„Dann gehen Sie doch nach Israel…“

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Coronaleugner, Antisemitismus und Shoah-Relativierungen – zwei Beispiele

Von Jennifer Marken

Auf nahezu jeder Coronaleugner-Kundgebung sowie in den entsprechenden Telegramm-Gruppen der Leugnerszene finden sich unzählige Holocaust-Relativierungen. Dies ist in zahlreichen journalistischen Beiträgen inzwischen dargestellt worden, verbunden mit dem demokratischen Impuls, dies nicht weiterhin schweigend hinzunehmen.

Simone Rafael etwa schrieb auf Belltower hierzu einleitend: „Der Holocaust-Gedenktag ist ein guter Anlass, um sich noch einmal vor Augen zu führen, warum es keine gute Idee ist, heutige Ereignisse in der Corona-Pandemie mit dem Holocaust oder der Zeit des Nationalsozialismus gleichzusetzen. Denn das ist in Coronaleugner- und Impfgegner-Milieus in Deutschland und Europa weiterhin sehr beliebt.“

Drei weitere Beiträge seien erwähnt, in denen die Instrumentalisierung und Relativierung der Shoah durch rechte und „linke“ Querdenker analysiert worden sind: Belltower 6/2020: Mit Antisemitismus und NS-Vergleichen gegen die neue Weltordnung, Belltower 8/2022: NS-Verharmlosung und Shoah-Relativierungen durch Querdenker, sowie haGalil 19.2.2023.

 

 

Der Psychoanalytiker und Publizist Hans-Jürgen Wirth (2022) hat kürzlich, auf psychoanalytischer Basis, die bemerkenswerte Studie Gefühle machen Politik. Populismus, Ressentiments und die Chancen der Verletzlichkeit. Gießen: Psychosozial-Verlag vorgelegt, in welcher er, mit zahlreichen Detailstudien auch zur seelischen Funktion von Coronaleugnungen, Ressentiments und NS-Relativierungen, psychoanalytisch und gesellschaftstheoretisch analysiert. Diese Erkenntnisse verbindet er in weiteren Kapiteln auch mit einer psychoanalytischen Analyse der AfD sowie in einer Einzelfallstudie mit einer Analyse des AfD-Politikers Alexander Gauland (Brandstifter Alexander Gauland: Ressentiment, Feindseligkeit und Biederkeit, S. 68-78).

Sein Buchkapitel „Psychodynamik der Impfskepsis“ (Wirth 2022, S. 127-132) leitet Wirth mit der Bemerkung ein:
„Querdenker*innen und Verschwörungsgläubige haben eine misstrauische bis paranoide Weltsicht. Sie stellen zwar eine sehr kleine Minderheit dar, beeinflussen den öffentlichen Diskurs aber in erheblichem Maße, indem sie das Klima des Misstrauens und eine grundsätzlich staatsfeindliche Stimmung befördern. Misstrauisch-paranoide Stimmungen sind enorm ansteckend und können sich massenpsychologisch schnell ausbreiten.“ Zwar würden nicht in allen Fällen die teils abstrusen Auffassungen der Querdenker geteilt. Dennoch würde der Kern solcher Verschwörungsvorstellungen „auch in weiten Kreisen Zustimmung“ finden (ebd.). Und wenig später stellt Hans-Jürgen Wirth (2022, S. 132) fest: „Ressentiments und Verschwörungstheorien existieren nicht nur im rechten, sondern auch im linken Spektrum bzw. sogar milieuübergreifend in der gesamten Gesellschaft.“

Regelmäßig und geradezu zwanghaft seien solche Verschwörungswelterklärungen auch mit antisemitischen Versatzstücken sowie Holocaustrelativierungen verbunden.

Hierzu zwei aktuelle Beispiele.

Köln:  „Ein gewisser Prozentsatz von Verrückten ist ja noch in Ordnung…“

Dies ist eine Geschichte, die ich selbst zusammen mit einem Freund erlebt habe. Wir, ein älterer jüdischer Freund und ich, waren wieder einmal zu einem kleinen Spaziergang in seinem Stadtteil unterwegs. Mein Freund ist gut 80, sieht altersbedingt nicht mehr so gut.

In einem edlen Neubaugebiet sowie einem angrenzenden Park ist häufig eine ausgewiesene Coronaleugnerin unterwegs. Ausgewiesen will heißen: Sie trägt seit Ausbruch von Corona fast immer großformatige Plakate an ihrem Körper, selbst bei einem Spaziergang am Wochenende entlang einem schönen Weiher. Sie setzt ihren Körper also dazu ein, selbst am Wochenende Träger einer Mission zu sein, der niemand optisch zu entgehen vermag. Ihr Sendungsbewusstsein ist imposant.

Sowohl ich alleine als auch besagter Freund waren ihr schon häufig begegnet. Sie, vermutlich um die 60, wohnt in einer Wohnung in diesem teuren Neubaugebiet, sie muss also eher wohlhabend sein. Ihr Alter und ihr Wohnort sprechen für eine gewisse „Bildung“. Es dürfte ihr gewiss an nichts mangeln, materiell. Und doch ist ihr missionarischer Eifer, verstärkt durch die Coronakrise, auch nach über zwei Jahren „Coronakrise“ erkennbar ungebrochen. Selbst die überdimensional großen Fenster ihrer Wohnung, von den Fußwegen des Neubaugebietes aus unübersehbar, hat sie komplett mit selbstverfassten „coronakritischen“ und verschwörungstheoretischen Parolen versehen. Auch ein Anti-AKW-Aufkleber darf nicht fehlen, als Indiz für ihre früher „linke“ Sozialisation. Ich wage eine Prognose: Vor 30 Jahren hat sie einmal die Grünen gewählt. Auch in ihren Fenster-Parolen weitet sie ihre Leugnung der Gefahr durch Corona noch durch vorgeblich „linke“, „weltpolitische“  Versatzstücke aus: „Es gibt keine Corona-Krise, wir haben eine Krise in Politik und Medien“, heißt es dort.

„Politik“ und „Medien“ seien also mitverantwortlich für den Virus und „die Krise“. Das Diktum von der „Lügenpresse“, wie sie AfD und winzige Gruppierungen, aber auch sich ehemals als „links“ stilisierende Querfrontprotagonisten verbreiten, ist nicht weit. Hans-Jürgen Wirth hat hierzu in seiner Studie „Gefühle machen Politik“ (2022) vielfältige Deutungen und empirische Belege (u.a. Kap. S. 27-79, S. 127-132, S. 191-239, 286-289) aufgeführt. Lesenswert sind hierbei auch seine Analysen und Ausführungen über die Entwicklung der Grünen (u.a. Kap. 6 und 8 von „Gefühle machen Politik“).

Ich wage eine weitere Prognose: Die Dame liest regelmäßig die querfrontigen „Nachdenkseiten“ sowie „Rubikon“.

Viele Passanten, denen die selbst bei Sonnenschein und am Wochenende gleich mehrere großformatige Plakate tragende Dame bei ihren empörungsstarken Spaziergängen begegnet, sind erkennbar unangenehm berührt. Die Dame im fortgeschrittenen Alter führte ihre Spaziergänge sogar noch zu Zeiten fort, als die Coronabestimmungen bereits weitestgehend aufgehoben waren. Sogar jetzt, wo alle Coronabestimmungen aufgehoben sind, bleibt die Fensterfront weiterhin ihr imaginiertes, wahnhaft anmutendes Kampffeld.

Eines Tages trafen wir die Dame einmal wieder bei einem Spaziergang im Park, bei schönem Wetter. Mein Freund, der u.a. in Shanghai und Israel aufgewachsen und in seinem Stadtteil durch seine Bücher über die NS-Zeit und deren Folgewirkungen zumindest nicht ganz unbekannt ist, war inzwischen doch etwas aufgebracht. Ich hatte ihm bereits früher einige der mit NS-Bezügen gefüllten Parolen vorgelesen, die die Dame sowohl vor ihrem Bauch als auch vor ihrem Rücken trug: „Ermächtigungsgesetz 1933 – Infektionsschutzgesetz 2021“ hieß es dort u.a. wie auch: „Ausgangssperre = Kriegsrecht.“

Mein Anfang der 1940er Jahre als jüdisches Flüchtlingskind in Shanghai geborener Freund, dessen Ermordung bereits zum Zeitpunkt seiner Geburt durch die Nationalsozialisten auch in Shanghai minutiös geplant wurde, fühlte sich nun doch von der impertinenten Corona-Dame und ihren permanenten öffentlichen, straffreien NS-Relativierungen bedrängt.

Er sei in seinem langen Leben ja „schon viel Verrücktheit“ begegnet, sagte der 80-Jährige ihr, als er an ihr vorbeigehen musste. Er hatte bereits als Kleinkind im Exil Antisemitismus erlebt, der Großteil seiner Familie war verfolgungsbedingt verstorben bzw. war ermordet worden. Als Jude sei er nun nicht mehr gewillt, fortdauernd kommentarlos NS-Relativierungen und NS-Leugnungen hinzunehmen, sagte er ihr beim Vorbeigehen an ihren impertinenten Plakaten.

Ihre Körperhaltung sprach dafür, dass sie jetzt erst richtig loslegen würde. „Wissen Sie“, rief der jüdische, in Israel aufgewachsene Mann der Dauerdemonstrantin über die Straße hinweg noch zu, „ich fühle mich als Jude durch Ihren antisemitischen Kram belästigt! Es gibt ja in jeder Gesellschaft einen gewissen Prozentsatz von Verrückten, aber diese Holocaustrelativierungen gehen zu weit!“

Die Corona-Dame wirkte für einen kurzen Moment doch etwas „unangenehm berührt“. Vielleicht kannte sie meinen hier seit einem halben Jahrhundert lebenden jüdischen Freund ja auch ein wenig. Zumindest waren dessen familienbiografischen Bücher auch in der Lokalpresse immer mal wieder portraitiert worden. Dann fasste sie sich wieder und schmetterte ihm voller Zorn und Verachtung entgegen: „Dann gehen Sie doch nach Israel!“

86 Jahre zuvor, im Februar 1934, war in dieser Stadt ein antisemitischer Karnevalwagen unter frenetischem Beifall der fröhlichen Kölner Karnevalsjecken durch Kölns Straßen gefahren: Auf dem Karnevalwagen ließen sich als orthodoxe Juden verkleidete Jecken feiern.

„Die letzten ziehen ab“ hieß es auf dem Karnevalwagen mit überdimensionalen Lettern. Und: „Mer mache nur e kleines Ausflügche nach Lichtenstein und Jaffa“.

Rathenow 2023: Impfgegner und Antisemitismus

Eine Bekannte aus Berlin war zu einem Besuch im brandenburgischen Rathenow. Sie machte eine sie zutiefst empörende Begegnung mit einer vulgären Form von Antisemitismus und Geschichtsrevisionismus. Besonders empörte sie, dass niemand auf diese Szenen reagierte. Deshalb veröffentlichte sie ihre Erlebnisse auf Facebook, um das Erlebte zumindest etwas innerlich abzumildern und öffentlich zu machen:

„Am 13.03 2023 um 16:30 Uhr betrat ich den Platz vor dem Kulturhaus in Rathenow im Bundesland Brandenburg. Auf ihm hatte sich eine Gruppe per Zelt und Stelltafeln schon seit ungefähr neun Tagen niedergelassen. Von weitem wirkte sie auf ihren Schildern wie Impfgegner. In ihrem Zelt hingen auf einer Wäscheleine bebilderte Zitate mit Juden, die dem antisemitischen Machwerk von Henry Ford „Der Internationale Jude“ von 1921 entnommen waren. Theodor Fritsch, ein deutscher Verehrer Fords, war der Verfasser des „Antisemiten-Katechismus“ in Deutschland und benutzte Fords Suada als Zitatenschatz“, schreibt sie.

Theodor Fritschs (1852-1933) war ein deutscher völkisch-antisemitischer Publizist, Verleger und Politiker, der heute als ein geistiger Wegbereites des Nationalsozialismus gilt. Sein „Antisemiten Katechismus“ gilt als ein frühes antisemitisches Machwerk: Der vollständige Titel dieser antisemitischen Kampfschrift, die der Shoah den Weg bereitete, lautete: Antisemiten-Katechismus: eine Zusammenstellung des wichtigsten Materials zum Verständnis der Judenfrage“. Die Schrift war 1888 in der siebten Auflage als „Freimann-Katalog“ erschienen; 1893 wurde es in Leipzig in der wohl 25.ten Auflage vorgelegt.

Die geschockte Chronistin führt weiter aus:

„Fritschs Verschwörungslegenden wurde 1924 von Hitler in seinem Buch: „Mein Kampf“ übernommen. Juden müssen also in Rathenow die schlimmsten gegen sie gerichteten Verleumdungen zitieren, die ihnen den Weg in die Gaskammern ebneten. In 10 Meter Entfernung stand ein Polizeiwagen. Ich fragte den Polizisten, ungefähr 35 Jahre alt, ein freundlicher junger Mensch, ob er wisse, was da im Zelt aufgehängt sei. Er teilte mir mit, dass das von ihm festgestellt worden sei und dass es die Meinungsfreiheit abdecke. Ich machte ihn darauf aufmerksam, dass dies finsterster Antisemitismus und gesetzlich verboten sei und erinnerte ihn daran, dass er doch Vertreter des Gesetzes sei. Erst dachte ich, dass der Polizeiwagen und er zur Entourage der Veranstalter gehöre, aber er war ein richtiger Polizist und hieß An…. Ich war fassungslos über soviel Unkenntnis und schlechte Polizisten-Ausbildung. Ich bitte die Journalisten unter Euch sich um diesen Skandal zu kümmern. Hierin gehört Aufklärung in die Polizistenausbildung und auch für die Bürger Rathenows. Im KZ Buchenwald hingen zu DDR-Zeiten die Fahnen der Opfer, nur die jüdische Fahne fehlte. In Rathenow scheint sie bis heute zu fehlen.“

Inzwischen, so ist zu hören, soll der Staatsschutz aktiv geworden sein.