Neue Prioritäten

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US-Präsident Joe Biden ist zu einem zweitägigen Staatsbesuch in Israel eingetroffen. Im Mittelpunkt der Gespräche stehen anders als sonst nicht mehr der Konflikt zwischen Palästinenser und Israelis, sondern der Aufbau von Allianzen gegen den Iran.

Von Ralf Balke

Israel ist für ihn kein Neuland. Als Joe Biden am Mittwoch in Tel Aviv eintraf, war es für ihn Besuch Nummer Zehn vor Ort. Der erste fand bereits 1973 statt, wenige Wochen vor Ausbruch des Yom-Kippur-Krieges. „Ich hatte das Privileg, einige Zeit mit Premierministerin Golda Meir verbringen zu dürfen“, betonte er in seiner Rede unmittelbar nach Ankunft am Ben Gurion-Airport. „Auch werde ich nie vergessen, dass ich neben einem Herrn zu meiner Rechten saß, einem ihrer Ratgeber. Sein Name war Yitzhak Rabin.“ Damals war Joe Biden noch ein frisch gebackener Senator. Heute dagegen kommt er als Präsident der Vereinigten Staaten, dem wichtigsten Verbündeten Israels. In dieser Funktion ist es die erste Visite in der Region. „Tatsache ist, dass ich seither jeden einzelnen Premierminister kennen gelernt habe, und es mir stets eine Ehre war, mit jedem einzelnen von ihnen enge Arbeitsbeziehungen aufbauen zu können.“

Besuch Nummer Neun hatte Joe Biden vor sechs Jahren absolviert, und zwar in seiner Funktion als Vizepräsident während der zweiten Amtszeit von Barack Obama. Seither ist viel geschehen. 2016 noch hatte Israel diplomatische Beziehungen mit nur zwei arabischen Staaten: Ägypten und Jordanien. Das hat sich mittlerweile geändert. Im Rahmen der Abraham Accords kamen zuerst die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain, später Marokko und der Sudan als neue Partner hinzu. Auch gab es einen Wechsel an der Spitze der Regierung in Israel. Der Ministerpräsident heißt nicht mehr Benjamin Netanyahu. Abgelöst hatte ihn Naftali Bennett. Und seit wenigen Tagen ist es Yair Lapid – eine Folge des Zerfalls der noch amtierenden Acht-Parteien-Koalition, der zur Auflösung der jetzigen Knesset führte, weshalb am 1. November in Israel neu gewählt wird. Die Visite des US-Präsidenten findet also ebenfalls im Schatten des beginnenden Wahlkampfes statt.

Auf den ersten Blick unterscheidet sich das Programm des hohen Staatsgastes wenig von dem seiner Vorgänger. Man landet zuerst in Tel Aviv, trifft sich mit dem Ministerpräsidenten und anderen Regierungsvertretern zu Gesprächen über politische, wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit, und besucht anschließend Yad Vashem, die Maccabiah-Sportveranstaltung sowie eine Iron Dome-Einheit. Dann gibt es einen kurzen Abstecher nach Ramallah, um ebenfalls ein wenig mit Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas zu plaudern. Es dürften die üblichen Statements folgen, dass die Vereinigten Staaten weiterhin zu der Zwei-Staaten-Lösung stehen – irgendwie jedenfalls – und man den Palästinensern finanziell unter die Arme greifen werde. Anschließend geht es zurück nach Jerusalem. Hat der US-Präsident alle diese Termine abgearbeitet, steigt man wieder die Air Force One-Maschine, um nach Washington oder in ein anderes Land in der Region. Zu fliegen

In diesem Fall wird es für Joe Biden von Tel Aviv weiter nach Jiddah gehen. Es ist der erste Direktflug eines US-Präsidenten auf dieser Strecke. Und darin zeigt sich, dass der jetzige Besuch anderen Prioritäten folgt. Denn einerseits war das Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und Saudi Arabien durch den Mord an dem Journalisten Jamal Khashoggi in der Türkei im Jahr 2018, der wohl auf Order des saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman geschah, nicht mehr das Allerbeste. Das soll sich nun wieder ändern. Der Ukrainekrieg und die dadurch ausgelöste weltweite Energiekrise lassen das Wüstenkönigreich in ein anderes Licht rücken, man wünscht sich in Washington eine Erhöhung der saudischen Ölfördermengen und mehr Kooperationen auf dem Gebiet der Sicherheit. Zum anderen gibt es zwischen Jerusalem und Riad keine offiziellen Beziehungen, weshalb ein solcher Flug bereits eine kleine Sensation darstellt. Bereits im Vorfeld wurde viel darüber spekuliert, ob es nun zu einer Annäherung zwischen Israel und Saudi-Arabien kommen könnte und inwieweit der Besuch des US-Präsidenten den Durchbruch bringt. Denn inoffiziell haben beide Länder längst ihre Fühler zueinander ausgestreckt.

Und damit zeigt der Besuch eines: Die Friedensprozess zwischen Israelis und Palästinensern steht für die Vereinigten Staaten aktuell nicht oben auf der Agenda. Sollte es zwischen beiden Seiten eine Annäherung geben, wäre das aus Sicht Washingtons gewiss eine feine Sache. Nur spielt das Ganze jetzt eine untergeordnete Rolle. „Im Moment hat eine Beilegung des israelisch-palästinensischen Konflikts keine Priorität für die Vereinigten Staaten, geschweige für einen US-Präsidenten“, bringt es Alon Pinkas, ein ehemaliger israelischer Generalkonsul in New York auf den Punkt. „Schwerpunkt der Nahostpolitik ist vielmehr der Aufbau und die Gestaltung von neuen Bündnissen, weshalb eine Allianz zwischen Israel und den Ländern am Golf, die den Iran in seine Schranken verweisen könnte, derzeit wichtiger ist als eine Lösung des alten Konflikts.“ Und dieses Bündnis, das vor wenigen Jahren noch undenkbar schien, ist ganz real geworden. Das zeigte bereits der Gipfel im Negev im März, als die Außenminister der USA, Ägyptens sowie Marokkos, Bahrains und der Vereinten Arabischen Emirate in Israel zusammenkamen. Konkrete Beispiele einer Zusammenarbeit gibt es bereits. So informieren sich Israel und die Vereinigten Arabischen Emirate gegenseitig in real time über mögliche Gefahren aus dem Iran. Dank dieser Kooperation hätte man schon einige Drohnen der Mullahs vom Himmel geholt, heisst es von Seiten israelischer Militärs. „Middle East Air Defence Alliance“, kurz MEAD, nennt sich das Ganze. Und gerne würde man weitere Partner hinzugewinnen, allen voran eben Saudi Arabien. Von einer Art arabischer NATO ist bereits die Rede, in der Israel mit seiner überlegenen Technik in Sachen Luftabwehrsysteme eine Schlüsselrolle spielen könnte.

Zweites großes Thema der Gespräche zwischen dem US-Präsidenten und Kronprinz Mohammed bin Salman dürfte daher neben einer Verbesserung der Beziehungen untereinander die seitens Washington gewünschte Annäherung zwischen Saudi-Arabien und Israel sein. Denn bereits im Vorfeld seiner Nahostreise hatte Joe Biden mehrfach hervorgehoben, dass die weitere Integration Israels in die Sicherheitsarchitektur der Region ein Ziel seines Besuchs sei. Er würde sich sehr dafür einsetzen, sagte er kurz vor seinem Abflug Richtung Tel Aviv. Und während in den israelischen Medien viel darüber spekuliert wird, was alles möglich sei, wenn das Eis zwischen Jerusalem und Riad erst einmal gebrochen ist, warnen manche Experten vor zu viel verfrühter Euphorie. „Wir werden auf dieser Reise gewiss nicht ankündigen, dass sich das Verhältnis zwischen Saudi-Arabien und Israel von heute auf morgen normalisiert“, erklärte Thomas R. Nides, US-Botschafter in Israel, kürzlich in einem Haaretz-Podcast. Wohl aber könnte dies der Beginn eines Prozesses sein, der „die Bedeutung der regionalen Sicherheit zeigen wird“, fügte er etwas kryptisch hinzu. Zwar gebe es zahlreiche Kommunikationskanäle zwischen den Regierungen in Israel und dem Wüstenkönigreich. Aber Saudi-Arabien hatte in der Vergangenheit immer wieder betont, dass man Israel erst dann anerkennen werde, wenn es zur Gründung eines palästinensischen Staates kommt.

Doch scheint dieses Mantra in Riad langsam an Gültigkeit verloren zu haben – nicht zuletzt deshalb, weil die korrupte und zerstrittene Führung der Palästinenser auch in Saudi-Arabien zunehmend auf Ablehnung stößt. In den alles andere als freien saudischen Medien wurde in jüngster Zeit zudem offen über die Option einer Normalisierung der Beziehungen mit Israel geschrieben und gesprochen. „Es ist klar, dass die neue, junge saudische Führung sich in diese Richtung bewegt“, lautet dazu die Einschätzung von Dan Shapiro, früherer US-Botschafter in Israel, gegenüber dem Sender CNBC. „Sie sieht Israel nicht länger als Gegner, sondern als künftigen Partner.“ Nur rechnen die meisten Experten erst mit einer grundlegenden Veränderung, wenn König Salman ibn Abd al-Aziz das Zeitliche gesegnet haben wird. Zwar führt sein Sohn Mohammed bin Salman seit geraumer Zeit de facto die Amtsgeschäfte. Doch auch er wird wohl zu Lebzeiten seines Vaters nicht diesen Tabubruch begehen und Israel anerkennen.

Mit leeren Händen muss Joe Biden aber nicht abreisen. Aller Voraussicht nach wird Riad grünes Licht geben, damit israelische Flugzeuge in Zukunft ganz normal den saudischen Luftraum durchqueren können – bis dato ist das nur Richtung Vereinigte Arabische Emirate möglich. Bald könnten EL AL oder andere israelische Airlines, die Destinationen in Fernost ansteuern, ebenfalls über das Königreich düsen, was die Flugzeiten nach Tokio oder Peking drastisch verkürzen würde. Und sogar Direktflüge für von Tel Aviv nach Mekka stehen gerade zur Diskussion. Auf diese Weise müssten israelische Araber für ihre Pilgerfahrt zu den wichtigsten heiligen Stätte des Islams nicht mehr nervige Umwege in Kauf nehmen.

Ausdruck der neuen Allianzen ist ebenfalls das am Donnerstag virtuell abgehaltene Treffen unter dem Titel I2U2-Forum, wobei Joe Biden und sein Amtskollege Yair Lapid von Jerusalem aus mit Scheich Mohammed bin Zayed al-Nahyan, dem Präsidenten der Vereinigten Arabischen Emirate sowie Indiens Premier Narenda Modi sprachen, auch das ein absolutes Novum. Gegenstand der Gespräche waren dabei der Ukraine-Konflikt, die befürchtete globale Nahrungsmittelknappheit und selbstverständlich auch die Bedrohungsszenarien am Persischen Golf.

„Abgesehen von Saudi-Arabien wird der Iran für Israel das Hauptthema während des Besuches des US-Präsidenten sein“, so das Fazit einer ungenannten diplomatischen Quelle gegenüber der Jerusalem Post. „Israel wird seine Position erläutern, dass es keinen Sinn ergibt, zu dem Atom-Abkommen zurückzukehren, weil die Zeit abläuft.“ Genau das hätten auch die indirekten Gespräche zwischen den USA und dem Iran in Doha gezeigt, die auf Vermittlung der EU zustande gekommen waren. Ihr Scheitern beweist, dass eine Wiederbelebung des Atom-Abkommen keine gute Idee ist. Ähnliches wird Joe Biden gewiss auch in Riad zu hören bekommen. An Themen, die in Jerusalem, Riad oder an anderen Orten auf seiner Nahostreise zur Sprache kommen, mangelt es also nicht. Nur eines ist sicher: Aufgrund der Verschiebung der Prioritäten spielt die Lösung des alten Konflikts zwischen Palästinensern und Israelis nicht mehr die Rolle wie früher.

Bild oben: Screenshot, Youtube IsraeliPM