„Religion ist nun ein zentraler Inhalt der Lehrbücher“

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Ein Gespräch mit dem Nahost-Experten Dr. Hay Eytan Cohen Yanarocak über die Beziehungen zwischen Israel und der Türkei und seiner Forschung über Indoktrinierung und Sozialisierung des Atatürkismus im türkischen Bildungssystem und in türkischen Schulbüchern

Nach vielen Jahren der diplomatischen Kälte pochen Israel und die Türkei nun auf eine Normalisierung ihrer diplomatischen Beziehungen. Die einst engen Bündnispartner blicken auf ein Jahrzehnt der politischen Spannungen, das nun mit der gegenseitigen Bestellung von Botschaftern und einer engeren Zusammenarbeit ein Ende finden soll. Der Annäherungsprozess beider Länder wurde von gegenseitigen Besuchen der Außenminister begleitet und fand seinen Höhepunkt in einem Telefonat zwischen dem designierten Ministerpräsidenten Netanjahu und dem türkischen Präsidenten Erdogan. Beide Länder feiern die Wiederaufnahme der Beziehungen, zugleich betont der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu, die Türkei werde sich weiterhin für die Rechte Palästinas, Jerusalems und des Gazastreifens einsetzen.

Dr. Hay Eytan Cohen Yanarocak erforscht an der Tel Aviv Universität die bilateralen Beziehungen beider Länder. Der 1984 in Istanbul geborene sephardische Jude setzte seine in der Türkei begonnenen Studien in Israel fort und etablierte sich dort binnen kurzer Zeit als Nahost-Experte. In seiner vor kurzem veröffentlichten Promotion “The Indoctrination and Socialization of Atatürkism in Turkish Education System and the School Textbooks” (“Die Indoktrinierung und Sozialisierung des Atatürkismus im türkischen Bildungssystem und in türkischen Schulbüchern”) analysiert er den Einfluss bisheriger türkischer Regierungen auf die Lehrinhalte von türkischen Schulbüchern.

Interview: Ilgin Seren Evisen

Ihr aktuelles Buch “Die Evolution türkischer Schulbücher von Atatürk bis Erdogan” ist eine Zusammenfassung ihrer Promotion. Sie zeigen darin die Veränderungen der offiziellen türkischen Geschichtsschreibung. Sie gehen davon aus, dass jede neue Regierungskoalition in der türkischen Republiksgeschichte andere Werte und historische Inhalte postuliert hat.

Genau. Ich erkläre in meiner Promotion, wie das erste Geschichtsbuch der neu gegründeten Republik und die Bücher zur Zeit Erdogans Geschichtskenntnisse vermitteln. Ich analysiere, wie Schülern in der Türkei Wissen über Religion, Kultur, Moral, nationale und international Geschichte vermittelt wird.

Ich habe seit der Gründung der türkischen Republik fünf Epochen bzw. große Veränderungsphasen in den türkischen Schulbüchern festgestellt: Die erste beginnt mit der ersten Veröffentlichung türkischer Schulbücher 1924 bis 1950, damals verlor die Volkspartei (CHP – Cumhuriyet Halk partisi) die Regierungsmehrheit. Die zweite Epoche, in der Veränderungen in türkischen Schulbüchern stattfinden, ist die Regierungszeit der demokratischen Partei (Demokrat Parti) 1950-1960. Auf diese Epoche folgt die Zeit der Militärputsches und somit die Zeit der Regierungen, die unter der Vormundschaft des Militärs stehen, 1960-1980. Die vorletzte Epoche beginnt dann 1980 mit einem weiteren Putsch und der Zeit der wechselnden Regierungskoalitionen. Die letzte Epoche bildet die Regierungszeit der AKP.

Inwiefern unterscheiden sich die Kindern und Jugendlichen vermittelten Lehrinhalte in diesen Epochen?

In jeder dieser Epochen gibt es bemerkenswerte Unterschiede. Auffallend ist, dass in der ersten Zeit der Republik laufend Aktualisierungen der Geschichtsinhalte stattfanden. Die Lehrbücher wurden häufig dem sich ändernden historischen Narrativ der Regierung angepasst. Es war eine neu gegründete Republik, die sich eine neue Identität schuf, das zeigen auch die häufigen Wechsel der Lehrinhalte. Nach Atatürks Tod ändert sich die Geschichtserzählung nicht mehr. Ausgangspunkt und Mittelpunkt des historischen Narrativs in türkischen Lehrbüchern sind Atatürks Leben und seine Ideologie, also der Kemalismus. In Lehrbüchern, die nach dem Putsch von 1980 erscheinen, endet die neuere türkische Geschichte mit Atatürks Tod 1938.

Führt die AKP Regierung nach ihrer Machtübernahme diesen starken Fokus auf Atatürks Leben und den Kemalismus fort?

Nein, nicht ganz. Wir erleben nun eine neue Geschichtserzählung der Ereignisse nach 1938, was eine an sich eine positive Entwicklung ist, denn viele nationale Dogmen können so überwunden werden. Nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 erleben wir allerdings große Umbrüche. In türkischen Schulbüchern tauchen nun vermehrt positiv besetzte Informationen zum Dschihad, also dem heiligen Krieg, auf. Außerdem verschwinden in vielen Büchern Darwins Evolutionstheorie. 

Das heißt, türkische Schulbücher vermitteln Kindern nun vermehrt religiöse, islamische, Inhalte und rücken ab vom Ideal des Kemalismus?

Genau, den Kindern und Jugendlichen wird eine neue Weltanschauung präsentiert, eine viel mehr auf Religion ausgerichtete. Religion ist nun ein zentraler Inhalt der Lehrbücher. Hier geht es aber nicht nur um die Formierung eines neuen religiösen Bürgers und eine Umschreibung der Geschichte. Auch außenpolitische Positionen bisheriger Regierungskoalitionen werden revidiert. In den aktuellen Schulbüchern gibt es eine verstärkte propalästinensische Sicht auf den Nahost-Konflikt. Der Raum, der früher der Shoah eingeräumt wurde, wird auf zwei drei Sätze begrenzt oder sogar ganz gestrichen.

Können Sie die Beziehungen zwischen Israel und der Türkei historisch einordnen?

Die Türkei war 1949 das erste muslimische Land, das Israel als eigenständigen Staat anerkannte. Dies war für den Staat Israel, der seit seiner Gründung immer wieder Angriffen muslimischer Nachbarstaaten ausgesetzt war, sehr wichtig. Für den jungen Staat bedeutete diplomatische Beziehungen mit einem muslimischen Land, dass derartige diplomatische Beziehungen zukünftig mit allen muslimischen Ländern möglich sein könnten. Dass Israel seitdem mit der Türkei niemals in kriegerische Auseinandersetzungen geraten ist und dass keine Friedensverträge notwendig waren, ist für Israel ebenfalls sehr wichtig. Von Zeit zu Zeit hat die Türkei ihre Beziehungen zu Israel auf Sparflamme gehalten, um muslimische Nachbarstaaten nicht zu verärgern.

In den 90er Jahren, nach den Friedensverhandlungen in Madrid, gab es zwischen der Türkei und Israel eine Art zweiten Frühling. Die Angriffe der PKK führten ebenfalls zu einer starken militärischen Zusammenarbeit beider Staaten. Nachdem die PKK seltener Angriffe verübte und die Türkei sich dem Westen annäherte, bestand auf türkischer Seite weniger Interesse an Israel.

Mit Erdogans Aufstieg verhärteten sich vorhandene politische und ideologische Unterschiede. Im Laufe der Jahre hat man nun auch diese instabile Zeit hinter sich gelassen. Aktuell gibt es eine Annäherung zwischen Israel und der Türkei und hier in Israel sind wir optimistisch.

In der Türkei ist oft die Rede davon, dass die türkisch-israelischen Beziehungen wegen des Nahost-Konflikts stark belastet wurden. Im August sprachen beide Länder davon, Botschafter zu entsenden. Inzwischen stehen auch Netanjahu und Erdogan wieder in einem Austausch. Trotz dieser positiven Entwicklungen sagt der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu, dass die “palästinensische Sache” weiterhin eine wichtige Bedeutung für die Türkei habe. Wie ordnen Sie diese Aussage Cavusoglus ein?

Die türkisch-israelischen Beziehungen hatten sich auch wegen des Konflikts mit den Palästinensern verschlechtert. Seit August 2022 kommunizieren beide Länder jedoch wieder verstärkt miteinander, es finden rege diplomatische Besuche statt und die Präsidenten beider Länder, Erdogan und Netanjahu, haben nach vielen Jahren das erste Mal miteinander geredet.

Niemand erwartet in Israel, dass sich die türkische Sensibilität für die Palästinenser in Luft auflösen wird, weil sich die Türkei und Israel annähern. An dieser Stelle ist wichtig, dass beide Länder wieder in gesunde diplomatische Beziehungen treten. Konflikte kann es geben. Wichtig ist, dass Auseinanderzungen respektvoll gelöst werden und die Kommunikation sowie die diplomatischen Beziehungen weiterhin existieren und nicht wie in der Vergangenheit abreißen.

Wie wird sich die Normalisierung der Beziehungen auf die Juden in der Türkei auswirken? Meinen Sie, es wird auch in Zukunft bei Konflikten zwischen beiden Ländern dazu kommen, dass Juden der Türkei als “Agenten” Israels gebrandmarkt werden?

Ich hoffe nicht, dass es zu solchen Szenen kommen wird. Allerdings wissen wir alle, wie tief verankert der Antisemitismus inzwischen in der Türkei ist. Auf den Videos des Bombenanschlags vom November in Istanbul sehen Sie, dass der Angreifer auf seiner sehr belebten Straße neben zwei israelitischen Touristen läuft. Eine Zufallsbegegnung auf einer vollen Straße wurde Anlass zu antisemitischen Kampagnen und führte zu antisemitischen Ressentiments in den türkischen Medien. Das ist unbegreiflich.

Antisemitismus Experten sehen in der türkischen Gesellschaft einen tief verankerten Antisemitismus. Glauben Sie, dieser Antisemitismus ist auf die israelisch-palästinensischen Konflikte zurückzuführen?

Das spielt natürlich auch eine große Rolle. Leider nähern sich viele Türken diesem Konflikt religiös an. Aber der beschriebene Antisemitismus hat auch andere Gründe. Menschen, die in ihrem Leben noch nie einem Juden begegnet sind, übernehmen antisemitische Stereotype und verteufeln Juden. Es entstehen klassische antisemitischen Verschwörungstheorien: Die wichtigsten Positionen in Amerika gehören Juden, diese regieren Amerika, die Weltwirtschaft sei in der Hand von Juden usw. Leider glauben viele Menschen in der Türkei an diese Märchen. Der Antisemitismus in der Türkei ist also mehr als religiös begründeter Judenhass, er ist in Form gängiger antisemitischer Stereotype tief in der Gesellschaft verankert.

Bei den Parlamentswahlen im November ging Netanjahu als Sieger hervor. Glauben Sie, die neue Regierung wird die israelisch-türkischen Beziehungen verändern?

Der israelische Staat hat großes Interesse an guten Beziehungen zur Türkei. Erdogan hat Netanjahu zum Wahlsieg gratuliert und somit ebenfalls Interesse an guten Beziehungen bekundet. Daher bin ich optimistisch, es werden bessere Zeiten zwischen beiden Ländern folgen. Türkei, Russland, China und der Iran stärken ihr Bündnis und möchten ihre Zusammenarbeit ausbauen.

Die iranische Regierung erklärt häufig, sie werde Israel vernichten. Wie beeinflusst das Bündnis dieser Länder mit einem Land, das mit der Vernichtung Israels droht, die Zukunft des Landes und die Kräfteverhältnisse im Nahen Osten?

Für Israel sind die ständigen Drohgebärden des Iran sehr gefährlich. Das Mullah-Regime ist aber auch für seine eigene Bevölkerung eine große Gefahr, das sehen wir jetzt gerade. Es wäre aus israelischer Sicht besser, wenn die Türkei nicht mit einem Land wie dem Iran paktiert. Wir Israelis sehen das iranische Volk nicht als Feind an. Wenn ein Regimewechsel stattfindet, wird Israel alles in seiner Macht stehende tun, um die Beziehungen zum Iran zu normalisieren. Diese Entwicklung würde den gesamten Nahen Osten stabilisieren.

Bild oben: Dr. Hay Eytan Cohen Yanarocak, Foto: privat