Von Radautz nach Haifa

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Erika Feiler, geborene Weinstein wurde 1932 eher durch Zufall in Czernowitz geboren.  Die Eltern lebten in Radautz in der Südbukowina, der Vater war dort Kinderarzt. Erika sollte in einem Krankenhaus auf die Welt kommen. In Radautz gab es nur Hausgeburten.

Von Christel Wollmann-Fiedler

Die Eltern der Mutter, die Familie Stamper, hatten ein großes Eisenwarengeschäft in der Krasnaia Armia in Czernowitz. Die Großmutter, Tante und der Onkel, wurden später wöchentlich in Czernowitz besucht, bis 1941 fuhr man hin und her. Dann plötzlich war das schöne und heile Leben in der Bukowina zu Ende. 1940 wurde die Bukowina für ein Jahr sowjetisch, rumänische Schulen wurden in russische eingetauscht. Während der 1. Russenzeit wurde notdürftig in privaten Wohnungen Unterricht in deutscher Sprache gegeben. Niemand aus ihrer Familie wurde von den Sowjets damals nach Sibirien deportiert.

Dr. Meier Weinstein, der Vater von Erika, war nicht nur Kinderarzt in Radautz, auch Kultuspräsident der Jüdischen Gemeinde. In Bologna in Italien hatte er Medizin studiert.

Erika und ihr Vater

1941 wurde die Bukowina wieder Rumänisch, das Leben hätte sich normalisiert, wenn nicht die SS eingezogen wäre. Trommler liefen durch Radautz und verkündeten, dass sich die jüdischen Familien mit 20 kg Gepäck innerhalb von 24 Stunden zum Bahnhof zu begeben hätten. Der Bürgermeister klopfte an die Tür und bat den Vater in der Stadt zu bleiben, weil man ihn braucht. Auch der andere Arzt Dr. Brecher sollte bleiben. Erikas Vater lehnte das Angebot ab. Er sei Kultuspräsident der Gemeinde und wolle mit seinen Juden mitgehen nach  Transnistrien. Mütter tauchten bei Weinsteins auf und baten den Doktor um Hilfe. Was sollen sie zum Abtransport für die Kinder mitnehmen, welche Kleidung wäre nötig, welche Medikamente? Erika war neun Jahre alt und erinnert sich sehr genau an den Rat des Vaters. Man solle vor allem in sämtliche Kleidungstücke den Vor- und Zunamen des Kindes nähen.

In Radautz gab es kein Ghetto, doch mussten die Juden den Gelben Stern tragen und durften nur zu bestimmten vorgeschriebenen Zeiten auf die Straße. Das Leben wurde eingeschränkt, außerhalb der Ortschaft wurden Menschen erschossen. Bei einer dieser willkürlichen Erschießungen wurde Erikas Onkel in Czernowitz getötet und in ein Massengrab geworfen, wie viele Hunderte, gar Tausende, später auch. Die Großmutter und die Tante wurden in Viehwaggons nach Mogilev abtransportiert und weiter nach Stargorod gebracht.

Erikas Familie, die Weinsteins, packten in Radautz ein wenig Habe in den Koffer und bewegten sich zum Bahnhof. In Viehwaggons wurden sie mit vielen ihrer Glaubensbrüder nach Transnistrien, nach Ataki transportiert. Viele Kilometer ging es dann mit Gepäck zum Dnjester. Auf Flößen setzten sie über den Fluss und letztendlich kamen sie in Mogilev an. Der Jude Schmiel (Siegfried) Jägendorf, der oft erwähnte Retter, brauchte für eine Eisenfabrik Arbeiter. Über tausende Juden wurden in der Fabrik beschäftigt, 10.000 Juden soll Jägendorf gerettet haben. Erikas Vater wurde als Arzt gebraucht, die Mutter arbeitete freiwillig im Waisenhaus.

An Krankheiten, schwerer Arbeit und Entkräftung starben Menschen in Transnistrien, in Mogilev und anderswo. Erschossen und erschlagen wurden Deportierte willkürlich. So manches Kind wurde Waise. Ein Waisenhaus wurde eingerichtet, wo Mütter freiwillig halfen, die vier Ärzte ebenso. Die Frauen kochten und versorgten die elternlosen Kinder, selbst Erika half, fütterte kleine Kinder, versuchte sie zu unterhalten und spielte mit ihnen.

Erika und ihre Mutter

Immer wieder betont Erika, dass es ihnen, der Familie Weinstein, besser ging als anderen. Der Beruf des Vaters verhalf ihnen zum Privileg, Es gab eher Nahrungsmittel. In Öl buk man das Brot und es wurden Erikas „Schnitzel“, das beste, das sie in Transnistrien gegessen hat. Ein Hohn der Geschichte, trotz des erbärmlichen Lebens. Noch heute backt sie sich hin und wieder das Brot in Öl und erinnert sich an Transnistrien.

Typhus grassierte in Mogilev, auch Erika erkrankte an Fleckfieber, kam davon und  überlebte. Fast vier Jahre musste Erika mit ihren Eltern und anderen Deportierten in Mogilev zubringen. Nach der Befreiung durch die Sowjets gingen sie direkt zur Großmutter nach Czernowitz. Lebensmittel waren knapp, wie überall in Europa nach dem Krieg. Ausgehungert waren die Menschen, das wenige, was sie hatten, mussten sie teilen. Erika hat der Großmutter nie verziehen, dass sie ihr, der Enkelin, weitere Kartoffeln verweigerte. Erika wollte sie für den nächsten  Tag aufheben. Doch schon vor der Deportation hatte Erika Probleme mit der Großmutter.

Zwei Wochen blieb die Familie in Czernowitz und ging dann nach Radautz zurück. Vier Schuljahre hatte Erika und die anderen Kinder verloren. In einem Monat musste sie die verlorene Zeit nachholen. „Wir wollten Jugend und Kindheit nachholen“, sagte sie und nicht lernen. Doch die Eltern wollten es. Mit sehr, sehr guten Noten machte sie 1951 Matura und sollte Medizin studieren. Nein, das wollte sie nicht. Psychologie war ihr Traum und Wunsch.

Warum ist der Mensch gut, warum ist der Mensch schlecht, warum peinigt er andere, warum mussten wir nach Transnistrien und vieles mehr, bewegte sie seit langem. Nur die Psychologie konnte ihr weiterhelfen und vielleicht ihre Fragen beantworten. 1951 ging sie zum Studium nach Bukarest, lernte während dieser Zeit Peter Feiler, den Mikrobiologen aus Kronstadt/Brasov, Siebenbürgen, kennen, den sie 1954 in Radautz heiratete. Im Tempel in Kronstadt stehen die Namen sämtlicher Feilers, die zum Bau der Synagoge gespendet haben. Nach dem Studium arbeitete Erika als Industriepsychologin in einem Transistorenkombinat und Peter Feiler in der Medizinischen Fakultät der Universität als Mikrobiologe, zusammen wohnten sie in Bukarest.

Ausreiseanträge an die Rumänische Regierung stellten sie einige, wollten nach Israel auswandern. Ihre Arbeitsstellen wurden sie los, nachdem  ihre Ausreisewünsche bekannt waren. Mit Deutschunterricht und Hilfe des Vaters hielten sie sich über Wasser. 1961 konnte Erika dann mit ihren Eltern und ihrem Mann nach Israel auswandern. Der Schwiegervater blieb in Kronstadt/Brasov und starb 1984 in Siebenbürgen. Über Constanza und Istanbul kamen sie mit dem Schiff in Haifa an.

40 Jahre hat Erika Feiler als Diplompsychologin in Haifa an ein und demselben Platz mit Verbrechern gearbeitet, um sie ins normale Leben zurück zu führen. Sie besuchte Gefängnisse und arbeitete mit der Polizei zusammen. Ihr Sohn wurde 1963 geboren, er lebt in Israel, ist verheiratet und hat zwei Töchter. In diesen Stunden wurde Erika Urgroßmutter. Vor dreißig Jahren, 1992, starb ihr Mann und sie wird im September neunzig Jahre alt. Erika ist dankbar, ein Geschenk Gottes, hat keinen Stillstand im Kopf und erinnert sich an alles, sagt sie. Alt werden ist eben schwere Arbeit!