Der von Susann Neiman und Michael Wildt herausgegebene Sammelband „Historiker streiten. Gewalt und Holocaust – Die Debatte“ enthält 16 Texte, die sich mal mehr und mal weniger mit der aktuellen Debatte um die Einordnung des Holocaust gegenüber dem Kolonialismus beschäftigen. Differenzierten Beiträgen stehen polemische Kommentare gegenüber, sodass man es auch in der formalen und nicht nur der inhaltlichen Ausrichtung mit ganz unterschiedlichen Beiträgen zu tun hat.
Von Armin Pfahl-Traughber
Wenn Historiker streiten, dann muss es nicht nur um geschichtswissenschaftliche Sichtweisen gehen. Das war bereits beim ersten Historikerstreit Ende der 1980er Jahre so, wobei Auschwitz als Fernwirkung der Gulag-Lager gedeutet wurde. Seit Beginn der 2020er Jahre gibt es einen zweiten Historikerstreit, wobei es um den Holocaust und den Kolonialismus im Zusammenhang geht. In beiden Fällen kam bzw. kommt auch politischen Implikationen hohe Relevanz zu. Diese Einsicht muss berücksichtigt werden, wenn „Historiker streiten“. So betitelt ist auch ein Sammelband mit dem Untertitel „Gewalt und Holocaust – Die Debatte“, der von Susan Neiman und Michael Wildt herausgegeben wurde. Er enthält 16 Beiträge zur Debatte, die sich aber nicht alle auf den zweiten Historikerstreit im engeren Sinne beziehen. Es gibt auch keine Einleitung für den Sammelband, insofern werden die Beiträge nicht gesondert in den inhaltlichen Kontext eingeordnet. Dieser ergibt sich dann durch die Lektüre der Texte und ihre nachträgliche inhaltliche Verortung.
Am Beginn steht eine Erörterung zu der Frage, wie die beiden Historikerstreite zusammenhängen. Susan Neiman bemerkt darin, „dass die Singularitätsthese als moralisches Gebot überholt ist“ (S. 18). Dem mag in der Konsequenz so sein, gleichwohl gilt dies dadurch nicht für die wissenschaftliche Perspektive. Überhaupt werden moralische und polemische, sachliche und wissenschaftliche Deutungen kontinuierlich in dem Sammelband durcheinander geworfen, mit Ausnahme einiger weniger Autoren versteht sich. Gleich der zweite Beitrag von Eva Menasse, einer bekannten Schriftstellerin, ist von einer derartigen Polemik geprägt. „Tugendbesoffenes Raunen“ lautet der Titel, „Die Antisemitismus-Debatte ist eine fehlgeleitete, hysterische Pein“ steht im Untertitel. Letzteres trifft aber eigentlich auch auf ihre Argumentationsweise zu. Die darauf folgenden Beiträge widmen sich dann anderen Fragestellungen, wobei die von Sami Khatib vorgetragenen innovativen Reflexionen über „Singularitätseffekte“ zu weiterführenden Überlegungen einladen.
Auf die aktuelle Auseinandersetzung geht dann erst der siebte Beitrag im engeren Sinne ein. Es handelt sich um eine kritische Auseinandersetzung mit A. Dirk Moses, der den Deutschen einen „Katechismus“ bezüglich der Vergangenheitsbewältigung unterstellte. Demnach wachten „Hohepriester“ über die auf die Shoah bezogene Singularitätsthese, was zur Ignoranz gegenüber den Kolonialverbrechen und gegenüber Israel zu einem unkritischen Verhältnis geführt habe. Yehuda Bauer, der bekannte israelische Holocaust-Forscher, setzt sich in dem hier gemeinten Beitrag mit hohem Differenzierungsvermögen, inhaltlicher Klarheit und ohne billige Polemik mit derartigen Positionen auseinander. In gleich zwei Beiträgen kommt dann Moses auch selbst zu Wort. In seinem fast fünfzig Seiten langen Text finden sich aber meist nur Wiederholungen. Auf die inhaltlichen Argumente gegen ihn geht er kaum ein und wirft mit Pauschalisierungen um sich. So heißt es etwa, dass „ein Großteil der deutschen Medien“ sich „mit der israelischen Rechten“ (S. 240) verbunden hätten.
Angesichts der Kritik an Achille Mbembe habe er, so Moses, „nun meinerseits einen scharfen Ton gewählt, um gehört zu werden“ (S. 281). So unberechtigt mancher überzeichnender Kommentar gegen ihn gewesen sein mag, so hat er aber auch durch Behauptungen wie etwa der von religiösen Eigenschaften eines öffentlichen Holocaust-Bildes solche negativen Zuordnungen mit provoziert. Die moralisierende und politische Eskalation der Kontroverse erklärt sich eben durch solche Umgangsformen. Damit gehen berechtigte Forschungsfragen auch in verbalen Schlachten unter. Ein differenzierter Blick auf Holocaust und Kolonialismus wäre als wissenschaftlicher Vergleich durchaus möglich. Er würde mit Differenzierung auch die der Shoah eigenen Spezifika verdeutlichen. Aber dazu findet man mit Ausnahme von Bauers kurzem Beitrag kaum konstruktive Reflexionen. Es gibt aber darüber hinaus gehenden Anregungen, etwa die von Micha Gabowitsch, der für eine „Osterweiterung der deutschen Erinnerung an Krieg und Holocaust“ (S. 291) plädiert.
Susan Neiman/Michael Wildt (Hrsg.), Historiker streiten. Gewalt und Holocaust – Die Debatte, Berlin 2022 (Propyläen-Verlag), 367 S., 26 Euro, Bestellen?