Oder nur Tod des Nachrichtenmagazins Der Spiegel, verstorben am Doppel-Super Gau?
Von Christian Niemeyer
Vorab, damit der Ausdruck „Doppel-Super-Gau“ die verehrte Leserschaft nicht am Boden festkleben lässt, so dass wir nicht starten und die schöne Aussicht genießen können: Als einfacher Super-Gau (für den Spiegel, aber auch für die Printmedien allgemein) gilt der Ende 2018 aufbrechende Skandal um den Journalisten Claas Relotius (*1985). Details hierzu muss ich hier nicht erzählen. Ein wunderbarer Film von Michael Bully Herbig (Tausend Zeilen, 2022) nach dem Buch von Juan Moreno (2021) gibt hinreichend Aufklärung über die Fälschungstechniken des vormaligen Superstars, auch über Nebenskandale wie die aus dem Umfeld des Spiegel kommenden Anzeige an die Adresse Morenos sowie Spannungen via USA wg. des von dort kommenden Vorwurfs des Anti-Amerikanismus in Relotius‘ Fälschungen. Noch verheerender waren aber die Folgen bei den Neuen Rechten: „Claas Relotius – was für ein „Karnevalsname“, spottete beispielsweise Michael Klonovsky am 19. Dezember 2018[1] in seinen Acta diurna. In irgendwie nachvollziehbarer Freude ob dieses gefundenen Fressens vom Hitler-Tagebücher-Format des Stern, diesmal die letzte Ikone des „deutschen Restjournalismus“ betreffend, nämlich den Spiegel resp. dessen Vorzeigejournalisten, den – wie Klonovsky genüsslich auflistete – Träger von „vier Deutschen Reporterpreisen“, zusätzlich geehrt als „CNN-‚Journalist of the Year‘“, ausgezeichnet „mit dem ‚Reemtsma Liberty Award, dem European Press Prize“ sowie landend „auf der Forbes-Liste der ‚30 under 30 – Europe: Media‘“ (Klonovsky 2019: 574) In der Tat: Mehr geht nicht – und weniger nach dem Absturz dieses Seiltänzers auch nicht.
Verantwortlich für diesen Super-Gau auch für alle beteiligten Laudatoren: Ausgerechnet das führende deutsche Nachrichtenmagazin, dessen Qualitätssicherung versagte, so dass es Relotius gelang, eine Fake News nach der anderen ins Blatt zu bringen. Der Identitäre Martin Sellner kommentierte, „dass man Zeitungsartikeln und wissenschaftlichen Studien keinen Glauben schenken dürfe“ (Ebner 2019: 128), den eigentlichen Punkt aber machte Klonovsky, indem er einige der preisgekrönten Relotius-Stories auf die Hörner nahm, darunter die „der letzten Überlebenden der ‚Weißen Rose‘, der 99-jährigen, in South Carolina lebenden Traute Lafrenz“, der Relotius den auf die Chemnitzer Proteste gegen Merkels Migrationspolitik bezogenen Satz in den Mund geschoben hatte: „Deutsche, die streckten auf offener Straße den rechten Arm zum Hitlergruß, wie früher“ – eine Fake News jenes offenbar ebenso skrupellosen wie überehrgeizigen Journalisten. Den Klonovsky denn auch ohne Probleme „den kanzleramtsabgesegneten Märchen bzw. Lügen über ‚Hetzjagden‘ im fernen Sachsen“ subsumieren und als Zeichen lesbar machen [konnte] für das „Willkommensdelirium, welches seit Herbst 2015 gewisse tonangebende Milieus dieses Landes befallen und bis zur Unzurechnungsfähigkeit verblödet hat.“ (Klonovsky 2019: 575) Wie vom neu-rechten Ideologen Michael Esders (2020: 56 ff.) wohlgefällig registriert: Der Fall Relotius steht nicht lediglich für einen Super-Gau für den Spiegel. Nein, er steht, zumal in der Aufarbeitung durch Klonovsky, für einen Super-Gau vor allem für alle Anti-AfDler, die gegen deren Internet-Power vom Typ „Infodemie“ (Ebner 2020: 185) gerne die seriöse Macht des Qualitätsjournalismus stark machen würden. Und die nun, ab Ende 2018 sowie, Christides sei Dank, ab Ende 2022 erneut mehr oder weniger hilflos mit ansehen mussten, wie sich im Sog von gerade im Jugendbereich besonders erfolgreichen Web 2.0 Formaten und „Mitmach-Angeboten“ immer neue Angriffspunkte boten für rechtspopulistische Agitation. (vgl. Langebach 2016)
Korsettierend dazu bildete sich ein mit Printmedien im Widerstreit liegendes Format selbsternannter Journalisten aus, für welches das „Nicht-Lügenpresse-Zertifikat“ als grundlegendes reklamiert wird, gleichsam als Teil einer Parallelwelt und mit verheerenden Folgen für den öffentlichen Diskurs (der unter Gesinnungsgleichen ohnehin nicht wirklich Sinn macht). Schlimmer: Das sich allmählich herausbildende neu-rechte Weltbild wickelte sich, beschleunigt durch den Relotius-Skandal, zusehends in den Kokon einer Peergroup ein. Nach dem Muster einer auf Dauer gestellten Selbstimmunisierung. Entsprechend kann sich das rechtspopulistisch unterfütterte Ressentiment à la Thilo Sarrazin & Co. ungestört entfalten, zumal in für derlei prädisponierten Leserkreisen als Virus eigener Art, ohne hinreichenden, etwa qua Bildung, ausgebauten Immunschutz und dies ganz nach Art des Hauses: zunächst namens Kopp Verlag. Später in Gestalt von neu-rechten Verlagen vom Typ „Edition Antaios“. Seitdem weiß der Eingeweihte sich wieder verlagsmäßig geborgen. Sieht sich hinreichend angeleitet zu eigenständigen Recherchen am durch die wüst sich mehrenden Blogs immer spannender werdenden PC, entsteigt am Ende des Tages erschöpft und frisch empört, wie unser andernorts[2] etwas genauer betrachtete Bernd Sydow, dem brütend-heißen Sumpf seiner von Bangigkeit, aber auch von Vorfreude geprägten Lektüre von Geschichten „aus dem Netz“. Weitergegeben von einer gleichsinnigen Netz-Community, deren bevorzugtes Interesse den allerneuesten Streichen der vergewaltigend durch Deutschland ziehenden Banden vom „nordafrikanischen Ausbreitungstyps“ (Björn Höcke). Und gegen dieses Virus, genährt durch Voyeurismus und von der Sehnsucht nach einem Ausweg aus der Langeweile der Alltäglichkeit, ist offenbar kein Kraut gewachsen. Mit einer auch für Deutschland sich abzeichnenden Pointe, die der US-Historiker Timother Snyder in KW 4/2021 wie folgt auf den Punkt brachte:
„Die Präsidentschaft Trumps war das Ergebnis einer Medienwelt, in der sich Fakten auflösen: Sein Aufstieg zeigt, wohin es führt, wenn seriöser Journalismus – gerade auf lokaler Ebene – zugrunde geht und durch soziale Medien ersetzt wird.“ (Spiegel Nr. 4/2021: 74)
„Relotius-Reloaded“ nennt sich seitdem ein in der neu-rechten Netzgemeinde sehr beliebtes Spiel vom Typ „Schiffe versenken“. Ein vermeintlicher Volltreffer gelang im März 2019 in Gestalt des preisgekrönten Journalisten Dirk Gieselmann (Jg. 1978), der für SZ, Spiegel und Zeit geschrieben hatte. David Berger vom neu-rechten Online-Magazin philosophia perennis konnte sich jedenfalls kaum halten vor Begeisterung ob des Fundes von „Schludrigkeiten und Unsauberkeiten“ in einem Drittel von dreißig Gieselmann-Storys, darunter Fehler, die „offenbar die Dramaturgie der Beiträge unterstützen sollten“. Nein, höhnte Berger über den Rowohlt-Verlag, der 2014 ein Buch des Fußballexperten (11 Freunde) verlegt hatte, das sei keine „neue journalistische Form“, Comedy-Journalismus geheißen – das sei „linke Lügenpresse.“[3] Dass das letztgenannte Urteil und der Vergleich mit dem Fall Relotius absurd ist, hat damals schon Peter Weissenburger von der taz mit guten Argumenten dargetan.[4] Mein Zusatz als Glossenfan geht in Richtung Rowohlt: Gieselmanns ‚Erfindung‘ ist eine aus Unwissenheit in Sachen von Nietzsches Idee einer „fröhlichen Wissenschaft“ geborene.
Aber hier geht es natürlich nicht um mich, sondern um die Sache. Und in selbiger ist zunächst einmal zu konstatieren, dass es an der Spiele-Front in der Folge recht ruhig blieb – bis zum 30. August 2022, bis zu Elena Panagiotidis‘ Headline in der NZZ: Wie ein „Spiegel“-Reporter den Zorn der griechischen Regierung auf sich zog.[5] Hintergrund dieses Zorns: Offenkundige Ungereimtheiten zu Lasten Griechenlands in einer Spiegel-Story von Giorgos Christides (Jg. 1976), wie erst drei Monate später deutlich wurde, als Michael Hanfeld von der FAZ die Sache in die Hand nahm mit einem Faktencheck bezogen auf folgenden Satz aus jener Story:
„Maria hatte einen starken Charakter, war voller Träume, sagen ihre Eltern. Sie liebte Comics und wollte ein Fernsehstar werden. Nun ist Maria tot. Sie ist Anfang August an Europas Außengrenze gestoben, weil ihr griechische Behörden jede Hilfe versagten. Sie wurde gerade einmal fünf Jahr alt.“
So konnte man es auf spiegel.de bis zum 8. November lesen, ehe der Beitrag gelöscht wurde. Weil es „Zweifel an der bisherigen Schilderung der damaligen Geschehnisse“ gab, die sich „zwischen Mitte Juli und Mitte August auf einer kleinen Insel mitten im griechisch-türkischen Grenzfluss Evros“ abgespielt haben sollen. Geschehnisse, die damit endeten, dass Maria infolge ausbleibender Hilfe „an einem Skorpionbiss“ starb. Inzwischen freilich, so Hanfeld weiter, gäbe es den Verdacht, die Flüchtlinge hätten „in ihrer Not den Tod des Mädchens frei erfunden“; und der Spiegel-Autor Christides, wohl als Ärger über das harsche Grenzregime seiner Landsleute, habe ein wenig geflunkert. Und beispielsweise übersehen (wollen?), dass die fragliche Insel zur Türkei gehört. Nicht zu vergessen: Sich bei seinem Besuch des Flüchtlingsgefängnisses „als vermeintlicher Übersetzer“ eingeschlichen. Aber, so Hanfeld abschließend, der Spiegel sei ja inzwischen an der Sache dran etc. pp.[6], was so klang wie: „Don’t worry, Baby!“
Falsch gedacht oder gehofft, wohl in Unkenntnis des seit dreieinhalb Jahren bei den Neuen Rechten beliebten Spiels „Relotius-Reloaded“. Und so überrascht denn auch nicht, dass noch am nämlichen Tag (24. November) Junge Freiheit sowie exxpress.at Alarm schlugen. Die Neu-Rechten aus der ‚Ostmark‘ (so ein früherer Name) hatten, wenigstens doch zeitlich, die Nase vorn: Um 7.37 am Donnerstagmorgen, einem ganz normalen Donnerstagmorgen mit der seit neun Monaten fast täglichen tödlichen Dosis für die Ukraine, wie direkt abgefeuert wirkend aus Putins unergründlichen Psychopathen-Hirn, titelte dieses „alternative“ Online-Medium „für Selberdenker“:
Nächster Relotius-Skandal beim „Spiegel“: Totes Flüchtlingsmädchen nur erfunden?
Ab 10:47 waren die „Selberdenker“ dran. „Max“ um 10:47 vorneweg:
„So ist die Masse der linken Journalisten. Sie schrecken vor keiner Lüge zurück!“
Ähnlich um 13:24 „ichweissAlles“:
„Ich habe den Spiegel Artikel NICHT gelesen […]. Aber eines fällt mir sofort auf: Der Name des Mädchens… Klar doch ein irakisches oder anderes arabisches Mädchen mit dem Namen Maria. Wohl dämlicherer Versuch um auf die Tränendrüsen der Leser zu drücken gibt es wohl nicht mehr.“
Ganz in diesem Stil ging dieser „Journalismus von unten“ weiter unter der Verantwortung von Chefredakteur Richard Schmitt[7] und begleitet von Andreas Tögel, Daniela Holzinger & Bernhard Heinzlmaier, bis hin zum Kommentator „Habanero“ am 25. November, 6:32, radebrechend:
„was ist aus einem gutem Journalismus geworden? Übrig ist ein linkes Schmierblatt übelster Sorte. Dreht den Schmarrn endlich ab!“[8]
Gute Idee: Ich drehte diesen „Schmarrn“ ab – und den aus Berlin mit der etwas gediegeneren Leserschaft Dieter Steins (*1967) unter dem Titel Junge Freiheit auf. Wo „fh“ – nicht verzeichnet im Impressum – am 24. November unter der Headline Relotius reloaded? mit dem Verdacht aufmachte, der Spiegel habe die ihm gleich nach Erscheinen Anfang September vom griechischen Migrationsminister übermittelten Bedenken gegen jenen Bericht zunächst aussitzen wollen.[9] „K. Twiel“ als Kommentator beurteilte die Sache um 9:44 überraschend gnädig:
„Aber sie hatten es gut gemeint. Es hätte so sein können, und das genügt.“
Ein gewisser „ludex“ versucht sich um 10:27 um ein wenig Aufklärung für derlei Nachsicht, Aufklärung der etwas speziellen Art: Der Spiegel sei „doch in bester Gesellschaft“, wenn man bedenke, dass auch NS-Opfer ihr Leiden oft nur erfunden hätten. „K. Twiel“ meldet um 14:47, er habe verstanden – um Geschichten beizusteuern zu Pseudologen wie Karl May oder Pseudoerinnerungen eines angeblich jüdischen Kindes, das „in einem KZ in Riga“ gewesen sein will. Um daran Forderungen nach Einreisverweigerungen zu knüpfen nach dem Motto: Jeder Neubürger aus Afrika werde den im Westen ohnehin schon tobenden Kampf um den höheren Opferstatus anfeuern. Also bitte draußen bleiben. Ich übersetze mir diesen Schmarrn in die Sprache des Neo-Nazi-Flügels im AfD-nahen Think Tank in Schnellroda sowie Graz[10] – und dechiffriere sie als Variante zu dem dort gebräuchlichen Gedanken, den auf den Deutschen seit 1945 lastenden Schuldkult nicht nur als solchen, also als Schuld dieser Generation, abzuweisen, sondern schon von der Empirie her aus der Welt zu schaffen: Es gibt keine Schuld, denn alles Leiden ist bloß Pseudoerinnerung, forciert durch die Hoffnung auf – so noch- und letztmals „K. Twiel“ – „Krankheitsgewinn“. Auschwitz als Gerücht?! Widerlich!
Auf der Suche nach Rettung aus diesem Sumpf und den in ihm hausenden namenlosen Krokodilen suchte ich mir einen theoretischen Reim zu machen auf das bisher Dargestellte. Erstens und nicht wirklich neu:[11] Wir haben es offenbar mit einer Parallelwelt zu tun: jener der online abgestellten Irren (die es allerdings nicht nur in Österreich gibt, sondern auch in Deutschland, mit Putin [& Trump] als Idiot-Idolen); und jener der im Printbereich angesiedelten Irrenden, Überehrgeizigen, Menschlich-Allzumenschlichen – nicht nur in Deutschland gelegen und jedenfalls, so hoffe ich doch, mit Glasnost & Perestroika als Idolen in ihren Herzen. Eben deswegen ist – zweitens – ein Vorschlag wie der von Oliver Maksan von der NZZ, jetzt endlich „das weltanschauliche Umfeld“ auszuleuchten, das einen Lügner wie Relotius und jetzt Christides tragen half[12], so polizeistaatlich und falsch gedacht wie nur irgendetwas. Im Vergleich zu folgender Analyse, drittens und um den Begriff „weltanschauliches Umfeld“ zu entdramatisieren: Ein offenbar sehr empfindsamer Journalist namens Christides glaubte, er könne es ja der besseren Durchsetzung seiner Sicht auf die Welt noch einmal mit Erzählweisen wie jenen des Claas Relotius von vor vier Jahren versuchen. Viertens und damit zweiter Fehler: Diese Idee war erfolgreich, weil irgendetwas ganz Schlaues beim Spiegel dies für Okay befand. Womit, fünftens, unweigerlich die Frage auf uns zurollt wie ein Salzfass: Ist es nicht an der Zeit, dass beim Spiegel die nächsten Köpfe rollen, so wie beim einfachen Superau 2018/19 jene von Ullrich Fichtner und Matthias Geiger.
Soweit ich bei Fragen wie diesen hilfreich sein kann – gerne! Vorerst würde ich aber nur sagen: Alles eine Frage des Stils, sorry, ich verbessere: des Schreibstils. Nehmen wir nur einmal den eben präsentierten O-Ton von Christides als Beispiel: So – würde ich jetzt einmal ganz streng sagen – schreibt man im Spiegel nicht, so schreibt man vielleicht in der Bunten oder in der Quick in den 1960ern, in Heftchenromanen am Bahnhofskino, maximal: in Naumburg in den 1880ern, als Nietzsches Schwester zum Spott ihres Bruders Novelleneierchen ausbrütete voller Albernheiten über einen etwas in die Jahre gekommenen Philosophen, der, so die Schwester, bei seinem ganzen cherchez la femme (und dies als Syphilitiker!) übersah, dass die Gute doch so nahe war und auf den Namen (nein: nicht Elisabeth!) Nora lautete. Dies also ist sie, die ganze Lektion aus dem Fall Relotius II? Ja, in einen Goethe entlehnten Lehrsatz für Journalist*innen übersetzt: Dichtung ist an sich okay, aber nur als „Zuckerstückli“ zwecks Verabreichung der Wahrheit. Und unter dem Vorbehalt, dass diese Dichtung maximal ironisch sein darf und frei von Kitsch sein muss und eine Anschauung zu geben hat zum Begriff. So wie hier also, in dem Buch[13] zu diesem Stück.
Ist noch was, Doc? Ja, denn er oben erwähnte Ministerbrief von Ende August 2022 soll laut Medieninsider[14] direkt an Spiegel-Chefredakteur Steffen Klusmann gegangen sein, der sich parallel, zusammen mit Spiegel-Redakteur Stefan Kuzmany, intensiv in den Skandal um Claas Relotius einarbeiten musste. Um gewappnet zu sein für das am 24. September stattfindende Interview mit Michael Bully Herbig über seinen Film Tausend Zeilen. Frechheit siegt!, dachte sich dazu offenbar Kuzmany – und fragte Herbig im Interview doch allen Ernstes, im Blick auf Sinn und Zweck seiner Relotius-Mediensatire:
„Haben Sie mal darüber nachgedacht, dass ein solcher Film Wasser auf die Mühlen jener sein könnte, die die Medien pauschal für Lügenpresse halten?“ (Spiegel Nr. 39/24.9.2022)
Herbig, ein sehr höflicher Mensch, hielt sich hier zurück – ein Fall für mich:
„Werter Herr Kuzmany, haben Sie eigentlich mal darüber nachgedacht, dass es wenig fein ist, den Boten der schlechten Nachricht zu erschlagen und den Verantwortlichen für selbige, den Spiegel nämlich, dessen Brot Sie essen, unbehelligt zu lassen?“
So meine Frage in einem Leserbrief vom 26. September an den Spiegel. Den nicht abgedruckt zu haben ich unter der Headline Sehr geehrte Frau Dr. Amann… dem Spiegel am 3. Oktober öffentlich vorwarf im Zuge einer positiven Würdigung von Herbigs Verfilmung des Relotius-Skandals.[15] Hätte ich damals schon das Buch gelesen zum Film, den ich hiermit verteidigte und für gut befand, wäre ich fraglos noch auf die Idee gekommen, das ironische Wort des Gottfried Curio (AfD-MdB) anzuführen:
„Im selben Jahr, in dem das Wort ‚Lügenpresse‘ zum Unwort des Jahres gewählt wurde, wurde Relotius von CNN zum Journalisten des Jahres gewählt.“ (zit. n. Moreno 2019: 236)
Verlassen wir dieses insofern traurig machende Spielfeld mit dem Hinweis, dass sich der Leserservic des Spiegel auf einmal, ohne die in Aussicht gestellte Entscheidung über den Abdruck meines Leserbriefs auch nur anzusprechen, mittels einer Serienbriefs folgenden Inhalts bei mir vorstellig wurde:
„Wir haben uns in einem neuen Leitfaden auf alte Tugenden zurückbesonnen und Erzähl-, Recherche- und Verifikationsstandards überarbeitet. Das alles ist jetzt vier Jahre, eine Print-Online-Reform und zwei weitere Krisen her — Corona und Ukraine —, und der SPIEGEL erlebt nun wieder eine journalistisch wie wirtschaftlich erfolgreiche Zeit. Zum Glück vertrauen uns die Leserinnen und Leser nach wie vor. Ihnen gebührt der Dank, diese Verwerfung mit uns durchgestanden zu haben.“
Was hast Du gemacht, fragte mich Sammy sprachlos, aber vorwurfsvoll. Du, dessen langjähriges Abonnement zwei Tage zuvor nach von Melanie Amann lauthals beklagter Kündigung ausgelaufen war? Ich sollte diese „Verwerfung“ tapfer durchgestanden haben? Und dies schrieb mir der für Leserbriefe zuständige Redakteur mitten heraus aus der zweiten „Verwerfung“, um die ich damals noch gar nicht ahnte?
Da ergriff mich eine große Traurigkeit – im Ergebnis derselben ich dem Spiegel hier und heute im Interesse der Vermeidung des weiteren Aufschwungs von Rechtspopulisten aller Couleur eine Lernfähigkeit wünsche, die über das Spatzenhirn eines Dinosauriers weit hinausgeht.
Autor: Prof. Dr. Christian Niemeyer, Berlin
Bild oben: Screenshot Facebook
[1] Dem Tag der Information des Spiegel über diesen Skandal.
[2] www.hagalil.com/2022/10/spott-light-bams/
[3] https://www.philosophia-perennis.com/2019/03/06/relotius-reloaded-sz-spiegel-und-zeit-trennen-sich-von-preistraeger-dirk-gieselmann/
[4] https://taz.de/Journalist-Dirk-Gieselmann/!5575492/
[5] https://www.nzz.ch/international/migration-in-griechenland-athen-zornig-auf-spiegel-reporter-Id.1700143
[6] https://www.msn.com/de-de/nachrichten/welt/warum-die-„spiegel“-story-ueber-ein-totes-fluechtlingsmädchen-verschwunden-ist//ar-AA14vUzD
[7] Ein – damit ist alles über den Rest gesagt – landesweit bekannter, wg. übler Nachrede vorbestrafter Sexist und Antisemit, dem die Schmuddelkinder unter seinen „Kommentatoren“ (gemeint sind jetzt „Habanero“ & Konsorten) sehr gut zu Gesicht stehen.
[8] https://exxpress.at/naechster-relotius-skandal-beim-spiegel-totes-fluechtlingsmädchen-nur-erfunden/
[9] https://jungefreiheit.de/kultur/medien/2022/neuer-spiegel-skandal/
[10] www.hagalil.com/2022/11/spott-light-jenseits-von-fretterrode/
[11] www.hagalil.com/2022/10/spott-light-bams/
[12] https://www.nzz.ch/international/nach-neuen-vorwürfen-gegen-den-spiegel-werden-erinnerungen-an-den-fall-relotius-wach-Id.1713830
[13] Gemeint ist mein in Vorbereitung befindliches Buch Die AfD und ihr Think Tank im Sog des Untergangs von Trump & Putin (2023), dem dieser Abschnitt entnommen ist. Dort auch weitere Literaturnachweise.
[14] https://www.msn.com/de-de/nachrichten/other/vier-jahre-nach-relotius-skandal-zweifel-an-tod-von-fl-c3/