Das Bürgertum hat Bänderriss

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Der Film „Das Leben ein Tanz“ von Cédrik Klapisch stolpert Richtung Irrelevanz

Von Miriam N. Reinhard

Eigentlich scheint die Karriere von Èlise (Marion Barbeau) so gut wie vorgezeichnet zu sein: Schon früh kommt sie in den Genuss hochqualifizierten Ballettunterrichts; ihre Mutter, einst selbst Tänzerin, bringt sie als Kind immer zu den Stunden bei einer angesehenen Lehrerin. Die Mutter stirbt plötzlich und zu früh. Das Kind tanzt weiter, der dann alleinerziehende Vater (Denis Podalydès) zeigt sich eher desinteressiert daran, dass seine Tochter weiter diesen Ambitionen folgt, er würde sie lieber in seinen Fußstapfen sehen, nicht in denen seiner verstorbenen Frau: Er ist erfolgreicher Rechtsanwalt. Er lässt seine Tochter diesen Weg aber gehen, kann ja auch den exklusiven Unterricht und schließlich ein Tanzinternat finanzieren – so dass die erwachsene Èlise Ensemblemitglied am Pariser Ballett wird. Dort findet sie auch einen Freund. Als sie während einer Aufführung von „La Bayadère“ hinter der Bühne auf ihren Einsatz wartet, bemerkt sie allerdings, dass sie von ihm mit einer anderen Tänzerin betrogen wird. Der Fehltritt des Liebsten hinter den Kulissen bewirkt nun ein Fehl-Treten auf der Bühne ihrerseits: Sie ist unkonzentriert, strauchelt, hat einen Bänderriss. Die Schockdiagnose folgt bald: Der Bänderriss ist kompliziert, geht mit einer Abrissfraktur am Knöchel einher, die Genesung wird mindestens zwei Jahre dauern, sie wird wahrscheinlich nicht wieder tanzen können. Zeit, mal darüber nachzudenken, was man da eigentlich tanzt: „Jedes große klassische Ballett erzählt von Frauen, die am Ende ins Unglück stürzen, sie erleiden unausweichlich ein tragisches Schicksal. (…) Als wollte uns das Ballett erzählen, dass wenn du eine Frau bist, du immer zu einem Schicksal verdammt bist, das fürchterlich und tragisch ist“, sinniert sie auf einer Physiotherapiematte liegend zu Recht über die anachronistischen Geschlechterfigurationen des klassischen Balletts (für die Oper ließe sich eine ähnliche Diagnose stellen). Sie fasst zusammen: „Und dann kapierst du auf einmal, dass all die Heldinnen im weißen Tutu bereits tot sind. Es sind Gespenster von betrogenen, gedemütigten, zerstörten Frauen – und das bin ich auch. Ich bin eine echte klassische Ballettheldin.“

Aber da auch ein komplizierter Bänderriss noch nicht zwingend die Krankheit zum Tode ist, muss man trotz dieser Tragödie ja irgendetwas tun: So steigt Èlise zu einem befreundeten Paar in dessen Food-Truck, um als Hilfsköchin Zeit rumzukriegen und mit der neuen Situation umzugehen; sie steuern mit diesem Food-Truck (welch Zufall) ein Tagungshaus in der Bretagne an: Dort wollen die Gäste kreativ verköstigt werden, und die sind diesmal (ein noch größerer Zufall) die Tanzkompanie von Hofesh Shechter (der hier als Choreograph sich selbst spielt), die an einer Performance probt. Obwohl es deutliche Unterschiede zum klassischen Ballett gibt, ist Èlise von den modernen Choreographien, die sie dort zu sehen bekommt, fasziniert; Choreographien, die anders mit Raum und Bewegung umgehen, als sie es vom Ballett gewohnt ist. Ihre Verletzung ist hier kein Makel, weil der Perfektionsmaßstab des klassischen Balletts nicht angelegt wird. Èlise bemerkt, dass man im zeitgenössischen Tanz „viel mehr Kontakt zum Boden“ hat, „viel mehr geerdet“ ist als im klassischen Tanz. So braucht es dann nur noch einen kleinen Schubs von Herbergsmutter Josiane (Muriel Robin) und ein paar ermutigende Worte von Hofesh Shechter, bis Élise sich der Shechter Company fest anschließt und mit ihr tanzt. Ihre Verletzung beginnt zu heilen. Einen neuen Franzosen zum Lieben findet sie dort auch.

Die letzten Szenen des Films zeigen dann die Premiere der von Shechter choreographierten Performance in Paris, Élise tanzt ein Solo, ihr sonst distanzierter Vater weint vor Rührung – auch die innere Verletzung in der Beziehung zu ihm befindet sich damit im Heilungsprozess. Schließlich versteht sie noch, dass sie ihre Mutter nicht verrät, wenn sie eigene Wege findet und kann zum Schluss sagen: >>Liebe Maman, bevor du uns verlassen hast, hast du zu mir gesagt: „Genieße all die Leben, die das Leben dir schenkt.“ Heute beginnt für mich ein neues Leben.<<

So folgt auf den vermeintlichen Sturz ins Aus doch noch ein Sprung ins Happyend: Èlises Karriere ist nicht beendet, sondern hat sich auf einer anderen ästhetischen Stufe regeneriert. Daraus folgt: Unfälle können einen weiterbringen, seine Träume sollte man nie vorschnell aufgeben, wer hinfällt, kann auch wieder aufstehen, an Krisen kann man wachsen, im zuvor Unbekannten lässt sich eine Heimat finden. Das alles ist so wahr, wie es auch zugleich völlig trivial ist – einige Spielfilme und fast alle Glückskekse tragen genau solche Botschaften in sich. Darüber hinaus hat der Film auch nichts zu erzählen als eben das: Der Sturz einer Ballerina aus der gutsituierten bildungsbürgerlichen französischen Mittelschicht führt zu ihrer Neu-Verortung in einem etwas alternativeren Tanz-Milieu. Es ist nur geringfügig alternativer, denn die Hochkultur, aus der Èlise kommt, wird hier zwar auf einer ästhetischen Ebene hinterfragt, aber ihr Milieu erfährt mit der Hofesh Shechter Company keine größere Kontrastierung: Die u.a. mit dem Dora Award ausgezeichnete, 2008 gegründete Kompanie gastiert auf den Bühnen der Welt, ihre Mitglieder sind hochqualifiziert, kommen zum Teil ebenfalls – und vermutlich auch ganz ohne Bänderriss – aus dem klassischen Ballett. Wer aus dem klassischen Ballett zur Shechter Company wechselt, wird teilweise auf genau denselben Bühnen derselben Häuser vor demselben Publikum tanzen wie zuvor auch. Individuell-lebensweltlich mag ein solcher Wechsel zwischen den künstlerischen Genres, den Èlise vollzieht (der hier primär ein Wechsel der Tanztechnik ist), als Bruch wahrgenommen und empfunden werden; soziologisch betrachtet kann man wohl eher von einer Kontinuität sprechen, wenn eine privilegierte Tänzerin aus Paris nach einer Verletzung eine Zeitlang pausieren muss und wenige Wochen später wieder Mitglied einer etablierten Tanzkompanie wird, mit der sie nach kurzer Zeit Auftritte absolviert.

Man kann doch ein wenig tiefer stürzen als diese Ballerina, es gibt Biographien, die sich grundlegender neu erzählen müssen, wenn Krisen sie treffen; und es gibt auch Menschen, die auf ganz anderer Ebene um ihr Leben getanzt haben – auch in Paris wird man sich daran erinnern: Auf einem seltenen Gastspiel des Leningrader Kirow-Balletts in Europa 1961 teilt man den immer wieder über das diktatorische sowjetische System strauchelnden Rudi Nurejew in Paris mit, dass er nicht zusammen mit der Kompanie weiter nach London, sondern nach Moskau zurückreisen wird. Er ahnt, dass dieser Befehl zur Rückkehr mindestens sein künstlerisches Ende bedeuten wird. Nach einer dramatischen Auseinandersetzung am Flughafen Le Bourget gelingt es dem von KGB-Agenten bewachten Nurejew, auf zwei über die Situation informierte Polizisten zuzuspringen – er rettet sich mit diesem Sprung ins politische Asyl. Es folgt eine Tanzkarriere abgeschnitten von der Heimat, in der er fortan als Verräter und Staatsfeind gilt. Über 20 Jahre ist Nurejew staatenlos. Er stirbt 1993 mit 53 Jahren an AIDS.

Würde der Film sein eigenes kritisches Urteil über Frauenfigurationen im klassischen Ballett ernster nehmen und mit der physisch und psychisch angeknacksten Protagonistin nach Alternativen dazu suchen, so hätte er den Unterschied zum Ballett nicht nur in einer anderen Technik, einem anderen Verständnis von Perfektion und Bewegung zeigen können, sondern auch in der Art und Weise, wie Raum und Körper als performativ konstituiert gedacht und damit auch als politisch begriffen werden: Zeitgenössische Performances, die sich etwa mit dem Körper der Frau und die ihm widerfahrenen Verletzungen befassen, wollen nicht nur ein versehrtes Individuum in den künstlerischen Ausdruck integrieren, sondern machen auch die Geschichte seiner Versehrungen sichtbar. Die „betrogenen, gedemütigten und zerstörten Frauen“, die Élise im klassischen Ballett identifiziert hat, erfahren so nicht nur individuelle Heilung, sondern ihre Wunden bekommen politische Relevanz, sie werden zum gesellschaftlichen Auftrag: Ihre Verletzungen haben auch etwas mit uns, mit gesellschaftlichen Verhältnissen zu tun, sie sind nicht tragisches Schicksal, das einer Frau zwingend widerfährt. Die Arbeit des 2018 in Chile gegründeten Performance-Kollektivs „Las Tesis“ ist ein Beispiel dafür, wie es aussehen kann, wenn die „betrogenen, gedemütigten und zerstörten Frauen“ sich Raum erobern, wenn der gefährdete Körper ein für eine gewalttätige politische Ordnung gefährlicher Körper zu werden beginnt:

Um das zu verstehen, muss man allerdings über die Gefährdung durch Bänderrisskomplikation hinaus strukturell denken. Klapischs Film entschärft mit seiner Umkreisung der individuellen Verletzung seiner Protagonistin die Möglichkeiten und die Brisanz, die Performance-Kunst und zeitgenössischer Tanz heute bieten. Shechters ohne Frage herausragende Kompanie wirkt in eine solche Handlung eingebaut dann nur noch wie eine Selbstfindungsgruppe zum Tanz ums sich selbst vergoldende Ich. So viel „Erdung“ bleibt dann nicht.

„Das Leben ein Tanz“ erzählt somit auf ästhetisch durchaus ansprechende Weise eine nette und insgesamt recht belanglose Geschichte einer „Genesung“ im Sinne eines Erwachsener-Werdens – die immerhin darstellerisch gut umgesetzt wird. Als professionelle und erfolgreiche Balletttänzerin folgt Marion Barbeau der Protagonistin, die sie verkörpert, insofern, dass auch sie hier eine neue Bühne betritt: Diese Rolle ist ihr Filmdebut. Auch werden beeindruckende Tanzeinlagen (sowohl auf der klassischen als auch der zeitgenössischen Ebene) gezeigt, aber für einen ästhetischen Genuss dieser Künste lohnt sich der Besuch der entsprechenden Spielstätten dann sicher mehr.

Wer eine leichte Unterhaltung in getrübten Zeiten sucht, wird diesem Film etwas abgewinnen können. Die von Cédric Klapisch gezeigte Welt bietet kaum Irritationen und nur ausgesprochen geringes Verletzungspotential.