Heute: Alfred Ploetz: Grundlinien einer Rassen-Hygiene (1895), im erweiterten Kontext betrachtet
Teil III dieser Mini-Serie soll das Augenmerk auf die Jahre zwischen Seved Ribbing (1890) und Alfred Ploetz (1895) heften – insofern spannend, als die Gegensätze kaum größer gedacht werden könnten zwischen dem Schweden Ribbing und dem Iren Oscar Wilde. Dessen Schauer-Roman The Picture of Dorian Gray (1890/91) hätte Ribbing mutmaßlich noch weit eher empört als die in Teil II angesprochenen Frechheiten à la Boccaccio, Casanova, Zola, Strindberg sowie Maupassant. Oscar Wilde, der geniale Bühnenautor und Spötter, spielte in deren Liga als, wie man wohl sagen darf, den nebst Nietzsche berühmtesten Syphilis-Toten des fin de siècle. Beide starben 1900 im Abstand von nur wenigen Monaten, Nietzsche nach elfjähriger Demenz am 25. August 56-jährig in Weimar, Wilde am 30. November 46-jährig in Paris wg. homosexueller Umtriebe nach Haft und Zwangsarbeit im Elend, an welchem wohl auch seine Syphilis ihre Anteile hatte. Und, kaum weniger bemerkenswert: Beide verfügten über einen Tross zumeist jugendlicher Bewunderer, die gegen einen durchaus mächtigeren Tross durchgängig älterer fanatischer Gegner von Ribbing-Format standen, aus welchem im Fall Nietzsche eine Person herausstach, die sich am Ende als siegreich erweisen wird, wie wir in Folge VIII noch zeigen werden: seine Schwester. Meint jedenfalls, auch diesmal sich auf sein Buch Sex, Tod, Hitler (2022) berufend, Ihr Reiseleiter
Christian Niemeyer
Der in der letzten Folge erwähnte Papst-Fluch Nietzsches („werfe den Papst ins Gefängniß“; 8: 572) baut uns übrigens eine Brücke zwischen Nietzsche und Wilde, insofern das Szenario in Wildes Dorian Gray eines neuen Hedonismus huldigt, der durchaus an Nietzsches Motto aus Die fröhliche Wissenschaft (1882) namens „gefährlich leben!“ gemahnt. Entsprechend darf man vermuten, dass Nietzsche auch das Szenario in Wildes Dorian Gray interessiert hätte, insbesondere die Hochschätzung jenes aus der Sippe der Borgias, den auch Nietzsche an die Spitze seiner Neubewertung der Renaissance zu rücken suchte: Cesare Borgia. Den Nietzsches Basler Kollege Jacob Burckhardt ohne Abstriche „einen unbedingten Blutdurst, eine teuflische Lust am Verderben“ (2007, Bd. I: 623) attribuierte und den Wilde im elften Kapitel seines (Schauer-) Romans „in köstlichen Gewändern zu lieblichem Flötenklang die Sünden der Welt in stummem Schauspiel“ (Wilde 1976, Bd. 1: 140) vor dem Auge des Lesers aufziehen ließ. Wohl weniger der kalkulierte Mord aus Gründen der nur so zu konservierenden Sinnenlust unseres Helden ist hier von Interesse, wohl aber der Umstand, dass Wilde seinen Helden sich qua Lektüre an der Dekadenz der Renaissance-Heroen weiden lässt. Zu denken ist hier vor allem an Pietro Riario (1445-1474), der offenbar so schlimm war, dass ihn selbst Ludwig Hertling (1960: 261), im Nachgang zu Ludwig Pastor (1889: 428 f.), tadelte – womit es kein Halten mehr gab: Riario, so konnte man überall lesen, hielt am Vatikan „mit einem Prunk Hof, der den Römern den Atem verschlug.“ (Reinhardt 2005: 43; 2011: 31 f.; Bradford 1979: 12 f.; Küng 2002: 163; Deschner 2004: 281 ff.) Angeblich verstarb er mit Ende Zwanzig an Magenkrebs, was der entschiedenen Wertung Oscar Wildes nicht entgegenstehen muss: Riario sei der „Lustknabe“ Papst Sixtus‘ IV. gewesen, und „seine Schönheit [kam] nur seiner Lasterhaftigkeit gleich“ – ehe dann folgt:
„Ein schrecklicher Zauber wohnte all diesen Menschen inne. Er sah sie des Nachts, und bei Tag erregten sie seine Phantasie. Die Renaissance kannte sonderbare Arten zu vergiften […]. Dorian Gray war durch ein Buch vergiftet worden. Es gab Augenblicke, da er im Bösen nur ein Mittel sah, durch das er seinen Begriff vom Schönen verwirklichen konnte.“ (Wilde 1976, Bd. 1: 162 f.)
Wilde, ein Dandy sondergleichen, verendete, wie gesehen, tragisch; sein einziger Roman musste sich zuletzt ergreifend dämlich bewerben lassen, als „Gänsehaut-Fantasy für Grusel-Gourmets“ (Kino&Co) oder „Stilechter Gothic-Grusel“ (Hamburger Morgenpost), dies gedacht als Attribute bezogen auf die Romanverfilmung Das Bildnis des Dorian Gray (2010) als auch im Blick auf die verfilmte Biographie Oscar Wilde (1997), die übrigens auf etwas schamhafte Weise folgenden Punkt umschifft:
„Der schönste, der geistreichste, der eleganteste Mann seiner Zeit – bis auf den Grund von der Seuche zerfressen. Nachdem er durch allen Schmutz der Welt – die Liebe zu einem niedrigen Mann, ein widerliches Strafverfahren, einen dreckigen Kerkerkäfig – gegangen war, ist er in einer kleinen, schlechten Herberge in Paris gestorben. Der Apostel der Schönheit in der Gosse verreckt.“ (Springer 1926: 189)
So gesehen könnte man, mit einigem, bei einem Engländer ja nicht verbotenen schwarzen Humor lästern: Wilde war der schönere Nietzsche, mit einem gleichfalls zum fin de siècle inhaltlich wie zeitlich perfekt passenden Ende. Mit einem Ende allerdings, das der Kreis um Ribbing und damit der Mainstream, der sich weder das Christentum noch das Bürgertum als bestimmende Konstanten ihrer Kultur ausreden lässt, auf ewig Mahnmal blieb, mittels dessen es die Herde beisammen zu halten galt.
Was als Nächstes folgte als wichtige Neuerscheinung im hier interessierenden Themenfeld, ist Docteur Pascal (1893), der Abschlussroman der Familiensaga Les Rougon-Macquart aus der Feder Émile Zolas. Dessen zentrales Thema ist nicht die Syphilis, sondern die Vererbung. Mit der Folge, dass Zola, anders als seine Berufskollegen Jules de Goncourt, Gustave Flaubert, Guy de Maupassant sowie Alphonse Daudet nicht betroffen von der Syphilis, seiner zahlreichen Leserschaft in den zwanzig Romanen dieser Serie, alle möglichen mit dem Stempel ‚Anlage‘ versehenden Krankheitsursachen nahezubringen suchte. Etwa Alkoholismus (im Fall von Gervaise, der Mutter von Nana), Alkoholismus mit der Folge der psychischen und physischen Perversion (im Fall von Nana), Alkoholismus mit der Folge der Mordsucht (im Fall von Jacques Lantier), Nervenkrankeit, die sich als Genialität äußert (im Fall von Claude Lantier), Nervenkrankeit, die sich als Schwachsinn äußert (im Fall von Désirée Mouret), Nervenkrankeit, die sich als Hang zum Mystifizismus äußert (im Fall von Serge Mouret) sowie überspringende Vererbung mit psychischer und physischer Dominanz ihres Großvaters mütterlicherseits (im Fall von Clotilde und Marthe Rougon) sowie, nicht zu vergessen: ein Fall (Charles Rougon) von drei Generationen überspringender Vererbung. Kurz: Bei Zola ist der Fokus ein erbgenetischer, mit der Folge, dass bei ihm der Faktor ‚Umwelt‘ nicht zureichend in Betracht kommt – was Zolas Gesellschafts- und Kleruskritik, etwa im Fall Syphilis, letztlich um ihren eigentlichen Stachel brachte.
Anders Nietzsche, der in seinem von der Schwester erst mit sieben Jahren Verzögerung auf den Markt geworfenen Antichrist (1895) einen so noch nicht gehörten aggressiven Ton anschlägt, der jenen von Alfred Ploetz präludierte: „Die Schwachen und Missrathnen sollen zu Grunde gehn: erster Satz der Gesellschaft“ (KSA 13: 192) – ein Satz, der durchaus nicht besser wird durch den Scherz Nietzsches aus Ecce homo (KSA 6: 306), er verfechte halt eine medi-zynische Position. Der Grund für diese Lesart der Dinge wird in AC 38 angedeutet:
„Es giebt Tage, wo mich ein Gefühl heimsucht, schwärzer als die schwärzeste Melancholie – die Menschen-Verachtung. Und damit ich keinen Zweifel darüber lasse, was ich verachte, wen ich verachte: der Mensch von heute ist es, der Mensch, mit dem ich verhängnissvoll gleichzeitig bin.“ (KSA 6: 209)
Im Hintergrund dieser fraglos auch für den Psychiater aufschlussreichen Zeilen wirkt der Zorn über die Fortdauer eines längst schon entlarvten falschen Zaubers namens Christentum mitsamt der Empörung über die „Verdorbenheit des Menschen“ (KSA 6: 172), insonderheit in Gestalt des Priesters, eingerechnet jene Philosophen, „die durch Theologen-Blut verderbt“ sind. (KSA 6: 176) Eine Absage an das Christentum gehört dazu, wie sie härter nicht gedacht werden kann: Nietzsche behauptet, in AC 51, es stünde niemandem frei, Christ zu sein, insofern man „krank genug dazu sein [muss]“ (KSA 6: 231) – was den Schluss erlaubt, er sei gesund, deutlicher: Gesund ist der eigentlich kranke Nietzsche, krank hingegen das leibfeindliche Christentum, das ihn, nebst zahllosen Anderen, blind und unaufgeklärt in sein persönliches Verhängnis tappen ließ: hin zur Prostituierten und damit, da ohne safer sex, rein in die Syphilisfalle. Die Folgen für Nietzsches Theorie: Décadence ist ihm ab diesem Moment nichts weiter als ein anderes Wort für Christentum. Derlei, wie Enrico Müller (2020: 92) vorschlägt, als „offensichtliche Maßlosigkeit“ zu tadeln, ist ein Vorschlag vom Typ Gesinnungspolizei, die, wie der Name schon sagt, mit Wissenschaft nichts zu tun hat.
Ein Punkt, der durchaus geeignet ist zur Überleitung. Denn auch der von Hitler zum Professor ernannte NS-Rassenhygieniker Alfred Ploetz (1860-1940) fand nicht aus rein wissenschaftlichen Motiven zur Rassenhygiene, sondern, wenn man so sagen darf, aus persönlicher Not (vgl. Niemeyer 2021: 241, 273 ff.): Ploetz, der in Hauptmanns Drama Vor Sonnenaufgang (1889) als fanatischer Anti-Alkoholiker porträtiert wird, ließ sich in diesem Stück und später auch im wirklichen Leben (hier aus Ärger über die Unfruchtbarkeit seiner Frau 1898 nach achtjähriger kinderloser Ehe) von seiner ersten Frau, einer Schwester seines Berufs- und Gesinnungskollegen, des NS-Rassenhygienikers Ernst Rüdin (1874-1952), scheiden, um eine in der Tat gebärerfolgreichere zweite Ehe einzugehen. So betrachtet war Ploetz geradezu prädestiniert dafür, eine Lehre wie jene Zarathustras so zu lesen als sei sie direkt auf seine Not bzw. die seiner ersten Frau hin konzipiert worden. Stefan Breuer und nach ihm Thomas Mittmann, unter Verweis auf weitere Rassenhygieniker wie Wilhelm Schallmayer (1857-1919) und Fritz Lenz (1887-1976) (Mittmann 2006: 120 ff.; zur Kritik: Niemeyer 2008: 481 f.), sichteten auch inhaltlich eine Verbindung zwischen Ploetz und Nietzsche, insofern auch dieser, allerdings „zumeist in nicht-veröffentlichten Passagen oder in eher beiläufigen Bemerkungen“, „ärztliche Ehezeugnisse, Zeugungsverbote, Kastrationen und sogar physische Vernichtung für die ‚Mißratenen‘ fordert[e] und zugleich die Züchtung eines neuen Adels verlangt[e].“ (Breuer 2001: 239)
Der Unterschied, von den hier Zitierten, durchweg keine Nietzscheexperten, außer Acht gelassen: Positionen Nietzsches wie diese hier sind seiner persönlichen Verzweiflung ob des ihm, syphilisbedingt, auferlegten Zeugungsverbots zuzurechnen, mit seiner großen und einseitigen Liebe Lou von Salomé als ihm nun gleichsam verbotene Frucht. Bei Ploetz liegt der Fall umgekehrt: Seine Verzweiflung war eine männertypische, dezidiert der Unfruchtbarkeit seiner ersten Frau zugerechnete, was ihm Gedanken eingab in Richtung eines klugen Züchtungsregimes, das am Ende vor sozialdarwinistischen Optionen nicht zurückschreckte und medizinische Maßnahmen wie die Tötung lebensunwerten Lebens zu erlauben schien. Mit einer gewissen, wie wir von Ribbing aus und mithin von Teil II her ableiten können: für das Bürger- wie Christentum typischen Öffnung gegenüber der Idee, Jugendverführer (wie Nietzsche), zumindest aber ihrerseits sexualdeviant agierende Jugendverführer (wie Ola Hansson sowie Oscar Wilde) des Schutzes der Jugend wegen zur Not in eine „Pflege- und Besserungsanstalt“ (Ribbing) einzuweisen, wenn nicht gar: ihre Bücher zu verbrennen. Soviel also zum erweiterten Hintergrund von Ploetz‘ Programmschrift, der wir uns abschließend für Teil III zuwenden wollen.
Alfred Ploetz: Grundlinien einer Rassen-Hygiene (1895). Der spätere, führende NS-Rassenhygieniker (1860-1940) war als junger Arzt vom Zarathustra begeistert und stellte deswegen dem ersten Teil dieses seines Standardwerks das Motto voran: „Aufwärts geht unser Weg, von der Art hinüber zur Über-Art. Aber ein Grauen ist uns der entartende Sinn, welcher spricht: ‚Alles für mich.‘“ (KSA 4: 98) Das Zitat ist korrekt und fraglos problematisch, zumal dem eben Zitierten im Original der Satz vorherging: „Sagt mir, meine Brüder: was gilt uns als Schlechtes und Schlechtestes? Ist es nicht Entartung?“ (KSA 4: 98) Insoweit, ja: Beide Zitate sind problematisch und ziehen den Verdacht auf sich, Zarathustra habe mit dem hiermit in Rede stehenden letzten Kapitel Von der schenkenden Tugend aus Za I das Konstrukt ‚Wille zur Macht‘, abweichend von der zuvor in Von tausend und Einem Ziele angedeuteten kosmopolitischen Lesart dieses Konstrukts, verfügbar machen wollen zwecks Adelung einer quasi-darwinistischen Lesart des Übermenschen als neuer Art (‚Über-Art‘), und zwar dies auch noch in Gestalt einer Vision der zu bevorzugenden Herrschaftsansprüche des deutschen, ‚auserwählten‘ Volkes‘. (vgl. Niemeyer 2007: 34) Dabei hilft wenig, dass Nietzsches Angst vor ‚Entartung‘ als eine der Sorgen zu gelten hat, die ihm das beharrliche Nachdenken über seine Syphilis eintrug, ein Nachdenken, für das, wie gesehen, gerade diese Dichtung überreich Zeugnis gibt. Gleichwohl: Weitgehend[1] auf Ploetz‘ eigene Rechnung ist der sozialdarwinistische Satz zu setzen, dass der „Armuth mit ihren ausjätenden Schrecken“ nicht entbehrt werden könne und „‘humane Gefühlsduseleien‘ wie Pflege der Kranken, der Blinden, Taubstummen, überhaupt aller Schwachen […] nur die Wirksamkeit der natürlichen Zuchtwahl“ (Ploetz 1895: 9 f.) hinderten oder verzögerten – ein Programmpunkt, den später die Nazis aufgriffen und zur Abschaffung der ‚Humanitätsduselei‘ schlechthin, der Wohlfahrtspflege resp. Sozialpädagogik, nutzten, zugunsten einer am Recht des Volkes auf eine erbgesunde Nachkommenschaft orientierten Volkspflege.
Autor: Prof. Dr. Christian Niemeyer, Berlin/TU Dresden (i.R.)
Text: Basiert auf meiner Darstellung Sex, Tod, Hitler. Eine Kulturgeschichte der Syphilis (1500-1947) am Beispiel von Werken vor allem der französischen und deutschsprachigen Literatur. Universitätsverlag Winter: Heidelberg 2022. Dort auch alle Literaturhinweise, abgesehen von jenen zu seitdem erschienen Texten, die in Fußnoten untergebracht wurden. Beim letzten Abschnitt (über Seved Ribbing) handelt es sich um einen wortwörtlichen Nachdruck aus jenem Buch (mit freundlicher Genehmigung des Verlages).
[1] Eine Einschränkung, die auf Rechnung der Bemerkung aus Ecce homo geht, das mildtätige Christentum habe „das Gesetz der Selektion gekreuzt.“ (KSA 6: 374)