Herbstlandschaft

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Damals, im Herbst, reiste ich von Siebenbürgen/Transsilvanien nach Berlin. So richtig wohl fühlte ich mich in Hermannstadt/Sibiu, gerne hätte ich am Rande der Karpaten überwintert, doch irgendwann musste ich fort. Der Zug fährt mich nachts von Hermannstadt nach Budapest auf unbequemsten Polstern, bequemere Polster hat der Zug von Budapest nach Berlin. Zwölf Stunden fahre ich durch die nächtliche Landschaft Westsiebenbürgens durch die Karpaten und des Banats und zwölf Stunden bei Tag durch die schönste Herbstlandschaft Europas.

Von Christel Wollmann-Fiedler

Frühmorgens kommen Gedanken an die wunderschöne ungarische Metropole an der Donau. Budapest ist erreicht, die Sonne geht auf, es wird Tag. Da lacht das Herz, sagte stets unsere siebenbürgische Tante, wenn sie an der Donau stand.

Die Juden sollen mit den Römern nach hier gekommen sein, sagt die Legende. Später werden sie vertrieben und für den Schwarzen Tod (Pest) verantwortlich gemacht, Morde auf Scheiterhaufen folgen. Einheimische Kaufleute sehen sie als Konkurrenten, auch die Katholische Kirche ist keine Freundin von ihnen. Mit den Türken ziehen sie im 17. Jahrhundert weiter. Im 19. Jahrhundert beginnt die Judenemanzipation, die Einwanderung aus dem Osten, aus Galizien, ist enorm. Die Donau teilt bis 1873 die Städte Buda und Pest, doch dann finden sie zusammen und der Name Budapest entsteht.

So wird der bis heute sehr berühmte Theodor Herzl in Pest geboren im Jahr 1860 im damaligen Königreich Ungarn, und verbringt seine Kindheit an der Donau. Die Schule beendet er in dieser Stadt. 1878 zieht die Familie nach Wien und Theodor beginnt Jus zu studieren. 1889 heiraten Theodor Herzl und Julie Naschauer, das Paar bekommt zwei Töchter und einen Sohn. Die jüngste Tochter Margaritha Herzl-Neumann wird 1943 nach Theresienstadt deportiert und stirbt dort. Noch 1944 werden 565.000 jüdische Ungarn nach Auschwitz Birkenau deportiert, erbarmungslos und kaltblütig ermordet.

Der Zionismus ist Theodor Herzls Welt und die Gründung eines jüdischen Staates sein ewiger Wunsch. Zeitlebens setzt er sich dafür ein. Zusammen mit Gleichgesinnten organisiert er 1897 den 1. Zionistischen Weltkongress in Basel, und wird zum Präsidenten dieser Vereinigung gewählt. Nur vierundvierzig Jahre alt wird er, stirbt 1904 an seinem Herzleiden. Auf dem Döblinger Friedhof in Wien wird er begraben. 1949 nach der Gründung des Staates Israel, bekommt er einen Ehrenplatz auf dem berühmten Nationalfriedhof auf dem „Herzlberg“ in Jerusalem. Der Hügel bekommt seinen Namen.

Das Verweilen auf dem Bahnhof in Budapest ist kurzweilig, dauert zwei Stunden, dann geht es in den Zug nach Berlin. Der Bahnhof – Nyugati in Budapest wird im 19. Jahrhundert von Gustav Eiffel erbaut, der später nach dem Bau des Eiffelturs in Paris weltberühmt wird. Auch die New Yorker Freiheitsstatue ist seine Erfindung.

Am Donauknie bei Visegrád der alten Stadt von Matthias Corvinus, der den Juden bereits im 15. Jahrhundert freiere Lebensverhältnisse einrichtete, kriecht die Sonne langsam durch den dicken Nebel und die Zitadelle auf dem Hügel ist schemenhaft zu sehen.

Silbrig schimmert die Donau, fließt behäbig durch die Landschaft bis Esztergom in Mitteltransdanubien. Eine der ältesten Städte Ungarns ist Esztergom, mit römischer und türkischer Belagerung, mit jüdischen Bewohnern seit dem 9. Jahrhundert, vor unendlichen Zeiten Hauptstadt Ungarns, Einwanderungsgebiet von Deutschen und Slowaken. Lipat Baumhorn, der jüdische Architekt aus Ungarn, baut im spätromanischen Stil eine Synagoge, die 1888 von dem Esztergomer Rabbi Löw eingeweiht wird. Die deutschen Nazis deportieren und ermorden einen Großteil der jüdischen Bevölkerung. Die einzige Synagoge wird im 2. Weltkrieg stark beschädigt, nach dem Krieg zum Teil saniert und seit den 1980er Jahren als Kulturhaus genutzt, eine jüdische Gemeinde gibt es nicht mehr.

Golden schimmert die Landschaft, die Herbstpracht hätte nicht schöner sein können. Der Zug überquert den zweitlängsten Fluss Europas, die behäbige Donau, und befindet sich in Sturovo in der Slowakei. Vor über fünfhundert Jahren war Sturovo die Westgrenze des Osmanischen Reiches und litt gehörig unter den Kriegen zwischen Türken und Habsburgern. Die Kleine Donau taucht in der Wiese auf und begleitet den Zug eine Weile. Gegen halb Elf fährt der Zug in den Bahnhof von Bratislava mit seiner Preßburg, der Hauptstadt der Slowakei im Dreiländereck, ein. Bis 1918 gehört diese Stadt zur Donaumonarchie und war Krönungsort der Ungarischen Könige. Im 14.Jahrhundert werden in Preßburg bereits 800 jüdische Bürger gezählt. Ein bedeutendes Zentrum des jüdischen Lebens soll die Stadt gewesen sein. Eine königliche freie Stadt im 13. bis 14. Jahrhundert, im Schlossgrund dürfen sich die Juden ansiedeln und werden Untertanen, dann, ab 1840, verteilen sich die jüdischen Familien auch in andere Stadtteile. In der Synagoge aus den 1930er Jahren werden nach wie vor Gottesdienste abgehalten, auch Veranstaltungen. Die kommunistische Ära geht nicht zimperlich mit jüdischen Gebäuden um und verunstaltet, sagt die Historie. Einen wunderbaren Blick hat der Besucher des orthodoxen Friedhofs vom Hügel herunter auf die Donau.

Unweit der österreichischen Grenze biegt der Zug nach Norden. Die Kleinen Karpaten liegen im herbstlichen Licht und kurz darauf fährt der Zug gemächlich durch die sehr alte südmährische Grenzstadt Břeclav in die tschechische Herbstpracht. 1868 lässt die jüdische Gemeinde im damaligen Lundenburg eine Synagoge im Stil der Neoromanik erbauen und Rabbi Nathan Aaron Müller weiht sie ein. Nach 1990 wird sie Stadtmuseum. 1942 beginnen auch in dieser Stadt die Deportationen der jüdischen Menschen. Zum Kulturdenkmal wird der gut erhaltene jüdische Friedhof ernannt.

Die Kathedrale von Brno/Brünn, die einst romanische, dann gotische Basilika auf dem Hügel inmitten des historischen Zentrums Mährens ist von sämtlichen Himmelsrichtungen schon von weit her zu sehen. Ein mittelalterliches Getto gibt es auch hier für die Juden, im 18. Jahrhundert leben die Juden am Rande der Stadt. Die Synagoge überlebt den 2. Weltkrieg, aber nicht den Kommunismus. Über Elftausend jüdische Nachbarn gibt es 1941 in Brünn, nur siebenhundert überlebten den Holocaust.

Das jüdische Unternehmerehepaar Grete und Fritz Tugendhat lässt sich 1929/30 von Mies van der Rohe oberhalb der Stadt eine moderne komfortable Villa bauen. Grete Tugendhat bekommt von den Eltern, den Löw-Beers, zu ihrer Hochzeit im Jahr 1928, das Grundstück geschenkt und eine moderne Einmaligkeit entsteht. Noch heute ein architektonisches Juwel der Sachlichkeit im Bauhausstil. Es gehört inzwischen zum UNESCO-Welterbe. Nur acht Jahre wird es das Zuhause der Tugendhats sein, Hitler ist an der Macht und die Familie macht sich auf den Weg über die Schweiz nach Venezuela und überlebt.

Die Böhmisch Mährische Höhe ist erreicht und die mittägliche Sonne veredelt die Landschaft, macht sie goldener. Die schönste Stadt der Welt, die Goldene Stadt Prag, zeigt seine volle Schönheit. Die Prager Burg oberhalb der Moldau auf dem Hradschin soll das größte geschlossene Burgareal der Welt sein. Mythen und Geschichten aus alten Zeiten ranken sich um diesen Hügel und diese Burg. Leo Perutz erzählt von Kaiser Rudolf und der schönen Jüdin Esther und Franz Kafka schreibt gar „Prag lässt nicht los. Dieses Mütterchen hat Krallen“. Im 10. Jahrhundert bereits leben jüdische Händler unterhalb der Burg im Prager Judenviertel, in der Josefstadt. Unter Kaiser Rudolf II. Ist die wirtschaftlich Blütezeit, Prag ist das Zentrum der Gelehrsamkeit. Berühmte Gelehrte lebten und arbeiteten in Prag, mehr als anderswo in Europa. Die frühgotische Alt-Neu-Synagoge ist erhalten, Sagen umspinnen dieses Gotteshaus, das die Nazizeit überlebt. In keiner anderen Stadt der Welt sollen im 18. Jahrhundert so viele Juden gelebt haben wie in der Goldenen Stadt an der Moldau. Antisemitische Stürme und Progrome gegen Juden gibt es auch hier zu allen Zeiten. Kaiserin Maria Theresia war gegen die Juden und vertrieb sie kurzfristig. Ihr ältester Sohn, Kaiser Joseph II., gibt den böhmischen Juden erneut Freiheiten. Auch wird die Stadt das Zentrum der jüdischen Aufklärung, wird gesagt. Juden dürfen in verschiedenen Stadtteilen wohnen. 1939 beginnen auch in Prag die Verfolgungen und Deportationen durch die Nazidiktatur nach Litzmannstadt/Lodz und in das KZ Theresienstadt. 1500 jüdische Gemeindemitglieder gibt es noch in der Stadt.

Smetanas Moldau fließt neben dem Bahndamm in den Norden der Elbe entgegen. Weltberühmt ist sie, die Moldau, dieser kurze Fluss. Klänge der Flöten und Geigen sind zu hören, fröhliche Bauerntänze am Flussufer zu sehen, Pauken und Trompeten toben, tosend wirbelt der Fluss, die Nymphen tanzen, das  plätschernde Wasser ist leise zu hören. Nach Norden, der Nordsee entgegen, fließt erhaben die Elbe neben dem Bahngleis durch das herbstlich gelbgoldene und berühmte Elbsandsteingebirge von Caspar David Friedrich. Kurz vor Dresden fällt die Sonne in die Elbe, es wird Nacht.

Alle Fotos: (c) C. Wollmann-Fiedler