Die zionistische Haltung

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Dieser Beitrag erschien vor 90 Jahren im „Jüdischen Echo“. Autor Kurt Blumenfeld, einer der führenden deutschen Zionisten, stellt darin die Situation für die deutschen Juden nach dem Aufstieg des Nationalsozialismus und die Rolle des Zionismus dar. Ein beklemmendes Zeitdokument.

Vor den Wahlen
Die Zionistische Haltung

Von Kurt Blumenfeld
Das Jüdische Echo, 3. März 1933

Die Judenheit Deutschlands ist heute schwer bedroht. Eine von Judenhaß erfüllte Bewegung ist zur stärksten Macht in Deutschland geworden. Das Programm des Nationalsozialismus ist bekannt. So ungewiß es ist, ob dieses Programm in allen Teilen durchgeführt wird oder überhaupt durchführbar ist, so sehr müssen wir Juden damit rechnen, daß aus der Tatsache der antisemitischen Grundhaltung der nationalsozialistischen Bewegung Konsequenzen gezogen werden können, die uns auf allen Gebieten des Lebens schwer treffen. Unsere Ehre wird täglich angegriffen und in der Welt des deutschen Nationalismus gibt es Niemanden, der die Verächtlichmachung der jüdischen Gemeinschaft als einen notwendigen Bestandteil im Kampf um die nationale Erneuerung ablehnt.

Die deutschen Juden sind großenteils nicht In der Lage, die neue Wirklichkeit des deutschen Lebens richtig einzuschätzen. Allzu lange haben sie von dem historischen Prozeß der Eingliederung der Juden in den Staat die volle Lösung der Judenfrage erwartet. Was seit den Tagen der Emanzipation als politische Erkenntnis sich in den Köpfen der deutschen Juden festgesetzt hat, soll, so möchten sie, noch heute als Richtschnur für das politische Verhalten der Juden dienen. Der Jude muß aber den einfachen Tatbestand zur Kenntnis nehmen, daß die liberale Aera (wie in manchen anderen Dingen) in der Judenfrage zu rationalistisch, zu mechanistisch gedacht hat: sie hat das Wesen und die Tiefe der Judenfrage verkannt, und die immer weitere Kreise erfassende antisemitische Bewegung ist in ihren irrationalen Quellen von uns Zionisten seit Jahrzehnten richtig beurteilt worden. Da in der Zeit bis zum Kriege und auch noch in einigen Nachkriegsjahren die wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Stellung der Juden eine erhebliche Verbesserung erfuhr, nimmt es nicht wunder, daß viele Juden die Idee der vergangenen Zeit in ihren Gedanken und in ihrer jüdischen Stellungnahme zum Staat und zum öffentlichen Leben festzuhalten versuchen. Es ist nicht einfach, die Erkenntnis von der Wahrheit des Volkstums aufzunehmen, nachdem man bisher gewohnt war, die zionistische Bewegung, die im Gegensatz zum jüdischen Liberalismus entstanden war, als den Störenfried zu empfinden, der angeblich die Juden in der richtigen Eingliederung in die Umwelt zu verhindern versuchte. Jeder vorurteilslose Jude müßte heute zugehen, daß der Zionismus nicht der Willkür einer Schar von weltfremden Fanatikern seine Entstehung verdankte, sondern daß er die notwendige Vorbereitung der jüdischen Gesamtheit auf eine völlig veränderte Weltsituation war. Als der Zionismus von der Sonderart des jüdischen Wesens zu sprechen begann, erfand er nichts Neues; er verkündete vielmehr eine offenbare Realität. Wir wußten, daß mit den geschickten Definitionen von Juden und Judentum nichts gewonnen war: auch ein noch so limitiertes Judentum, das sich eben so sehr vom jüdischen Volk wie von den Inhalten der jüdischen Religion abzuschneiden versuchte, reichte nicht aus, um die gewünschte politische Wirkung in der nichtjüdischen Welt hervorzubringen.. Obwohl der Jude im allgemeinen äußerlich und innerlich auf seine Sonderheit in höherem Maße festgelegt ist, als vielen Juden lieb war, ging man doch den Weg der Eingliederung in gewisse politische Parteien, denen man sich als Parteigenosse und nicht als Jude anschloß.

Das Ergebnis lag schon vor dem letzten Regierungswechsel, ja in Wahrheit schon vor vielen Jahren klar zutage. Die liberalen Parteien haben zu existieren aufgehört. In der Sozialdemokratie wird kaum mehr ein Jude heute als Repräsentant der Partei in führender Stellung herausgestellt, und die jüdischen Mitglieder haben sicherlich in letzter Zeit oftmals die Problematik ihrer Mitgliedschaft in der Partei empfunden.

Als Juden sich dem Zentrum anschlossen, verließen sie in Wahrheit schon die vertraute Linie des Einsseinwollens mit der Partei, der sie ihre Interessen anvertrauten. Bedarf es einer weiteren Darlegung für die Erhärtung der Behauptung, daß die Politik der restlosen Eingliederung in das politische Leben der Umwelt sich als unmöglich herausgestellt hat? Diejenigen Teile der jüdischen Jugend, die heute im Anschluß an die kommunistische Welt die Lösung ihrer Judenfrage durch Untergang des Judentums zu finden hoffen, setzen im Grunde nur fort, was ihre Väter im Anschluß an den Liberalismus politisch erfolglos, für das jüdische Assimilantentum aber mit bedauerlich großem Ergebnis versucht haben.

Es bleibt den Juden nichts anderes übrig, als Juden zu sein und der nichtjüdischen Welt deutlich distanziert gegenüberzutreten. Das bedeutet nicht, daß Juden an den Vorgängen des allgemeinen Lebens weniger interessiert sind als früher, es bedeutet nur, daß sie an ihnen vor allem als Juden interessiert sind. Mit verstecktem Judentum, mit Renegatentum, mit einer gewollten nichtjüdischen Form des Auftretens kann der Jude seinen Platz in dieser Welt nicht mehr finden. Die Welt hat genug von dem „getarnten“ Judentum, das sie fürchtet, weil es proteusähnlich in zahlreichen Verwandlungen auftritt und sich zum Sachwalter von Richtungen und Bewegungen der nichtjüdischen Welt macht, die es zwar geistig beherrscht, die es aber legitimerweise niemals repräsentieren kann. Und wir Juden können es nicht ertragen, daß wir dauernd für Elemente verantwortlich gemacht werden, mit denen wir nichts zu tun haben, denen Judentum kein Wert ist, die erst im Falle eines Konfliktes von der nichtjüdischen Öffentlichkeit gleichsam zu Juden ernannt werden. Wir sind es müde, unsere Solidarität nur im Schlechten zu bewahren: wir brauchen sie heute in einem neuen, in dem uralten positiven Sinne.

Wenn das jüdische Volk unserer Tage an den Ablauf seiner Geschichte denkt, von den Tagen der Vorzeit bis auf diesen Tag, so kann es sehen, daß von Geschlecht zu Geschlecht Feinde aufstanden, um es zu vernichten. Aber was auch den Juden zustieß, wie sehr man sie erniedrigte, quälte und mit Gewalt von der Erde zu vertilgen versuchte, sie behielten die Kraft zu einem stolzen und freien Leben inmitten aller Verknechtung. Was wir heute erleben und was uns bedroht, ist sicherlich nicht schlimmer als das, was das jüdische Volk in früheren Zeiten durchgemacht hat. Nur einen Unterschied gibt es: Die Juden sind anders geworden. Jene Juden haben niemals ihre Hilfe mit irgendwelchen Welt- und Zeitströmungen verbunden, sie hatten ihre eigenen Erinnerungen und behielten deshalb auch die nur ihnen eigentümlichen Hoffnungen als unverlierbaren Schatz. Die Folgerung liegt nahe: Die Juden unserer Tage müssen wieder wissen, wie es um sie bestellt ist und aus diesem Wissen muß ihnen die Kraft nicht nur zum Ertragen von Schicksalsschlägen, vielmehr zum Aufbau des eigenen Lebens kommen.

In demselben Jahr, in dem der Haß gegen uns immer furchtbarere Formen annimmt, zeigte sich Erez Israel in neuer, ungekannter Pracht und Schönheit. Wir alle nehmen teil an dieser Erneuerung jüdischen Lebens in unserem Lande. Nicht nur als Betrachtende, sondern als unmittelbar Beteiligte. Wer Zionist ist, in dessen Seele lebt ein von keinem Feinde zu zerstörendes Gut: er sieht vor sich die Zukunft seines Volkes; er weiß, warum er Jude ist und während andere ihn bedrohen, gestaltet er für Kinder und Enkel das neue Leben, in dem es für alle Menschen, auch für die Nichtjuden, die Freiheit der Entwicklung ihrer Art geben wird.

Niemand weiß, was die nächste Zukunft bringen wird. Aber in jedem Fall werden wir mehr noch als bisher von Gewalten abhängig sein, deren Art und Wesen wir nicht zu beeinflussen vermögen. Wir werden alles tun, um uns in dieser Weit zu behaupten, wir kämpfen um unsere Gleichberechtigung und wehren uns gegen alle Beeinträchtigungen, die unter dem Deckmantel des nationalen Interesses vielfach als brutaler Konkurrenzkampf erfolgen. Mit den Mitteln der sogenannten Aufklärung, mit den Methoden eines abgelebten Abwehrkampfes, der nichts von dem hat verhindern können, was seit Jahrzehnten in immer stärkerem Maße eingetreten ist, kann nichts ausgerichtet werden. Was wir hier tun, tun wir mit offenem Visier. Als deutsche Bürger, die sich ihrer jüdischen Eigenart voll bewußt sind, die als Juden ihre Gegenwart und Zukunft gestalten wollen, treten wir in diese Welt mit unseren Forderungen ein.

Aber nur der wird die Möglichkeit für sein jüdisches Leben auch in den Ländern der Galuth finden, der sich gemeinsam mit allen Teilen des jüdischen Volkes dazu vorbereitet, die große Entscheidung in der Judenfrage herbeizuführen. Das beste, was wir den Juden zu geben vermögen, ist die zionistische Idee, die das jüdische Volk zu aufbauender Tat befähigt hat. Unsere oberste Pflicht und unser schönstes Recht ist die Werbung für den Zionismus. Die Zionistische Organisation ruft heute alle Juden auf zu sinnvoller Vereinigung für die eine Aufgabe, von deren Verwirklichung Zukunft und Glück des jüdischen Volkes und des Judentums abhängt.