Vor der Wahl ist nach der Wahl ist vor der Wahl

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Morgen gehen die Israelis zur Wahl. Zum fünften Mal in nur 43 Monaten werden in der israelischen Politik die Karten neu gemischt. Wer immer auch als Sieger hervorgehen wird, steht vor der schier unlösbaren Aufgabe, eine funktionierende Koalition zu bilden. Dennoch könnte es einige Überraschungen geben.

Von Ralf Balke

Mit Prognosen ist es so eine Sache – vor allem, wenn wieder einmal Wahlen in Israel anstehen. Selbstverständlich veröffentlichen Meinungsforschungsinstitute im Auftrag verschiedener Medien wie in andere Demokratien auch regelmäßig ihre Vorhersagen, welche Parteien mit wie vielen Abgeordneten in die Knesset einziehen könnten. Nur sind diese Angaben mit sehr viel Vorsicht zu genießen, weil sie in der Vergangenheit selten mit den Ergebnissen übereinstimmten, die dann erzielt wurden. Denn mehrere Faktoren sorgen dafür, dass es immer wieder einige handfeste Überraschungen gibt. Einer der Gründe dafür ist die Tatsache, dass sich viele Israelis erst in allerletzter Minute entscheiden, welcher Partei sie nun ihre Stimme geben oder ob sie überhaupt zur Wahl gehen. So wissen laut einer brandneuen Umfrage des TV-Kanals 13 30 Prozent der jüdischen Israelis auch jetzt noch nicht, wen sie morgen wählen werden. Darüber hinaus können bestimmte Ereignisse, die kurz vor dem Wahltermin geschehen, zu plötzlichen Meinungsänderungen führen, beispielsweise Terroranschläge oder Last-Minute-Skandale um die Kandidaten.

Dennoch lässt sich bereits heute einiges mit Gewissheit sagen, und zwar, dass der Likud als stärkste Kraft aus dem Rennen hervorgehen wird. Oppositionsführer Benjamin Netanyahu kann mit rund 30 bis 34 Abgeordneten rechnen, die seine Partei in die Knesset entsenden wird. Yesh Atid, die Partei des amtierenden Ministerpräsidenten Yair Lapid wird sicherlich auf Platz Zwei landen und 24 bis 27 Mandate erhalten. Nummer Drei mit voraussichtlich zwölf bis 15 Sitzen im Parlament – und damit der eigentliche Shooting Star – scheint aktuell die Listenverbindung der religiösen Zionisten mit ihren Extremisten Bezalel Smotrich und Itamar Ben Gvir an der Spitze zu werden, gefolgt von dem Parteienbündnis HaMachane HaMamlachti, zu Deutsch: „Staatslager“, bestehend aus der zentristischen Blau-Weiß-Partei von Benny Gantz und der eher nationalistischen Gruppierung Tikva HaChadasha des Ex-Likudniks und Bibi-Gegners Gideon Sa’ar. Diese könnte zehn bis dreizehn Parlamentarier stellen. Auf den weiteren Rängen dann die  Partei der ultraorthodoxen mizrachischen Juden, Shass, sowie ihr aschkenasisches Pendant Vereintes Torah-Judentum, dahinter dann Avigdor Liebermans Partei Israel Beitenu, die Arbeitspartei und – abhängig davon, ob sie die 3,25 Prozent-Hürde meistern – die Reste der Vereinten Arabischen Liste, die Linkszionisten von Meretz und last but not least die Partei des Südflügels der Islamischen Bewegung in Israel, Ra’am.

So weit, so verwirrend. Und damit beginnt das große Rätselraten darüber, wer nach dem 1. November mit wem eine Koalition eingeht, um 61 Parlamentarier auf sich vereinen zu können. Denn so viele sind nötig, um in der Knesset mit ihren 120 Sitzen eine Mehrheit zu erzielen. Und genau das ist der Knackpunkt. Denn egal wie man rechnet, keines der beiden Lager um die Protagonisten Netanyahu und Lapid scheint auf diese Zahl kommen – zumindest sieht es jetzt noch so aus. Als potenzielle Bündnispartner des Likud gelten die Religiösen Zionisten sowie die beiden Parteien der Ultraorthodoxen. Ihr Problem: Obwohl sie zusammen stärker als Yesh Atid und die anderen Gruppierungen der noch amtierenden Acht-Parteien-Koalition sind, auf die 61 Mandate kommen auch sie nicht. Und damit droht eine Patt-Situation, wie sie sich in allen anderen Wahlgängen gezeigt hatte.

Nach dem 1. November wird – so schreiben es die gesetzlichen Regeln vor – Staatspräsident Yitzhak Herzog den Kandidaten der stärksten Partei mit der Bildung einer Regierung beauftragen. Das dürfte auf jeden Fall Netanyahu sein. Genau 28 Tage hat er dafür Zeit. Klappt es in diesem Zeitraum nicht, kann er um eine Verlängerung dieser Frist um weitere zwei Wochen bitten, danach ist Feierabend. Wäre der Likud-Chef dann nicht in der Lage, eine funktionierende Koalition zu präsentieren, die auf mindestens 61 Mandaten basiert, geht der Stab weiter an Lapid und er darf es versuchen. Scheitert auch der Yesh-Atid-Vorsitzende, drohen Neuwahlen und das Spiel beginnt von vorne, was gar nicht so unwahrscheinlich ist.

Aber jetzt zu den Überraschungen, die anstehen könnten. Da ist einerseits die bereits erwähnte 3,25 Prozent Hürde. Jede Partei, die nicht auf diesen Anteil der Wählerstimmen kommt, darf keine Vertreter in die Knesset entsenden. Das heißt, wer bereits im Parlament sitzt, aber nicht auf mindestens 3,25-Prozent der Wählerstimmen kommt, fliegt raus. Genau dieses Damoklesschwert schwebt im Moment über gleich mehreren von ihnen, und zwar der Arbeitspartei, den Linkszionisten und den Resten der Vereinten Arabischen Liste sowie Ra’am, der ersten arabischen Partei, die jemals in einer Regierungskoalition vertreten war. Ihnen allen – oder zumindest einigen – könnte das Aus drohen. Wären die Arbeiterpartei und Meretz nicht mehr in der nächsten Knesset vertreten, würde es in Israel überhaupt keine politische Gruppierung aus dem linken Spektrum mehr geben, die im Parlament sitzt. Und Lapid gingen ein oder zwei potenzielle Koalitionspartner verloren. Für ihn wäre damit das Projekt Regierungsbildung mit hoher Wahrscheinlichkeit gescheitert und Netanyahu der Sieger.

Umgekehrt hat aber Netanyahu ein Problem. Er war es, der im vergangenen Jahr einen Deal vorangetrieben hat, der ihm heute Kopfzerbrechen bereitet, und zwar den von ihm forcierten Zusammenschluss der Religiösen Zionisten mit den Extremisten von Otzma Yehudit und Noam. Keine der beiden Mini-Parteien, die in der Tradition des Terror-Rabbis Meir Kahane stehen, wäre in der Lage gewesen, aus eigener Kraft die 3,25 Prozent-Hürde zu stemmen. Im rechten Lager dürfe aber nicht einzige Stimme verloren gehen, so Netanyahus Devise. Daraus resultierte sein Drängen, selbst die radikalsten und antidemokratischsten Kräfte unter einem Dach mit anderen zu vereinen. Nur hat er nicht damit gerechnet, dass eine solche Listenverbindung plötzlich zur drittstärksten Kraft aufsteigen könnte. Die Vorstellung, dass ein erwiesenermaßen gewaltbereiter Rassist wie Itamar Ben Gvir in einer möglichen Koalition ein Schlüsselressort wie das für die innere Sicherheit – und genau diesen Anspruch hat der Kahane-Jünger bereits angemeldet – besetzen könnte, wird ihm womöglich Stimmen in dem Wählersegment kosten, das sich als „softe Rechte“ umschrieben lässt. Nationalistische Alternativen, die sich in wesentlichen Punkten in ihrer Agenda kaum vom Likud unterscheiden, gibt es für sie einige, beispielsweise Israel Beitenu oder das sogenannte „Staatslager“. Und auch bei den beiden ultraorthodoxen Parteien rumort es. Vor allem für jüngere Wähler von Shass oder dem Vereinten Torah-Judentum scheinen die Religiösen Zionisten mit ihren radikalen Aushängeschildern plötzlich attraktiv zu sein. Deswegen sehen sie in Bezalel Smotrich, Itamar Ben Gvir & Co. ihre neuen Kontrahenten.

Die eigentliche Frage aber lautet: Wie viele Israelis werden wählen gehen. Aber vor allem, wie hoch wird die Wahlbeteiligung der israelischen Araber sein. Denn diese beiden Faktoren könnten sich als Gamechanger erweisen. Die Parteien der Uultraorthodoxen haben dabei deutlich weniger Probleme damit, ihre Stammwähler zu mobilisieren – dafür sorgen die ihnen wohlgesonnenen Rabbiner, denen politisch nur eines wichtig ist, und zwar die Aufrechterhaltung des Status quo in Angelegenheiten, die das Verhältnis zwischen Staat und Religion betreffen, also Einhaltung des Schabbats oder die Ausnahmeregeln für junge Haredim, wenn es um den Militärdienst geht. Und selbstverständlich wollen sie möglichst viele finanzielle Zuwendungen für ihre Institutionen oder Autonomie im Schulwesen. Anders dagegen die Parteien, die nach dem 1. November eher Lapid unterstützen könnten. Mit „Bloß nicht Bibi!“-Parolen oder als Netanyahu-Fan-Club unterwegs zu sein, reicht nicht aus, um Wähler an die Urnen zu locken. Das zeigte sich 2021, als die Wahlbeteiligung von 71, 5 Prozent auf 67,4 Prozent gefallen war. Die geringere Bereitschaft, zu den Wahlurnen zu gehen, kam damals vor allen den kleineren Parteien zugute. Sie schaffen es eher, ihr Klientel zu mobilisieren. Fällt die Wahlbeteiligung jetzt aber höher aus, profitieren zumeist die größeren Parteien davon, also Netanyahu und Lapid.

Von den arabischen Israelis waren 2021 aber nur 44 Prozent wählen gegangen, was dazu führte, dass die Vereinte Arabische Liste, die noch im März 2020, als rekordverdächtige 63 Prozent von ihnen ihre Stimmen abgegeben hatten, als Vier-Parteien-Bündnis zur drittstärksten Kraft aufsteigen konnte, nun aber nach diversen Spaltungen auf deutlich weniger als die Hälfte geschrumpft ist. Wird die arabische Wahlbeteiligung morgen jedoch höher als 2021 – aktuell ist die Rede von 50 Prozent und mehr – ausfallen, garantiert dies den Wiedereinzug der aus Hadash und Ta’al bestehenden Zweier-Liste sowie von Ra’am. Und damit steigen wiederum ein wenig die Chancen, dass Lapid eine Regierung bilden kann. Denn jedes Plus an Sitzen in der Knesset zugunsten der arabischen Parteien geht auf Kosten der Zahl der Abgeordneten anderer Parteien, was wiederum die Chancen von Netanyahu schmälert, eine Mehrheit zu erzielen, es Lapid aber im Umkehrschluss nicht unbedingt viel leichter machen wird, eine Koalition zu bilden.

Zudem kann es nach dem 1. November einige Kehrtwendungen und Neuorientierungen geben, wodurch die bestehenden Blöcke sich neu positionieren. So hiess es dieser Tage überraschend aus dem Vereinten Torah-Judentum, dass eine Koalition mit Netanyahu nicht in Stein gemeißelt sei. Oder anders ausgedrückt: Macht Lapid den ultraorthodoxen Aschkenasim ein verlockendes Angebot, könnten sie die Seiten wechseln. Oder Netanyahu kann unter den potenziellen Bündnispartnern von Lapid wildern, nationalistischen Parteien Avancen machen und sich auf diese Weise einer Zusammenarbeit mit den radikalen religiösen Zionisten entziehen. Und ihm ideologisch nahestehende Gruppierungen können ihre „Niemals-wieder-mit-Bibi-koalieren“-Blockadehaltung mit dem Hinweis, Israel vor den Kahanisten gerettet zu haben, über Bord werfen. Nichts davon davon muss eintreten, aber einiges kann. Oder es gibt bald wieder Neuwahlen.