasie auch für Syphilitiker (vgl. Schonlau 2005: 117 ff.). Details der nun um sich greifenden und gegenüber Verwandten nach der ‚Methode Röver‘ vollzogenen schrecklichen Patientenmorde seien dem Leser hier erspart (vgl. Niemeyer 2020: 496 ff.), zugunsten eines wichtigen Lehrsatzes: „Der Krieg wurde nicht geführt und die Juden wurden nicht vernichtet, weil Hitler krank war, sondern weil die meisten Deutschen seine Überzeugungen teilten, ihn zu ihrem Führer machten und ihm folgten.“ (Neumann/Eberle 2009: 296) Um dem für alle Zukunft einen Riegel vorzuschieben, ist das Projekt „Erziehung nach Auschwitz“ erfunden worden – womit wir ganz am Schluss wieder bei der Geschichte sind, die wir zu Beginn erzählten: Bei Josef Zilliken und Johannes Schulz, die auf Nimmerwiedersehen im Pfarrerblock des KZ Dachau verschwanden, weil sich Göring über sie geärgert hatte.

Richtig: Sollte der Jesuit Ludwig Hertling sie gemeint und für das Ganze genommen haben, als er in seiner Geschichte der katholischen Kirche (1949) schrieb: „Die Haltung der Katholiken war im Ganzen bewunderungswürdig“ (Hertling 31960: 434), wäre ihm unbedingt zuzustimmen. Jede(r), die/der bis an diese Stelle des vorliegenden Buches gekommen ist, ahnt indes, was jetzt kommt: Zilliken und Schulz waren Hertling seinerzeit nicht eine Zeile wert, wie ohnehin nichts an Hertlings mit Imprimatur von Petrus M. Abellán S.J., Rector Universitatis (vom „10. Novembris 1952“) versehenen Standardwerk wirklich stimmt, zumal nichts die NS-Zeit Betreffendes. Anders der Katholizismus-Rebell Hans Küng exakt fünfzig Jahre nach diesem Datum in seiner Kleinen Geschichte der katholischen Kirche, den Namen Hertling in göttliches Vergessen tauchend, aber in der Sachen unter der Teilüberschrift Schweigen zum Holocaust (vgl. Küng 2002: 229 ff.) Klartext sprechend, auch über das Schweigen der Päpste Pius XI. (1857-1939) sowie Pius XII. (1876-1958) in der Zeit des Nationalsozialismus und, dies vor allem und von Rolf Hochhuth in Der Stellvertreter (1963) skandalisiert. (vgl. Goldhagen 2002: 21 f.)

Etwas über diesen Tellerrand hinausgeschaut: Pius XI. (zum Folgenden: Niemeyer 2021a: 74 f.) hat die Judenverfolgung in Deutschland allen Bitten um Stellungnahme zum Trotz – beginnend mit dem Schreiben der Nonne Edith Stein vom 12. April 1933 – weitgehend ignoriert, erkennbar im Nachgang zum diesbezüglichen Nichthandeln seines Kardinalstaatssekretärs und Nachfolgers Pacelli. Des Weiteren ließ er eine den Rassismus und das ihm innewohnende (NS-) Verbot der Mischehe verurteilende Enzyklika von 1936 unveröffentlicht. Die im Wesentlichen von Pacelli stammende und von Hertling als „Enthüllung“ (Hertling 31960: 434) gelobte Enzyklika Mit brennender Sorge (1937) sprach tatsächlich die Judenverfolgung in Deutschland nicht an, die Enzyklika Divini redemptoris (1937) verurteilte den Kommunismus sehr viel deutlicher als den Nationalsozialismus oder den Faschismus. Und schließlich rechtfertigte Pius XI. im September 1936 Francos Militärputsch, mit Mussolini schloss er einen unheilvollen Pakt. Zu den Nürnberger Gesetzen und den Novemberpogromen 1938 ist keine Reaktion erfolgt. Bereits gedruckt vorliegende Exemplare einer Papstrede, in der die deutsche Judenverfolgung kritisiert und die italienischen Rassengesetze vom Juli 1938 als Bruch des Italienkonkordats kritisiert wurde, ließ Pacelli nach dem Tod des Papstes (am 10. Februar 1939, nur einen Tag vor der geplanten Rede) einstampfen, Bischof Alois Hudal mit seiner skandalösen ‚Rattenlinie‘ für NS-Verbrecher weitgehend ungestört gewähren, zur (perversen) Freude von ausgewiesenen Neo-Nazis wie Fred Duswald (vgl. Niemeyer 2021: 450 ff.).

Um diese Philippika fortzusetzen im Blick auf die NS-Rassenhygiene (vgl. Weingart/Kroll/Bayertz 1988: 367 ff.) und deren Umsetzung in sämtlichen Bereichen der NS-Wohlfahrtspflege unter Einschluss der kirchlichen Wohlfahrtsverbände (vgl. Hammerschmidt 1999: 135 ff.), bei deutlich geringeren Anlaufschwierigkeiten der von Wichern geprägten Inneren Mission (vgl. Niemeyer 32010: 84 ff.), fehlt hier der Platz. Nur die Kirsche auf der Torte sei noch nachgereicht, unter Rückblick auf die Zeit um 1500, speziell: auf Luther. Denn aus zeitnaher Wertung steht zwar außer Frage, dass Luther die „Verbindung von Sexualität und Ehe radikal neu“ gedacht und sich befreit hat von dem – von Balzac, wie gesehen, kritisierten –   „klerikalen Bild der Frau als der sexuell unersättlichen Hyäne, wie es die Inquisitoren des ‚Hexenhammer‘ neu eingepaukt hätten.“ (zit. n. Angenendt 2015: 176) Dominierend ist allerdings der Befund, Luther habe dem Hausfrauenideal gehuldigt und damit die Frauen „doppelt eingesperrt […], familiär wie spirituell.“ (ebd.: 177)

Nicht absehen kann man in diesem Zusammenhang von der Inneren Mission in Gestalt etwa des Eugenikers Hans Harmsen (1899-1989), der die NS-Zwangssterilisations- und Euthanasiepraxis forcierte (vgl. Novak 1998). Nicht ganz ohne Grund übrigens, wenn man bedenkt, dass Luthers Tischrede 4513 der Anschauung frönte, dass der Satan „Wechselkinder und Kilekröpfe […] an der rechten Kinder statt [ablegt], damit die Leute geplaget werden.“ (zit. n. Morgenstern 2016: 303 f.) Diese Vorstellung „verbindet sich in [Luthers antisemitischer Schrift] Von den Juden und ihren Lügen mit vorneuzeitlichen Erklärungen von Missgeburten, die das Resultat eines Fehlverhaltens von Vater und Mutter beim Sexualakt waren.“ (ebd.: 304) ‚Fehlverhalten‘ meint auch: Geschlechtsverkehr mit von der Syphilis infizierten Prostituierten als der nicht eben seltenen Ursache für ‚Missgeburten‘. Dabei darf der sexual-antisemitische Unterton nicht überhört werden, der sich noch in der, wie gesehen, von Artur Dinter gepflegten Mär spiegelt, Jüdinnen seien ihrer erhöhten Sinnlichkeit wegen unter den Prostituierten überrepräsentiert.

Komplettiert wird das Ganze, bei Luther, mittels der Festlegung, „Ungehorsam“ sei, aufgrund der Vorrangerteilung für das vierte gegenüber dem fünften, sechsten und siebten Gebot, eine „größere Sünde als Totschlag, Unkeuschheit, Stehlen“ (Luther 1982, Bd. 1: 111), hinzugerechnet Luthers Bannruf aus Von den guten Werken (1520), wo er unter „vielerlei Menschen“ als dritten Typus die „bösen Menschen“ ausmacht, die „allzeit ganz ungescheut zu Sünden bereit“ seien und für die er deswegen unter Berufung auf Röm. 13,3 f. vorschlägt:

„Die muss man mit Gesetzen, geistlich und weltlich, zwingen wie die wilden Pferde und Hunde, und wenn das nichts helfen will, sie vom Leben tun durchs wilde Schwert.“ (ebd.: 56)

Wie wohltuend modern, ja hypermodern nimmt sich, von hier aus betrachtet, Nietzsches Amerika aus, auf das wir eingangs einen Blick warfen und welchem der Programmsatz zugehört:

„Auch der Böse, auch der Unglückliche, auch der Ausnahme-Mensch soll seine Philosophie, sein gutes Recht, seinen Sonnenschein haben!“ (KSA 3: 529)

Sicherlich: Wir wissen inzwischen, warum dieser Nietzsche in Verlust geriet. Gleichwohl: Von diesem Satz Nietzsches ausgehend sind es nur noch wenige Schritte bis hin zu einer modernen, ‚weißen‘, das Verstehen als Professionsideal kultivierenden Sozialpädagogik (vgl. Niemeyer 2015; 2022b). Von Luthers eben zitiertem Wort hingegen sind es nur knapp zwei Schritte zurück ins Mittelalter finsterster Prägung – nicht wortwörtlich selbstredend, sondern mental, so dass hier auch auf das ‚Böse‘ als ursächliches Prinzip hinweisende Ursachenzuschreibungen à la Bild-Zeitung 2002 im Fall des Erfurter Amokläufers Robert Steinhäuser Heimstatt finden. (vgl. Niemeyer 2015: 212 ff.) Und eben deswegen klappte es nach 1933 so gut mit der Zusammenarbeit von Kirche & Staat, um hiermit den Titel Papst & Teufel der Studie von Hubert Wolf (2008) ins Spiel zu bringen. Diese Studie lässt, im Verein mit jener älteren von Peter Godman (2004), keinen Zweifel daran, dass die These von der Mitwirkung der beiden großen Kirchen an der Endlösung auch der Syphilisfrage nicht länger als wirklich überraschend zu gelten hat.

Autor: Prof. Dr. Christian Niemeyer, Berlin/TU Dresden (i.R.)

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[1] Gemeint ist das Buch Sex, Tod, Hitler. Eine Kulturgeschichte der Syphilis (1500-1947) am Beispiel von Werken vor allem der französischen und deutschsprachigen Literatur (= Beiträge zur Literaturtheorie und Wissenspoetik). Universitätsverlag Winter: Heidelberg 2022. Präsentiert wird hier, mit freundlicher Genehmigung dieses Verlags, das leicht gekürzte letzte Kapitel.

[2] Priesterweihe 1898, Pfarrer, zuletzt (ab 1922) in Prüm, dort auch Dechant, später Bistum Trier, dreimonatige Gefängnisstrafe (zur Bewährung) wg. Beleidigung von Alfred Rosenberg in der Silvesterpredigt 1934, Gesuch um Versetzung nach Wassenach (ab Dezember 1937), um die Prümer Gemeinde vor NS-Verfolgung zu schützen, dort weiteres Aufbegehren mit Gestapo-Verhören und Strafbefehlen. (vgl. Niemeyer 2021a: 91)

[3] Pilgrim, der kurz vor seinem Tod (2022), über vierzig Jahre nach Fromm, in drei dicken Bänden geltend zu machen suchte, dass Hitler ein „Sexopath“ war, dem es ein besonderes Vergnügen gewesen sei, jene zu töten, die, wie für Syphilitiker wohl zu unterstellen, anders als er konnten und gerne wollten, erwähnt Fromm nur am Rande und sein hier in Rede stehendes Buch im entscheidenden, der „Lust am Töten“ gewidmeten Band seiner Trilogie (Pilgrim 2018) noch nicht einmal dem Titel nach.