„Ich bin ein Deutscher jüdischen Stammes“

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Vor genau hundert Jahren wurde Walther Rathenau von Angehörigen der völkischen „Organisation Consul“ ermordet. Als Jude und Außenminister der verhassten Weimarer Republik verkörperte der prominente Intellektuelle und Unternehmer alles, was die Feinde der Demokratie ablehnten und bekämpften.

Von Ralf Balke

„Da steht der Feind, der sein Gift in die Wunden eines Volkes träufelt. Dieser Feind steht rechts!“ Mit solchen Worten kommentierte im Reichstag Kanzler Joseph Wirth die Ermordung von Walther Rathenau. Nicht nur der Zentrumspolitiker war entsetzt über die Bluttat vom 24. Juni 1922, als Angehörige der völkischen „Organisation Consul“ den amtierenden Außenminister auf offener Straße im Berliner Nobelviertel Grunewald erschossen hatten. Hunderttausende in ganz Deutschland nahmen damals an den Trauerfeierlichkeiten teil, überall gab es Massendemonstrationen. Walther Rathenau sollte nicht der erste Politiker der jungen Weimarer Republik sein, der in das Visier der Feinde der Demokratie geraten war. Mitglieder der Freikorps sowie andere Rechtsextremisten hatten zuvor bereits unter anderem Karl Gareis sowie Matthias Erzberger brutal getötet. Ihrer Diktion zufolge handelte es sich bei ihnen allen um „Novemberverbrecher“, also Personen, die die Verantwortung an der Niederlage des Kaiserreichs tragen würden, weil sie der deutschen Armee in den Rücken gefallen waren – Stichwort „Dolchstoßlegende“. Zugleich, so der Vorwurf, der nicht nur in nationalistischen Zirkeln artikuliert wurde, hätten sie maßgeblich Anteil daran, dass der Diktatfrieden von Versailles umgesetzt werde, weswegen man Walther Rathenau wie auch andere als „Erfüllungspolitiker“ diffamierte.

Walther Rathenau war aber zweifelsohne das prominenteste Opfer einer langen Serie von Fememorden. Nur fünf Monate vor seinem gewaltsamen Tod hatte man ihn zum Außenminister ernannt, was an sich schon eine kleine Sensation darstellt. Denn niemals zuvor in der deutschen Geschichte hatte ein Jude einen derart wichtigen Posten erhalten. Und aufgrund seiner Herkunft wurde Walther Rathenau denn auch zur Zielscheibe Nummer Eins aller Feinde der Demokratie. „Auch Rathenau, der Walther, erreicht kein hohes Alter, knallt ab den Walther Rathenau, die gottverfluchte Judensau!“, so lautete einer der vielen Aufrufe zur Ermordung des Politikers. Verfasst hatte diese Zeilen übrigen Alfred Roth, seines Zeichens einer der Anführer des Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbandes und des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes. Wer sich gegen solche Hetze juristisch zur Wehr setzen wollte, hatte schlechte Karten. Oftmals sympathisierten deutsche Richter mit den Hetzern und Mördern.

Dabei war Walther Rathenau in der relativ kurzen Zeit, die er als Außenminister wirkte, ein Coup gelungen, der Deutschlands Isolierung in der Welt aufbrechen sollte, und zwar die Unterzeichnung des Vertrags von Rapallo am 16. April 1922. Die junge Weimarer Republik sowie die ebenfalls nur wenige Jahre alte Sowjetunion, beide so etwas wie die Parias der internationalen Politik, hatten damals beschlossen, diplomatische Beziehungen aufzunehmen, wirtschaftlich zusammenzuarbeiten sowie auf gegenseitige Kriegsentschädigungen zu verzichten. Die Westmächte zeigten sich entsetzt, sie sahen die Versailler Nachkriegsordnung, vor allem aber die Existenz Polens, dadurch in Frage gestellt. „Das Aufschäumen Frankreichs war die unangenehme Seite der Wirkung, aber sie brachte nur zum Ausdruck, was längst unter der Oberfläche gelegen hatte“, kommentierte Walther Rathenau in einem Brief an den ehemaligen Reichsinnenminister Erich Koch die Reaktionen. „Den übrigen Nationen gegenüber aber ist die Stellung Deutschlands so merklich gehoben, dass eine aktive Politik, wie wir sie alle erstreben, ihre erste Grundlage findet.“

Das Amt des Außenministers sollte nur eines von vielen sein, das der 1867 geborene Walther Rathenau im Laufe seinen Lebens bekleidete. So amtierte er von Mai bis Oktober 1921 ebenfalls als Wiederaufbauminister. In dieser Zeit brachte er mit Frankreich das sogenannte Wiesbadener Abkommen unter Dach und Fach, das Sachlieferungen an französische Kriegsgeschädigte zum Inhalt hatte. Qualifiziert für solche Ämter hatte er sich unter anderem durch seine Zeit als Leiter der Kriegsrohstoffabteilung im August 1914 und seinen Ruf, ein versierter Wirtschaftsexperte zu sein. Walther Rathenau sollte schon früh auf die Probleme der Beschaffung und Verteilung kriegswichtiger Rohstoffe hinweisen und verhinderte so eine schwere Materialkrise. Doch schon 1915 verabschiedete er sich wieder von diesem Posten. Der Grund: antisemitische Anfeindungen. Als einer der Ersten sah er die Gefahr, dass im Falle einer Niederlage Deutschlands, den Juden die Schuld dafür zugesprochen werden könnte. „Der Hass wird sich verdoppeln und verdreifachen“, schrieb er damals. Hinzu gesellten sich Vorwürfe der „Drückebergerei“ vor dem Wehrdienst und Vorteilsnahme im Amt. Sie richteten sich gegen ihn sowie andere prominente Juden wie Max Warburg und Arthur Ballin, die gleichfalls in dieser Behörde tätig waren.

Anfangs stand Walther Rathenau der Idee eines Waffengangs sehr kritisch gegenüber. Er plädierte vielmehr für den Ausbau einer wirtschaftlichen Vormachtstellung Deutschlands in Europa, entwickelte Vorstellungen von einer Art Zollunion, in der man anderen die Bedingungen munter diktieren kann. All das sollte ihn aber nicht daran hindern, im Verlaufe des Krieges radikale Forderungen zu stellen, beispielsweise die Heranziehung belgischer Zivilisten zur Zwangsarbeit oder die massive Bombardierung Londons und sich noch im Herbst 1918 für eine Fortsetzung der Kämpfe im Herbst 1918 einzusetzen – allesamt sehr widersprüchliche Vorstellungen. Aus dieser Zeit stammt auch eine bemerkenswerte Selbstbeschreibung, die seine innere Zerrissenheit in einer ganz anderen Frage zum Ausdruck bringt. „Ich bin ein Deutscher jüdischen Stammes“, schrieb Walther Rathenau 1918 in seinem Buch „An Deutschlands Jugend“. „Mein Volk ist das deutsche Volk, meine Heimat ist das deutsche Land, mein Glaube der deutsche Glaube, der über den Bekenntnissen steht. Doch hat die Natur, in lächelndem Eigensinn und herrischer Güte, die beiden Quellen meines alten Blutes zu schäumenden Widerstreit gemischt: den Drang zum Wirklichen, den Hang zum Geistigen.“

Walther Rathenau, der den allermeisten jüdischen Traditionen distanziert gegenüberstand, setzte sich dennoch immer wieder mit seiner Herkunft auseinander. So formulierte er 1897 in der jüdischen Zeitschrift „Die Zukunft“ eines der zentralen Dokumente, das sich mit Fragen der Assimilation in der wilhelminischen Gesellschaft auseinandersetzte. In dem Beitrag „Höre Israel“ forderte er „ein Ereignis ohne geschichtlichen Vorgang: die bewußte Selbsterziehung einer Rasse zur Anpassung an fremde Anforderungen“, wobei er Formulierungen wählte, die aus heutiger Sicht reichlich merkwürdig klingen und nicht ohne eine Spur Selbsthass daherkommen: „Inmitten deutschen Lebens ein abgesonderter Menschenstamm (…) Auf märkischem Sand eine asiatische Horde.“ Auch ansonsten hegte er publizistische Ambitionen, verfasste unter anderem eine neue Version der Golem-Geschichte. „Rathenau ist Chemiker den Studien nach, Bankdirektor in seinem sichtbaren Werk, Künstler nach Neigung, Politiker aus nationalem Bewusstsein“, brachte dies der mit ihm befreundete Schriftsteller Stefan Zweig 1912 einmal auf den Punkt. „Er ist Zentrum aller kulturellen Bemühungen in Deutschland, Mittelpunkt vielfachster Interessen.“

All das geschah ebenfalls aus Gründen, die im Kontext mit dem nicht ganz unproblematischen Verhältnis zu seinem Vater Emil stehen, dem Gründer der Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft (AEG), damals der weltgrößte Elektrotechnik-Konzern. „Er wollte auf eigenen Füßen stehen, und das hat er mit Nachdruck betrieben, und vor allem hat er einen eigenen Bereich sich aufzubauen versucht, der mit dem des Vaters nichts zu tun hatte“, so Lothar Gall, einer seiner Biographen. „Also, seine ganzen Interessen an der Literatur, an der Kunst waren auch gewissermaßen ein Element der Absetzung vom Vater.“ Seine einzigartige Rolle als Intellektueller, Wirtschaftsexperte mit den besten Verbindungen zu den politischen und militärischen Eliten sowie als deutscher Jude, der mit seiner Identität zu kämpfen hatte, regte viele Schriftsteller seiner Zeit an. So war seine Biographie Vorlage für Robert Musils Protagonisten Paul Arnheim in dem Buch „Mann ohne Eigenschaften“. Dieser wird darin skizziert als „ein Phänomen wie ein Regenbogen. Er spricht von Liebe und Wirtschaft, von Chemie und Kajakfahrten, er ist ein Gelehrter und Börsenmann. Mit einem Wort: Was wir alle getrennt sind, das ist er in einer Person.“

Auch für Lion Feuchtwangers Roman „Jud Süß“ von 1925, einer Parabel auf das jüdische Leben in der Weimarer Republik, stand Walther Rathenau als „Kaiserjude“, einer an den Begriff „Hofjude“ angelehnte Bezeichnung für Unternehmer und Bankiers jüdischer Herkunft, die beste Verbindungen zum Herrscherhaus der Hohenzollern hatten, gewissermassen Pate. Und genau wie im Falle Walther Rathenaus nimmt auch das Leben von Joseph Süß Oppenheimer, der erst dem Fürsten nützlich ist, um dann als Sündenbock für Politik des Herrschers geopfert zu werden, kein gutes Ende.