Der Weg in den Dritten Weltkrieg

0
367

Nach Geheimaufzeichnungen aus dem Betriebsraum der AfD, um die selbst die Schlapphüte nicht wissen

Der Dritte Weltkrieg, unfassbar, aber wahr, ist in den letzten Wochen als Weiterentwicklung von Putins Horror-Krieg in der Ukraine näher gerückt als jemals gedacht seit der Kuba-Krise. Was macht man da? Nun, vielleicht allererst Entspannung, vielleicht nach Art des Untertitels. Denn „Geheimaufzeichnungen“ ist natürlich ein Witz: Wovon im Folgenden geredet wird, wäre im Prinzip ausnahmslos für jeden nachlesbar gewesen. Also auch für den Bundesverfassungsschutz nach Maaßen, auch liebevoll „Schlapphüte“ genannt. Die – das Nicht-Kursive deutet es an: was jetzt folgt, ist ein Zitat aus meinem „Schwarzbuch Neue / Alte Rechte“ (2021) – doch tatsächlich laut Spiegel Nr. 10/2021 „auf 1001 Seiten“ in einem „vertraulichen Gutachten“ zwecks Einordnung der AfD als „Verdachtsfall“ noch etwas in diesem Schwarzbuch nichts Erwähntes herausbekommen haben: nämlich dass Petr Bystron (AfD) im September 2020 auf Twitter eine Karikatur von Markus Söder (CSU) veröffentlichte „mit einer zum Hitler-Bart geschrumpften Maske“, „daneben der Satz: ‚Mund- und Nasenschutz keinesfalls über 88 Grad waschen.‘“ Folgt, übergangslos und im schlechten Deutsch, die Erläuterung: „Bei Neonazis ist die 88 der Code für ‚Heil Hitler‘, weil das ‚H‘ der achte Buchstabe im Alphabet ist.“ (Sp Nr. 10/6.3.2021: 38) „Sorry!“ an dieser Stelle via Spiegel, aber derlei Oberlehrerattitüde geht mir schwer auf die Nerven. Und, wie gesagt und dies nun erläuternd: „Chapeau!“ an die Schlapphüte, dass sie die Sache mit Bystron herausbekommen haben durch – so der Spiegel, ehrfurchtsvoll – Auswertung von „Hunderten Reden, Facebook-Postings und Auftritten von AfD-Politikern auf allen Parteiebenen.“ (ebd.) Freilich, womit nun das Wasser kommt zu diesem Wein: Um die, grob geschätzt, 1001 Seiten des vorliegenden Schwarzbuchs sinnvoll befüllen zu können, bedurfte es schon ganz anderer Quellen, Bücher und Aufsätze beispielsweise aus wenn schon nicht 1000 Jahren, so aber doch bevorzugt aus dem Tausendjährigen Reich sowie von jenen, die eben dieses als „Vogelschiss“ abzutun suchen. So gesehen gilt: Nichts gegen Schlapphüte – aber alles für „kritische Historie“ à la Nietzsche. Sowie: Nichts gegen „vertrauliche Berichte“ – aber alles für die mit diesem Schwarzbuch hoffentlich forcierte „öffentliche Rede“.

Nicht zu vergessen: Alles für einen Witz wie den folgenden vom Typ cooling down, den ich […] der Schaumburger Zeitung entnommen habe, einen Witz gezeichnet (im doppelten Sinne) von „Stuttmann“ (Chapeau!). Zu sehen ist ein auf Beobachtung befindlicher, im Grase liegender, mit Sonnenbrille und einem „VS“ auf seinem Schlapphut hinreichend als solcher gekennzeichneter Verfassungsschützer. Linksseitig über ihm der Spruch:

„Er leistete schon in den Fällen NSU, Terroranschlag Breitscheidplatz und Lübcke-Mord eine brillante Aufklärungsarbeit…!“

Dazu der dämlich in die Kamera blickende Schlapphut, sein Fernglas falsch, nämlich umgekehrt haltend:

            „Und jetzt ist die AfD dran!“

Tja, folks, das war […] der Witz, […], der sich fast wie ein vorweggenommener ironischer Kommentar zur zwei Tage später vorgelegten Berichterstattung des Spiegel über jenen 1001-Seitenbericht des Verfassungsschutzes liest. Gesetzt jedenfalls, diese Berichterstattung sei nicht ihrerseits als ironischer Kommentar gedacht gewesen – was mich, ehrlich gesagt, beruhigen würde. Und der, wie eben gesagt, den Untertitel dieses Beitrags erläutern soll. Der, dem Haupttitel zufolge, von dem Vorschlag der AfD handelt, wie man dem III. Weltkrieg mit dem Ziel der Revision der Korrektur der Ergebnisse des II. Weltkrieges näherkommen könne. Ein Vorschlag, der sich angesichts der aktuellen Realgefahren eines solchen Ereignisses irre ausnimmt. Wie, Sie glauben mir nicht, dass die AfD an derlei interessiert (gewesen?) sein soll? Dann passen Sie jetzt bitte ganz genau auf, bei diesem (mehrheitlich alten) Text

 Von Christian Niemeyer

Vorab: Alle im Folgenden dargebotenen Aufarbeitungen von Quellentexten stammen aus der Zeit vor Putins Krieg. Der, lange Zeit angestarrt wie ein abstruser Tanz auf dem Vulkan, hier und da mäßigend sich ausgewirkt haben könnte auf Neurechte in Deutschland. Und der dem Einen oder der Anderen Auftrieb gab in Sachen der Idee, doch vielleicht besser der heimischen Scholle zugewandt zu bleiben, um hier alles zum Brauneren hin zu ordnen. Wer aber kann uns dafür garantieren, dass ‚nur‘ dieses Ziel im völkischen Navi der Zukunft eingespeichert bleibt, nicht aber, sollte Putins Krieg und Putin der Vergangenheit angehören, nicht doch wieder das größere Ziel in Aussicht steht? Und zwar als das eigentliche Ziel der „erinnerungspolitischen Wende um 180°“, die Björn Höcke 2015  in Vorschlag brachte?

Deswegen: Frisch ans Werk resp. einen Text, der in jenem Buch unter der Überschrift Vom Ersten Weltkrieg zum Zweiten am Vorabend des Dritten. Oder: Vom Wandervogel zur Hitlerjugend zur Identitären Bewegung? Ein Problemaufriss über ‚vergessene‘ Zusammenhänge präsentiert wurde und hier unter der neuen Headline („Der Weg in den Dritten Weltkrieg“) erneut erscheint. Bitteschön (und immer daran denken: alle Zitatnachweise – dies als Tipp insbesondere an die offenbar zur Sparsamkeit verpflichteten Schlapphüte – im kostenlosen Online-Material des erwähnten Schwarzbuchs):

Rechtspopulistischem Denken scheint ein bellizistisches Motiv – so wie den Grünen (idealtypisch) ein pazifistisches – eingeschrieben, etwa als Nebenfolge des Anti-Europäertums, wie es sich im Trump-Slogan „America first!“ ausspricht, aber auch im Brexit, zu dem es 2016 in einer in dieses Buch aufgenommenen Glosse hieß:

„Diese Entwicklung hochrechnend, wird ein Europa der ‚Vaterländer‘ (Nietzsche) absehbar, ein mit den Zähnen knirschendes, wieder waffenstarrendes, sich misstrauendes Europa, wie wir es am Vorabend des Ersten Weltkrieges letztmals erlebten.“ (s. Glosse Nr. 74)

Inzwischen, fünf Jahre später, erweist sich dieser Satz durchaus als aktuell, ist insbesondere im deutschen Sprachraum, also unter Einbeziehung Österreichs und mithin der Identitären Bewegung, zu konstatieren: Revanchismus, dem innewohnt, die Ergebnisse des II. Weltkrieges nicht als unverrückbare gelten zu lassen, gilt wieder durchaus als Tugend. Neu-rechte Propaganda, organisiert mittels der von Marc Jongen verwendeten Vokabel Schuldkult, des Gleichen Alexander Gaulands Stolz auf eine tausendjährige deutsche (Erfolgs-)Geschichte, vor deren Hintergrund die monströsen Verbrechen aus der Zeit des Dritten Reichs nur als „Vogelschiss“ in Betracht kommen, geben deutliche Hinweise in diese Richtung. Dem korrespondiert Gaulands Widerstand gegen eine von der Holocaust-Überlebenden Esther Bejanaro gestarteten Petition, den 8. Mai (1945), also den Tag der Befreiung der Deutschen vom Nationalsozialismus (sowie der Befreiung von KZ-Insassen sowie weiterer NS-Verfolgter) zum Feiertag zu erklären mit dem Argument, es sei schließlich auch ein „Tag der absoluten Niederlage“ gewesen, also „ein Tag des Verlustes von großen Teilen Deutschlands und des Verlustes von Gestaltungsmöglichkeiten.“ (zit. n. SZ Nr. 258/2020: 2) Diese Argument ist revanchistisch und lässt für den Fall, die AfD erlange die Option auf Gestaltungsmöglichkeiten, Schlimmstes befürchten.

Hierzu passt der Unschuldsblick, mit welcher, wie bereits angesprochen (s. Prolog Nr. 2), der bisher nicht als Historiker aufgefallene AfD-Demagoge Michael Klonovsky in seinen Acta diurna 2017 unter der Losung ‚Japan ist es gewesen!‘ den Beginn des II. Weltkriegs auf Juli 1937 datierte (vgl. Klonovsky 2018: 482) oder der neu-rechte Historiker und AfD-Politiker Stefan Scheil im nämlichen Jahr (2017) für den 11. Dezember 1941 als Kriegsbeginn plädierte (SH 5: 164) – als habe nicht Hitler Schuld wegen seines Überfalls auf Polen, sondern die USA, die nach Pearl Harbour in den Krieg eintraten. Sinn dieser Übung: Die Kriegsschuldlüge nun in neuer Gestalt an die USA zu adressieren und die Klagen Polens als unberechtigt, da gegenstandslos zu erklären. Hierzu passt, was den Ersten Weltkrieg angeht, Martin Grundweg, der 2014 in Bd. 4 des nämlichen Handbuchs das Lemma Doorn-Haus Doorn unter Mißachtung der Gründe für des Kaisers Abdankung plus Ortswechsel nach dort abhandelte. (SH 4: 59 ff.) Dies klingt beinahe so, als bereite Grundweg sich vor auf seine Teilnahme an der von Jürgen Elsässer organisierten Geschichtskonferenz Freispruch für Deutschland vom Juni 2019 mit dem Ex-Bundeswehrgeneral Gerd Schulze-Rhonhof („Der Krieg, der viele Väter hatte“) als Stargast. In dessen Richtung geht auch Michael Klonovsky mit seinen ganz im Hitler-Jargon gehaltenen Eintrag vom 12. September 2017 (nicht 2019, so Linden 2019) aus seinen Acta Diurna über die bösartige „polnische Politik der Zwischenkriegszeit“, im Einzelnen:

„die Zwangspolonisierung der deutschen Beutegebiete, die Vertreibung von etwa einer Million Deutscher aus dem ‚Korridor‘, die außenpolitische Provokationslust des frechen Pimpfs, der die beiden erfahrenen Raufbolde Frankreich und England hinter sich wähnt, samt seiner lächerlichen Träume, auf Berlin zu marschieren.“ (Klonovsky 2018: 364)

Wer sich an dieser Stelle verdutzt die Augen reibt, weil er meint, ich hätte umgestellt auf ‚Radio Sportpalast‘ oder zitierte Edwin Erich Dwinger, dem sei versichert: nein, das war jetzt O-Ton ‚Radio Gauland‘, Herbst 2017, noch deutlicher: das war der trotz oder wegen (Selbsthass?) seiner polnischen Wurzeln von Polenhass zerfressene neu-rechte Hitler-Imitator Nr. 1, aufgebracht vom Zorn über „aus dem Nichts erhobene polnische Reparationsforderungen für die Weltkriegszerstörungen“ (ebd.: 364) und deswegen am Ende noch nicht einmal vor Polenwitzen zurückschreckend wie

„Der Pole ist halt ein unbelehrbarer Nationalist und will nicht mal seine Weiber teilen.“ (ebd.: 365)

Oder, zwei Jahre später nachgereicht:

„Vorschlag zur Güte an die Polen: Deutschland zahlt ihre Reparationsforderungen, dafür geben sie uns Schlesien zurück, und dort siedeln wir die ganzen Asylanten an bzw. dorthin um.“ (Klonovsky 2020: 372)

Wer jetzt lacht, wie die meisten der begeisterten Follower Klonovskys, geht damit diesem perfiden Demagogen vollends auf dem Leib und klebt, wie eine Fliege an jenem Zuckerbrot, mittels dessen die hier benutzte Peitsche und die mit ihr uns allen eingebläute Botschaft versüßt wird.

Unbedingt zu beachten dabei: Dass diese Lektion als Nachtrag gelesen werden darf zu Klonovskys Loblied auf Christopher Clark vom 24. September 2013 (vgl. Klonovsky 2015: 162 ff.), dem wenig später ein solches folgte auf den Freiburger Emeritus Hans Fenske. (ebd.: 214) Insoweit wird man durchaus von einer konzertierten Aktion rechtsradikalen Geschichtsrevisionismus‘ sprechen dürfen, komplettiert durch Fenske, der es 2019 fertigbrachte, den Inhalt seines seinerzeit von Klonovsky gelobten sowie von seinen neu-rechten Gesinnungsgenossen Benjamin Hasselhorn und Hans-Christof Kraus positiv rezensierten (vgl. Weber 2020) Buches Der Anfang vom Ende des alten Europa (2014) in einer im rechtsradikalen Verlag Junge Freiheit erschienenen Festschrift für Karlheinz Weißmann auf nun nur noch sechs Seiten zusammenschnurren zu lassen, um zweierlei darzutun:

  • Deutschland ist nicht schuld am Ersten Weltkrieg!
  • Deutschland ist nicht schuld an Hitler, vielmehr seien es „die leitenden Staatsmänner Englands und der USA“, die „einen Clemenceau-Frieden verhindert [hätten]“, mit welchem die „NSDAP […] nicht zu einer starken Kraft herangewachsen und Hitler gewiß nicht Reichskanzler geworden [wäre].“ (Fenske 2019: 83 f.)

Ganz klar: Dies ist kaum mehr als die Wiederholung der  zwanzig Jahre alten Mär Weißmanns aus seinem neu-rechten ‚Schlüsselwerk‘ Der nationale Sozialismus. Ideologie und Bewegung 1890-1933 (1998), dessen zentrale Botschaft Josef Schüßlburner 2010 auf den (für die Neue Rechte!) trefflichen Punkt brachte, „daß vor allem die französische Kultur mit dem NS schwanger gegangen war und schon deshalb der historische NS – der nur aufgrund des insbesondere von Frankreich zu verantwortenden Versailler Vertrages eine Chance zur Machtergreifung in Deutschland bekommen konnte – kein Argument dafür darstellt, noch im mittlerweile 21. Jahrhundert die Deutschen durch Pluralismusbeschränkungen zu diskriminieren.“ (SH 2: 164) Man ahnt düster, was dies heißt: Frankreich ist schuld, qua Versailles auch an Hitler, letztlich aber auch an der AfD-Hetze („Pluralismusbeschränkung“), insofern man dieser zu Unrecht unterstellt, irgendetwas mit Hitler am Hut zu haben. Was dabei als störend unter den Tisch fällt, ist die Frage des sowjetischen Hauptanklägers in Nürnberg an den vormaligen OKW-Chef Wilhelm Keitel vom 6. April 1946: „[G]ehörten Wien, Prag, Belgrad, die Krim vor dem Versailler Vertrag zu Deutschland?“ (IMN, Bd. X: 699) Eine rhetorische Frage, selbstredend – ebenso rhetorisch wie meine Frage an die Putin-Freunde in der AfD: Gehört die Krim nicht eigentlich zur Ukraine?

Anschlussfähig an Überlegungen wie diese: Die 2013 von der neu-rechten Publizistin Cora Stephan in Die Welt herzlich begrüßte (vgl. Wolf 2017: 47; Conze 2020: 233 f.) Mär aus Christopher Clarks Jahrhundertbestseller (Erstauflage: 100.000 Exemplare) Die Schlafwandler (2013), Deutschland jedenfalls sei nicht schuld am Ersten Weltkrieg, eher schon Frankreich et al. – ein Buch, dessen monströser Erfolg speziell in Deutschland sich mit exakt dieser Botschaft erklären könnte. So jedenfalls Heinrich August Winkler (2014) in der Zeit unter der genialen Überschrift Und erlöse uns von der Kriegsschuld, damit die nachfolgend etwa von Helmut Donat (2014: 258 ff.), vor allem aber von Klaus Gietinger (2017), unter der von Winkler nahegelegten Chiffre Der Seelentröster geradezu vernichtende Kritik an Clark präludierend. Keine gute Nachricht wiederum für Anhänger des Kritisierten[1] sowie diesen selbst, der unlängst vehement, aber ohne wirklich gute Argumente replizierte. (vgl. Clark 2020: 295 ff.) Keine gute Nachricht aber auch für die (deutsche) Neue Rechte, in deren Musterorgan Junge Freiheit Clark seine Botschaft 2014 persönlich zu Gehör hatte bringen dürfen (vgl. Wolf 2017: 49 f.) und nun sich schmählich allein gelassen fühlen muss. Immerhin: Der Effekt der Clark-Intervention ist wohl nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Und er könnte, so deutet Eckart Conze mit kritischem Seitenblick auf die Clark-Anhänger wie Herfried Münkler und Dominik Geppert an, dahin gehen, „einer stärker an ‚nationalen Interessen‘ ausgerichteten Außenpolitik das Wort zu reden, um für mehr nationales Selbstbewusstsein zu werben oder gar um einen angeblichen deutschen ‚Schuldstolz‘ zu bekämpfen.“ (Conze 2020: 239)

Deutlicher: Clark & Co. arbeiten, ob nun intendiert oder in aller Unschuld, einem Geschichtsrevisionismus à la Rechtsaußen vor, der offenbar zweierlei wieder in Geltung zu setzen beabsichtigt: (1.) die „Kriegsschuldlüge“ sowie (2.) die „Dolchstoßlegende“, also die Mär, dass der Erste Weltkrieg ohne den inneren Feind, „Juden, Defätisten, Pazifisten, Sozialisten und Kommunisten“ beispielsweise, gewonnen worden wären. Bewusst ignoriert wurde – so weiland der Hamburger Historiker Fritz Fischer (Griff nach der Weltmacht [1961]), den ich hier zitiere –, dass es durch diese „zweifache Weigerung der deutschen Nation, die Wahrheit zu sehen und anzuerkennen“, überhaupt erst möglich gemacht wurde, „daß dieses Volk in eine neue Wiederaufrüstung, in eine neue expansionistische Politik und schließlich in einen zweiten Weltkrieg geführt wurde.“ (Fischer 1991: 65) Kein Wunder, so betrachtet, dass Fischer sich damals, etwa im Dezember 1961 durch Theodor Schieder vorgetragen, dem Vorwurf ausgesetzt sah, mit seiner Kriegsschuldthese einer „nationalen Katastrophe“ vorgearbeitet zu haben (vgl. Conze et al. 2000: 616). Posthum sowie neuerlich als auch neuerdings (2017), diesmal aus der Feder des jede Publikation Christopher Clarks auf Sezession herzlich begrüßenden neu-rechten Ideologen Erik Lehnert des – zuvor allerdings von Michael Klonovsky (2015: 212; 2016: 150) ungleich giftiger vorgetragenen – sieht er sich dem Vorwurf ausgesetzt, seinerseits seit 1933 überzeugter Nationalsozialist gewesen zu sein und, so Lehnerts Alleinstellungsmerkmal, seine a.o. Professor 1942 dem NS-Historiker Walter Frank zu verdanken (SH 5: 180 f.), bekannt auch als Herausgeber der Werke von Carl Peters. (s. Essay Nr. 10)

Kaum weniger genehm, aus neu-rechter Sicht: Dass Fischer schon durch Fenskes Großvater im Geiste, wie etwa Caspar von Schrenck-Notzing, heftig kritisiert wurde, zusammen mit dem Münchener Institut für Zeitgeschichte. Tatsächlich handele es sich hierbei, so Schrenck-Notzing in seinem von der Welt am Sonntag seinerzeit zum „Standardwerk“ hochgejazzten und noch 2019, wie gesehen (s. Prolog), von Caroline Sommerfeld zustimmend beigezogenen Buch Charakterwäsche, um eine zentrale, von Amerikanern gegründeten „Institution der Geschichtsbildkontrolle, auf die Hessen seinen Einfluß im Sinne der Ausgestaltung zu einem Propagandaministerium geltend zu machen suchte.“ (Schrenck-Notzing 1996: 243) Sinn der Übung, damals wie heute, also auch Sinn der Übung von Lehnert 2017 sowie von Fenske 2019: Die Marke ‚Deutschland‘ von jedem Schmutz freizuhalten, und zwar gleichsam von Beginn an. Damit ist Benjamin Hasselhorns Job in dieser neu-rechten Gesamtstrategie recht gut beschrieben: Es gelte, „mit der Verteuflung der letzten deutschen Monarchie Schluss zu machen“, lautet das Credo seines hin und wieder erstaunlich brüsk argumentierenden Buches Königstod (2018), „das deutsche Kaiserreich“ sei „kein militaristischer Schurkenstaat“ gewesen und schon gar nicht „Ausdruck eines angeblichen deutschen Sonderwegs.“ (Hasselhorn 2018: 167) Die letztgenannte Vokabel ist entscheidend – und beseitigt handstreichartig jeden Ballast beim Streben nach einem erneuten Griff der Deutschen nach der Weltmacht, etwas zeitgemäßer geredet: beim Bemühen, die Deutschen tauglich zu schreiben für die Vorantreibung einer erquicklichen Zukunft Deutschlands unter Führung jener Partei, die sich ersatzweise schon einmal als Alternative für selbiges in Vorrat hält. Auf der Schattenseite jener Übung zu verzeichnen: Das Schweigen Fenskes (sowie seines Vorläufers) und seiner Claqueure über die meisten der im Folgenden dazulegenden Hintergrundinformationen zum ‚Ausbruch‘ des Ersten Weltkrieges und seiner Folgen.

Zu dieser Art der Neumischung der Karten nach dem im Prolog dieses Buches beschriebenen Schema der „Ideologisierten Wahrheit“ (Adorno) passt die kaum verhohlene Sympathie wesentlicher Teile der AfD für das völkerrechtswidrige Agieren Putins auf der Krim, will sagen: Beide Aspekte, Fenskes Geschichtsklitterung und jene der AfD bezüglich Putin, machen es erforderlich, sich grundlegend den Einzelheiten der beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert zuzuwenden und insbesondere die Logik des Zweiten Weltkrieges – als Kolonialismus II, diesmal nicht durch Versklavung der Afrikaner, sondern, dem Antislawismus folgend, von Slawen – zu verstehen. Dann nämlich ist der kaum verhüllte Rassismus und die Islamophobie rechtspopulistischer Flüchtlingsgegner mitsamt ihrer Fantasien, die Festung Europa auszubauen und Flüchtlingswillige vor Ort in Zeltlagern (wie Moira auf Lesbos) zu sammeln, nicht weniger als der Vorschein des Dritten Weltkriegs (der, so betrachtet, längst schon begonnen hat, vermutlich 2015 in Heidenau; s. Glosse Nr. 4). Schauen wir deswegen einmal etwas genauer hin, beginnend mit dem Ersten Weltkrieg.

In der Frage nach seinen Ursachen und Folgen ist in den letzten Jahren einige Bewegung gekommen, wobei wir uns ab jetzt die Freiheit nehmen, von den Absurditäten eines Hans Fenske in dessen Interesse zu schweigen. Mitteilenswerter scheint da schon der Hinweis, dass, vom Hitlervorläufer Paul de Lagarde aus betrachtet (s. Essay Nr. 8) – den Christopher Clark (2013), fraglos nicht zufällig, ignoriert, nebst anderen Gleichgesinnten wie Paul Rohrbach (vgl. Gietinger 2017: 138) – die Sache eigentlich klar scheint, deutlicher: von Lagardes Interesse an Funktionalisierung der als „Rekruten“ (Lagarde 1885: 380) verstandenen Jugendlichen für ein völkisch orientiertes Erwachsenenideal, das mittels seiner kriegstreiberischen Zwecke Anschluss versprach an die Mentalität der 1870er Generation. Der Erste Weltkrieg ist dann nämlich nicht, wie zünftige Historiker im Nachgang zu George F. Kennan und Hans-Ulrich Wehler gerne suggeriert haben, die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ mit der Variante: es gehe bei ihm um den Auftakt zu einem „Zweiten Dreißigjährigen Krieg“. (Weinrich 2013: 9 f.) Gewiss, diese Gleichung selbst scheint plausibel und entspricht ganz der 1941 aus dem unmittelbaren Erleben des Frankreichfeldzugs niedergelegten Einsicht des (vormaligen) Wandervogel und Kriegs- sowie Naziliteraten Edwin Erich Dwinger:

„Es ist für uns gar kein neuer Krieg, wir setzen ihn nur einfach fort!“ (Dwinger 1941: 28)

Plausibel scheint auch die ganze, die Vokabel ‚Urkatastrophe‘ fraglos stärkende Gleichung nach dem Muster: Ohne den Ersten Weltkrieg kein Lenin und kein Versailler Friedensvertrag, ohne Lenin, Stalin und Versailles kein Hitler, ohne Hitler kein Auschwitz, ohne Auschwitz kein Israel, ohne Israel kein Gaza-Streifen (ad infinitum?). Und doch ist damit noch längst nicht Lagarde aus dem Spiel, länger geredet: die von Volker Ullrich (1997) herausgearbeitete und letztlich auch von Aribert Reimann (2004) favorisierte These vom ‚langen 19. Jahrhundert‘, die sich auch bei Joachim Fest findet in Gestalt der Rede vom 19. als „Laboratorium des 20. Jahrhunderts“ (Fest 2000: 24) und die bereits bei Harry Pross (1962: 150 ff.) anklingt, ebenso wie in dem von ihm in Erinnerung gebrachten Geständnis Heinrich Manns aus dem Jahr 1919:

„Der Sieg von 1870 verlor sich nie in unserem Leben seither, er ward nie aufgesogen. Er vermehrte sich in unserem Blut wie ein Giftkeim, millionenfach. 1913 waren wir in Handlungen, Gedanken, Weltansicht und Lebensgefühl unendlich mehr Sieger als 1871. Wir waren unendlich prahlerischer und machtgläubiger, unendlich hohler und unsachlicher.“ (zit. n. Pross 1962: 259)

Auch Nietzsche – um dies noch anzumerken eingedenk der zahlreichen auf ihn bezüglichen Thesen in diesem Zusammenhang – war von jenem ‚Giftkeim‘ infiziert, kurzfristig zumindest. Dies belegt sein 1873er Zwist mit seinem ihm von seinem vorübergehenden Idol Richard Wagner aufgeschwatzten Lieblingsfeind, dem damaligen (jüdischen) Erfolgsschriftsteller David Friedrich Strauss, mit dessen kosmopolitischem Kulturverständnis sich, so Nietzsche damals böse, keine Feinde bezwingen ließen (vgl. Niemeyer 2011: 95 ff.). Diese Lesart der Dinge ließ sich durchaus der völkischen Lektion Wagners (auch jener Lagardes) einfügen, dass im für die Deutschen so erfolgreichen Krieg von 1870/71 die (kosmopolitischen) „Ideen von 1789“, wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, beerdigt wurden und ersatzweise die Basis gelegt worden sei für die (nationalistischen, auch bellizistischen) „Ideen von 1914“. So und ähnlich begann man jedenfalls ab 1915 unter dem Einfluss des vom Soziologen Johann Plenge geprägten Schlagworts (Ullrich 1997: 495) in deutschen Feuilletons zu reden, hinzufügend, die ‚Ideen von 1789‘ seien bloße „Händlerideale“ gewesen, die ‚Ideen von 1914‘ hingegen stünden für „deutsche Organisation, berufen […], jene älteren Ideen abzulösen.“ (zit. n. Pross 1959: 190) Und doch ist Nietzsche, zumindest aufs Ganze gesehen, will sagen: nach seinem Bruch mit Wagner (1876), dieser Lesart nicht einzufügen. Entsprechend ist der Erste Weltkrieg, entgegen der in diese Richtung weisenden Forschung sowie (Feind-)Propaganda (vgl. Niemeyer 1999), nicht der Krieg Nietzsches, sondern eher schon der Krieg von Elisabeth Förster-Nietzsches Nietzsche – Zusammenhänge, die zu erläutern hier allerdings nicht der Platz ist. (vgl. Niemeyer 2011: 137 ff.)

Sichten wir nun, ausgehend von dieser aufs Ganze gehenden Klarstellung, einige Fakten. Es ist schon richtig: Der – wie es zunächst hieß – ‚Große Krieg‘ begann am 28. Juli 1914 mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien, wurde aber mit der deutschen Kriegserklärung an Russland vom 1. August, vor allem aber mit dem deutschen Überfall auf das neutrale Belgien in der Nacht zum 4. August 1914 zu einem Weltkrieg, bei dem es von Beginn an zu deutschen Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung kam, ausgehend von „Horrorgeschichten von belgischen Gräueln“ und getragen von einer Verordnung von 1911, die ausdrücklich erlaubte, „fremde Staatsbürger, die Handlungen gegen deutsche Truppen begingen, an Ort und Stelle zu töten.“ (Gietinger 2017: 53) Es blieb Christopher Clark vorbehalten, die Kausalität umzukehren und Täter in Opfer zu verwandeln mittels der zynischen Bemerkung: „Viele Deutsche waren schockiert über die belgische Entscheidung, bis zum Äußersten Widerstand leisten zu wollen.“ (Clark 2013: 794; zur Kritik: Wolf 2017: 30 f.) Dazu passt, dass Clark seiner Lesart widersprechende Quellen ignorierte, etwa das von Helmut Donat (2014: 288) 1983 Fritz Fischer mit großem Interesse seinerseits anempfohlene Tagebuch eines Republikaners und Pazifisten (= Paris 1914) von Hermann Fernau (1883-1935), mehr als dies: Clark schreckte, wie Donat (ebd.: 262 f.) subtil nachzeichnete, nicht vor der Technik der selektiven Quellenpräsentation zurück, um, hineingelesen in die Botschaft über eine auf Januar 1914 datierten Beobachtung eine belgischen Gesandten aus Paris (vgl. Clark 2013: 401), Frankreich als besonders nationalistisch und chauvinistisch zu zeichnen.

Wie aber auch immer und wer auch immer: Die Folgen dieses schrecklichen Krieges inklusive Giftgaseinsatz waren entsprechend, am Exempel der Jugendbewegung gesprochen: Von den 10.000 Kriegsfreiwilligen aus der Jugendbewegung, so meldete Heft 4/1919 des Wandervogel, seien ca. 2.000 gefallen oder ihren Verletzungen erlegen, ca. 250 seien vermisst; eine 1940 am Turm der Burg Ludwigstein angebrachte Gedenktafel spricht gar von 7.000 Gefallenen (Mogge 2009: 126), unter ihnen, so Walter Laqueur (1962: 112), „einige der prominentesten Persönlichkeiten der Bewegung“, etwa (unter Auslassung des von Laqueur irrtümlich gelisteten Frank Fischer): Hans Breuer, Hans Wix, Walter Illgen, Christian Schneehagen, Rudolf Sievers, Otger Gräff, Fritz Kutschera und Hans Mautschka.

Um diese erstaunliche Opferbereitschaft der deutschen (Wandervogel-)Jugend verstehen zu können, muss man daran erinnern, dass selbst einer der an sich politisch unverdächtigen Fürsprecher der Jugendbewegung, Paul Natorp, am 17. September 1914 in der Kölnischen Zeitung den Umstand der (insgesamt) über zwei Millionen Kriegsfreiwilligen als Beleg dafür nahm, „daß es sich hier um ganz etwas anderes handelt als die Machtgelüste einer regierenden Kaste, die Bestätigungslust der Offiziere, die Interessen der Rüstungsindustrie oder die verschiedenen Träume der ‚Alldeutschen.‘“ (zit. n. Trommler 1985: 18) Dies so zu sehen, mochte sich noch mit Zensur und Kriegspropaganda erklären; der Rest indes war, volkstümlich geredet, auf Natorps eigenem Mist gewachsen:

„Der eine große Augenblick hat alle die finstern Geister hinweggefegt wie ein frischer Herbststurm die drückende Sommerschwüle. Schon die seit einigen Jahren überraschend aufgeblühte ‚Jugendbewegung‘ war ein fröhliches Vorzeichen, daß ein neuer Geist im Anzug war, ein heiliger Wille, auf die Gesundung des ganzen Volkes mit allen Kräften hinzuarbeiten.“ (ebd.)

Ob ausgerechnet Natorp der ‚Gesundung des ganzen Volkes‘ hoffnungsfroh hätte entgegenblicken sollen, darf hier vielleicht als stilles Bedenken angefügt werden. Gravierender: Es war Natorp gewesen, der an der Abschaffung der Meißnerformel wesentlich beteiligt gewesen war (vgl. Niemeyer 2013: 180 ff.), womit ihm Mitverantwortung zukommt für die Abschaffung eines möglichen Kriegshemmnisses im Ideenhaushalt Jugendbewegter.

Wer diese Zusammenhänge allerdings nicht sieht oder ernstnimmt, auch nicht den als düsteres Vorzeichen in Sachen Mehrheitstauglichkeit der Meißnerformel zu lesenden Zittauer Antisemitismusskandal vom Mai 1913 (s. Essay Nr. 20), macht eine ganz andere Rechnung auf, und die geht so: Da der Krieg nur wenige Monate nach dem Meißnerfest ‚ausbrach‘ und diesem Fest bis auf den heutigen Tag nachgesagt wird, gleichsam für eine pazifistische Kundgebung zu stehen, gilt dieser Krieg verbreitet als ein dem Geist der Jugendbewegung widersprechendes Ereignis, beispielsweise, so Theodor Wilhelm vor gut fünfzig Jahren, als „makabre Gelegenheit […], aus dem Räsonieren und der Schwärmerei in die Welt der Tat und des Einsatzes hinüberzutreten“ (Wilhelm 1963: 17), etwas deutlicher und neuer, nämlich mit Heinz Bude geredet, der den Ersten Weltkrieg als ein „[w]ie aus heiterem Himmel“ (Bude 2000: 567) hervorbrechendes Phänomen las:

„Auf den jugendbewegten Elitismus folgte ein organisatorischer Populismus; die Hochschätzung des einzelnen wurde von der Verachtung des empfindsamen Charakters abgelöst; die Liebe zur lyrischen Ekstase schlug um in Gefesseltsein durch kollektive Hymnen.“ (ebd.: 569)

Mit Verlaub: Wer so daherredet, wie Jahre später Christopher Clark, der den Kriegsausbruch im Rahmen einer gegen Fritz Fischer gerichteten Wendung eine „Tragödie“ hieß und „kein Verbrechen“, bei dem es also keinen Sinn mache, nach einem „Schuldigen“ zu suchen (Clark 2013: 716), kennt die Quellen (Fischers) nicht zureichend und/oder hat kein Interesse, die Deutschen schuldig zu sprechen (wofür spricht, dass Clark uns sehr wohl jede Menge Schuldige präsentiert, etwa Russland, Frankreich sowie selbst England [vgl. Gietinger 2017: 64; Conze 2020: 234]). Eine dritte Möglichkeit: Er folgt, was die spezifische Frage der Schuld Jugendbewegter angeht, Ulrich Herrmann, der schon zehn Jahre vor Bude und völlig unbekümmert um die nur zwei Jahre zuvor zu Gehör gebrachte gegenläufige These Wolfgang Kaschubas (1989) den Ersten Weltkrieg als ‚Epochenschwelle‘ auch der Jugendbewegung las, die „gar nicht hoch genug veranschlagt werden“ könne, insofern mit dem Krieg das endete, was die Jugendbewegung antrieb: die „Suche nach dem ‚neuen‘, dem ‚ganzen Menschen‘ in einer ‚neuen Gesellschaft.‘“ (Herrmann 1991: 34) Stünden Wilhelm, Bude, Herrmann und die um sie herum gruppierten zahlreichen Euphemismen – etwa der im Nachsatz Herrmanns verborgene, die Intentionen ‚der‘ Vorkriegsjugendbewegung genial beschönigende – allein, könnte man derlei, anders als die ins erinnerungspolitische Kalkül der AfD passende Intervention Clarks, auf sich beruhen lassen. Indes hatte schon Günther Gründel noch einmal dreißig Jahre vor Theodor Wilhelm und insoweit aus durchaus zeitnaher Wertung heraus gemeint, die „eigentliche Jugendbewegung“ gelte heute „mit Recht“ als tot, insofern sie „den harten Schlag des Krieges und die Übergewalt seiner Folgeerscheinungen nicht überdauert [hat].“ (Gründel 1933: 20) Sollen wir also nicht besser doch dieser These folgen, zumal sie uns erlaubte, von der nach 1918 anhebenden bündischen Jugend komplett abzusehen, die, nach Jürgen Reulecke – auch dies ein altehrwürdiges, schon von Hermann Giesecke unter Berufung auf Walter Laqueur (Giesecke 1981: 96) vorgetragenes Argument – weniger eine Jugendbewegung gewesen sei als eine „von jüngeren Erwachsenen dominierte Bewegung“, Erwachsene im Übrigen, die „mehr oder weniger diffuse politische […] Ideen“ (Reulecke 1985: 211) vertraten?

Es muss erlaubt sein, diesem Fragezeichen ein zweites anzufügen: Wann hatten Erwachsene keine ‚diffusen politischen Ideen‘? So betrachtet gibt es keinen Grund, zwischen Jugendbewegung und bündischer Jugend zu unterscheiden, jedenfalls nicht nach Maßgabe des von Reulecke geltend gemachten Kriteriums. Eingeräumt sei lediglich, dass seine (und auch Herrmanns) These auf vielfache Zustimmung traf zumal im Kreis der Veteranen, weil sie es erlaubte, das Fragwürdige an der Jugendbewegung als fremdverursacht – etwa durch politisch desaströse Erwachsene – auszulegen, bei gleichzeitiger Distanz gegenüber der bündischen Jugend der Nachkriegszeit mit ihren durch die Erfahrung des Soldatendaseins verstärkten politischen Tendenzen. Dies allerdings kann kein Grund sein, einer nicht begründbaren These das Wort zu reden. Im Übrigen: Selbst Ulrich Herrmann wird wohl kaum in Abrede stellen können, dass die Meißnerformel (vom Oktober 1913) noch vor Kriegsbeginn unter Natorps Einfluss durch die sog. ‚Marburger Formel‘ (vom März 1914) ersetzt wurde (vgl. Niemeyer 2013: 175 ff.) Was damit beendet werden sollte, war die befürchtete ‚Epoche‘ einer von Erwachsenen letztlich nicht mehr steuerbaren Selbsterziehung (im Geiste der Meißnerformel) zugunsten der Verpflichtung der Jugend auf die zentralen Werte der Erwachsenen – auch der Werte übrigens, die im wenig später anhebenden Krieg in den Augen vieler in Gefahr standen, Insofern kann man fast von einer vorweggenommenen ‚Epochenschwelle‘ – wenn diese Vokabel überhaupt Sinn macht, – reden, die im Ergebnis eher als Prämisse denn als Folge des Krieges zu deuten ist und letztlich ja nur bekräftigt, was vor dem Meißnerfest überall im Umgang der Generationen Usus war, auch im Wandervogel: nämlich dass es im Zweifel die ältere Generation ist, die das Sagen hat. Dass dies auch in Themenbereiche hineinführte, die – um noch einmal Budes Euphemismen anzusprechen – mit ‚Liebe zur lyrischen Ekstase‘ nichts, mit Vokabeln wie ‚Nationalismus‘, ‚Militarismus‘ und ‚Bellizismus‘ hingegen viel zu tun haben, zeigt selbst der Aufruf zu einer Freiheitsfeier der deutschen Jugend (= Meißnerfest) vom Mai 1913, ganz zu schweigen vom Aufruf der Deutschen Akademischen Freischar, abgezeichnet von deren Bundesvorsitzenden Knut Ahlborn, über den die Kindt-Edition (Ki I: 557) nichtssagend urteilt im Blick auf die erst von Winfried Mogge wenig schmeichelhaft in Erinnerung gebrachten Fakten:

„Politisch erwies Ahlborn sich als flexibel zwischen USPD (1918) und NSDAP (1935). Er war aktiv in der NS-Volkswohlfahrt und im Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebund. […] Eine Karriere als SA-Sturmarzt stand einem Neubeginn nach 1945 nicht im Wege.“ (Mogge 2009: 129)

Wenig erstaunlich also, dass jener Aufruf (vom Mai 1913) mit den Worten beginnt:

„Angesichts der hundertjährigen Wiederkehr des deutschen Befreiungskampfes regt die Deutsche Akademische Freischar eine Gedenkfeier des jungen deutschen Geschlechts an. Fern vom Trubel der offiziellen Veranstaltungen möchten wir im Kreise Gleichgesinnter der ideal gerichteten Freiheitskämpfer gedenken und geloben, ihnen auf unsere Art nachzustreben: ‚Krieger zu sein im Heer des Lichts‘.“ (Ki II: 429)

Allzu anti-militaristisch klingt dies nicht.

Dazu passt, dass das Protokoll jener Besprechung vom 5./6. Juli 1913 in Jena, auf welcher das Meißnerfest geplant wurde, zwar Hinweise gibt auf ein kosmopolitisches Anliegen. Eugen Diedrichs beispielweise wollte das Fest ursprünglich als Zeichen für eine große Kulturbewegung mit geistig hochstehenden Rednern möglichst in Weimar inszenieren (vgl. Ki I: 484). Auf der anderen Seite findet sich aber auch Irritierendes, so beispielsweise der Vorschlag von Hans Wix, Hermann Lietz anstelle von Gustav Wyneken – den Diederichs als Redner abgelehnt hatte – sprechen zu lassen, was offenbar nur deswegen scheiterte, weil Lietz die Teilnahme am Fest abgelehnt hatte mit der Begründung, ihn zöge es mit seinem Landerziehungsheim nach Leipzig (ebd.: 487). Nicht minder irritierend ist der Umstand, dass der Deutsche Bund abstinenter Studenten Paul Rohrbach einzuladen vorschlug und damit offenbar nur scheiterte, weil Rohrbach nicht als guter Redner galt, wenngleich ihm attestiert wurde, „die Echtheit des Patriotismus“ (ebd.) zu verbürgen. Rohrbach, ev. Theologe, Publizist, Kolonialbeamter, bekannt geworden durch sein Buch Deutschland unter den Weltvölkern (1903), war also durchaus nicht so harmlos, wie es die Kindt-Edition suggeriert. Sie nämlich weiß zu ihm im Wesentlichen nur mitzuteilen, dass sein Buch Der deutsche Gedanke in der Welt (1912) „zu den Standardwerken der gebildeten Deutschen vor dem 1. Weltkrieg [gehörte] und […] in jedem Bücherschrank [stand], […] daher auch den Älteren der Jugendbewegung vertraut [war].“ (ebd.: 1045) Wichtiger und richtiger wäre es gewesen, darauf hinzuweisen, dass Rohrbach einem Kulturimperialismus als Maxime der deutschen Außenpolitik das Wort redete und beispielsweise 1915 als Teil der „Baltenlobby“ Einfluss nahm auf die deutsche Besatzungspolitik in Litauen und Kurland (Ullrich 1997: 430). Außerdem hätte man erwähnen können, dass Rohrbach, der nach 1933 eine dem Geist der Zeit Rechnung tragende Politische Weltkunde (1937) vorlegte, mit seinem Buch Deutschtum in Not (1926) dem Diskurs um ‚Grenzlandfahrten‘ der bündischen Jugend neuen Auftrieb gab (vgl. Niemeyer 2013: 120 ff.).

Wie auch immer: Im Ergebnis überrascht nicht, dass man einige Einladungsschreiben zum Meißnerfest der hiermit markierten Tendenz zuzurechnen hat. So fügte sich beispielsweise der Österreichische Wandervogel deutlich in die Tradition der Jahrhundertfeier anlässlich der Völkerschlacht bei Leipzig ein und definierte sich denn auch in seinem Einladungstext zum Meißnerfest konsequent als „Vorwacht gegen fremde Nationen und Rassen.“ (Mogge/Reulecke 1988: 94) Die Deutschen Landerziehungsheime verpflichteten sich der „Erziehung zu nationaler Gesinnung und Tat.“ (ebd.: 99) Der Dürerbund beabsichtigte eine „Neukräftigung des Deutschtums“ und fügte vieldeutig an, „daß mit den politischen Grenzen des deutschen Reichs nicht die geistigen des deutschen Vaterlandes zusammenfallen.“ (ebd.: 105 f.) Und der Deutsche Vortrupp-Bund nahm sich vor, „unser ringendes deutsches Leben zu Höherem umzuschaffen.“ (ebd.: 109) Auch die dem Einladungsschreiben zum Meißnerfest beigegebenen Freundesworte gehorchten mehrheitlich der hiermit markierten Tendenz. Der österreichische Arzt und Biologe Max von Gruber beispielsweise schwärmte unverhohlen von „Soldaten, die im Sturm der Begeisterung auf den Schlachtfeldern von 1813 ihr Leben gelassen haben, als es galt, Deutschland aus seiner tiefsten Erniedrigung zu befreien; ihnen blieb die Rückkehr in die Kleinlichkeit des Alltags erspart.“ (ebd.: 156) Hierzu passten Formeln Karl Henckells wie

„Garde der Zukunft, schimmernd im goldroten Frühlichtschein. Du bist die kämpfende Truppe des neuen Volkes im Land.“ (ebd.: 164)

Nicht minder fragwürdige Semantiken produzierte Adalbert Luntowski, ab 1918 des herrschenden Antislawismus mit dem schönen Namen Adalbert Reinwald zeichnend. (vgl. Niemeyer 2013: 121 ff.) Als solcher beschwor er die „Germanische Moderne“, sah Siegfried über das „deutsche Land“ schreiten, fabulierte vom „neugermanischen Menschen“, den wir „schaffend ersehnen“, um zu schließen mit:

„Das deutsche Kulturkommando will hörbar werden. Heil!“ (zit. n. Mogge/Reulecke 1988: 202)

Nicht absehen kann man in diesem Zusammenhang schließlich von dem Umstand, dass der österreichischen Wandervogelführer Fritz Kutschera für eine 1913 von den Mödlinger Wandervögeln durchgeführte Hundertjahrfeier anlässlich der Leipziger Völkerschlacht die folgenden Zeilen verfasste: „Verlernt den Haß nicht und das edle Zürnen, / Droht unserm Volk und seiner Art Gefahr.“ (zit. n. Thums 1972: 81) Denn dann wird klar, und zwar gegen Jürgen Reulecke (2006: 314): Die Stimmung im Vorfeld des Meißnerfestes ging mehrheitlich sowohl in Deutschland als auch in Österreich auf Krieg im Sinne des Festzurrens von so etwas wie männlicher Tatkraft und Verteidigungsbereitschaft im Dienste einer deutsch-völkischen Leitkultur.

Auflösbar wird von hieraus auch das noch von Peter Hofstätter staunend vermerkte „Rätsel“, wie „merkwürdig nahe“ Wilhelm II. der Jugendbewegung stand, in der Umkehrung gesprochen: wie auffällig es sei, dass man auf dem Hohen Meißner nicht an Gerhart Hauptmanns ‚Festspiel in deutschen Reimen‘ gedacht habe, welches im Juni 1913 zu einem Skandal geführt hatte, weil Hauptmann die Mächtigen als Marionetten auftreten ließ „und am Ende die Göttin Athene […] die durch Eros und Geist bewirkten Taten des Friedens feierte.“ (Hofstätter 1975: 143) Denn es war zwar nicht so, dass man im Umfeld der Jugendbewegung den Hauptmann-Skandal nicht mitbekommen hatte. Das Protokoll des Jenaer Vorbereitungstreffens vom 5. und 6. Juli 1913 verzeichnet beispielweise unter dem Tagesordnungspunkt ‚Festspiel‘ als eines von vier denkbaren Projekten – unter ihnen Ibsen und Goethe – Hauptmanns Festspiel (Ki II: 488). Zu verweisen ist des Weiteren darauf, dass Walter Benjamin seinem damaligen Mentor Gustav Wyneken unter dem Datum des 19. Juni 1913 auf den Hauptmann-Skandal hingewiesen und hierzu eine Sondernummer der Zeitschrift Der Anfang angeregt hatte, um dies als Anlass dafür zu nehmen, „daß die Jugend in die Ratlosigkeit […] der Öffentlichkeit mit ihrer klaren Stimme fährt.“ (zit. n. Götz v. Olenhusen/Götz v. Olenhusen 1982: 126) Indes täuschte sich Benjamin schlicht über das Vorhandensein eben dieser ‚klaren Stimme‘ – und so blieb es denn auch bei diesem Plan, will sagen: die Redaktion dieser Zeitschrift zerstritt sich über diese Frage, so dass nur Benjamins Beitrag zu diesem Thema im Augustheft erscheinen konnte (Benjamin 1913/14).

In der Summe betrachtet hatte man mithin damals gar nicht jenes Interesse am Frieden, wie es im Nachhinein, im Zuge der Glorifizierung des Meißnerfestes, immer behauptet oder auch nahegelegt wurde. Etwa auch durch die Kindt-Edition, welche wohl nicht ganz zufällig einen von Heinz von Wartburg aus der Rückschau (1963) verfassten Bericht über die schon unter den Zeichen des kaum noch vermeidbaren Krieges stehende Salzburger Bundestagung am 24. und 25. Juli 1914 präsentierte, auf der auch der Bundesleiter des Österreichischen Wandervogel, Ernst Keil, eine Ansprache gehalten habe, von deren Inhalt man allerdings in der Kindt-Edition nichts weiter erfährt – wohl nicht zufällig, wie man vermuten darf angesichts der hier zu besichtigenden Verharmlosung Keils als eines Deutschösterreichers, „der die Gefahr des Panslawismus schildete.“ (Ki II: 503) Denn immerhin hatte Keil schon auf dem Meißnerfest im Interesse der angeblich bedrohten Deutschösterreicher zu Grenzlandfahrten aufgerufen und seine Rede „‚vor der verblüfften Menge‘ mit dem Ausruf ‚Waffen hoch!‘ (‚Reicher Beifall‘, laut Protokoll)“ (zit. n. Ursin/Thums 1961: 315) beschlossen – ein Text übrigens, den man in der Kindt-Edition umsonst sucht. So muss man wohl agieren, wenn man, wie Kindt, in der Hauptsache auf die Botschaft jenes Heinz von Wartburg abstellt, der die Mentalität vom Juli 1914 im Rückblick mit den Worten meint fassen zu dürfen:

„Wir naiven Friedenskinder, die jungen Herzen erfüllt vom idealen Streben und glühender Begeisterung, sahen die Welt durch die rosarote Brille romantischer Einsatzbereitschaft für Volk und Vaterland.“ (Ki II: 343)

Wer der Wahrheit habhaft werden will, muss andere Texte konsultieren und weiter zurückgehen, beispielsweise bis hin zu Ludwig Gurlitt, der den Wandervogel schon 1903 als „Vorschule zum Militärdienste“ (Gurlitt 1903: 548) gelobt hatte. Und von hier aus muss man wahrscheinlich sogar noch zurückgehen bis auf die Rede Wilhelms II. vom Dezember 1890, die eine Schulreformdebatte auslöste, deren zentraler Akzent nicht übersehen werden darf: Der Kaiser hatte die Schule kritisiert, weil sie seinen Vorstellungen in Sachen der Erzeugung einer kriegstüchtigen Jugend nicht entsprach. Ein Vertreter des Kriegsministeriums formulierte denn auch im Zuge dieser Debatte als ein wesentliches Erziehungsziel, „daß der Soldat im Kriegsfalle, in der Stunde der Gefahr uns nicht versagt, sondern mit Bewußtsein uns gern folgt in den Tod für Kaiser und Reich, für König und Vaterland.“ (zit. n. Wolschke-Bulmahn 1989: 252) 1890 also, so könnte man folgern, wurden die Grundlagen für die Kriegstauglichkeitserklärung des Wandervogel gelegt, die Gurlitt 1903 vornahm – und zu deren weiterer Vorgeschichte die Gründung des Zentralausschusses zur Förderung der Volks- und Jugendspiele (1891) mitsamt der Auslobung der Frage: „Inwiefern nützen Jugend- und Volksspiele der Armee?“ (1893) gehört, ebenso wie die 1899 – ein Jahr nach der Entscheidung zum Flottenausbau – erfolgende Gründung eines Ausschuß zur Förderung der Wehrkraft durch Erziehung (Wolschke-Bulmahn 1989: 253; vgl. auch Pross 1964: 153). Joachim Wolschke-Bulmahn fasste die in diesem Zusammenhang wichtigsten Fakten zusammen:

„Das Kriegsspiel war bereits früh Bestandteil jugendbewegten Lebens. So veranstaltete der Wandervogel Deutscher Bund für Jugendwanderungen von Anfang an systematisch Kriegsspiele, zum Beispiel 1907 auf seinem ersten Bundestag in Jena. Am zweiten ‚Nordischen Kriegsspiel‘ in der Lüneburger Heide nahmen fast 400 Wandervögel teil. Auch der Hamburger Wanderverein und dessen Nachfolger, Der Bund deutscher Wanderer, maßen dem Kriegsspiel von Beginn an eine zentrale erzieherische Bedeutung zu.“ (Wolschke-Bulmahn 1989: 258)

Auch Ulrich Herrmann betonte die Bedeutung der Kriegsspiele als „Brücke gemeinsamer Aktivitäten von Wandervögeln und Pfadfindern.“ (Herrmann 2010: 18) Erst dieser Hintergrund erklärt das Beispiel des in den ersten Kriegstagen gefallenen Postinspektors Ernst Semmelroth (nur spärliche biographische Daten, vgl. Mogge 2009: 105), der 1906 sein Debut gab als Nachfolger von Karl Fischer in der Bundesleitung des Alt-Wandervogel und also ausführte:

„[M]an hat den lockenden Becher, den die Moderne geboten, bis zum Grund geleert und ist nun auf den bitteren Bodensatz gestoßen. […] [W]ir wollen die Achtung vor deutschem Mannestum und die Verachtung aller nationaler oder internationaler Waschlappigkeit systematisch groß ziehen […], wir wollen mithelfen, Jünglinge und Männer zu bilden, die bereit sind, für ihr Vaterland zu leben, und wenn es not tut zu sterben. Und letzteres ist immer noch die Hauptsache.“ (zit. n. Mogge 2009: 105)

Ähnliche Äußerungen sind von Hans Breuer überliefert, der 34-jährig am 20.4.1918 bei Verdun fiel und „in der Geschichtsschreibung der Jugendbewegung meist als idealtypischer Jugendführer und Volksliedersammler verklärt [wird]“ (Mogge 2009: 105), zuletzt von Helmut König, der meinte, Breuer sei „einer der herausragenden Köpfe in der an guten Köpfen keineswegs armen neuen Bewegung“ (König 2006: 234), zuerst von Else Frobenius, die gut zehn Jahre nach Breuers Tod meinte, Breuer sei „einer der menschlich reifsten, besonnendsten Führer der Bewegung“ gewesen (Frobenius 21929: 21). Auch im Vorwort einer Sammlung von (ausgewählter) Primär- und Sekundärliteratur, 1977 erschienen in der u.a. von Günther Franz herausgegebenen Schriftenreihe des Archivs der deutschen Jugendbewegung, lesen wir: „Immer noch beeindrucken Gedanken und Sprache Hans Breuers. Und immer noch geht ein Leuchten über die Gesichter alter Freunde, wenn sein Name genannt wird.“ (Toepfer 1977: 9) Immerhin werden Breuers Texte hier ungekürzt präsentiert, im Gegensatz zur Kindt-Edition, die beispielsweise eine um gut ein Drittel gekürzte Version von Breuers Aufsatz Rückblick: Ilmenau-Arolsen (1911) darbot und dabei nicht nur auf Nebensächlichkeiten Verzicht leistete, sondern auch auf zentrale Aussagen wie etwa: „[E]s gibt für uns nur ein Wandervogeldeutschland, und das ist: soweit die deutsche Zunge reicht!“ (Breuer 1911: 72) Analoges findet sich in den diversen Vorworten zu Breuers Liederbuch Zupfgeigenhansl. Der junge Wandervogel – so lesen wir etwa im Vorwort zur 7. Auflage (1911) – solle aus diesen Liedern eine Ahnung dessen mitnehmen, „was deutsch ist“, denn wir hätten es „in unserer deutschen Art“ noch nicht so weit gebracht, „daß wir des Beifalls unserer Väter und Altvorderen entraten könnten.“ Das Vorwort zur 9. Auflage (1912) endet mit dem Wunsch, das Volkslied möge mitwirken „an dem inneren Streben der Nation, an der Vollendung des Deutschtums.“ Das Vorwort zur 10. Auflage (1913) bringt die Bemerkung: „Neue Kriegsnöte, neue nationale Sturmfluten werden auch wieder neue Volkslieder emportreiben. Unser Leben heutzutage, mit seiner Splitterei, seiner Auffaserung und babylonischen Sprachverwirrung ist dafür unfruchtbar.“ Und das – bezeichnenderweise nicht in die Kindt-Edition aufgenommene – Vorwort zur Kriegsausgabe (1915) eröffnete Breuer, inzwischen als kriegsfreiwilliger Sanitätssoldat selbst im Felde befindlich, mit den Worten: „Der Krieg hat dem Wandervogel recht gegeben, hat seine tiefe nationale Grundidee los von allem Beiwerk stark und licht ins unsere Mitte gestellt. Wir müssen immer deutscher werden. Wandern ist der deutscheste aller eingeborenen Triebe, ist unser Grundwesen, ist der Spiegel unseres Nationalcharakters überhaupt. Und nun laßt euch nicht irre machen! Jetzt erst recht gewandert! Erwandert Euch, was deutsch ist.“ Hierzu passt, was Breuer kurz vor seinem Tod dem Vater schrieb:

„Ich habe bewußt das Deutsche, das Nationale in dieser Sache [der des Wandervogel; d. Verf.] gepflegt und gefördert, lange schon, bevor der Krieg ausbrach, und der Krieg hat gezeigt, daß dieser Weg der richtige war.“ (zit. n. Helwig 1960: 64)

Äußerungen wie diese unterscheiden sich der der Substanz nach kaum von dem, was Führungsfiguren des 1911 auf Initiative des Kriegsministeriums gegründeten Jungdeutschlandbundes zu Papier brachten. Deren Ortsgruppe Wittenberg 1912 von der späteren NS-Jagdflieger-Ikone und, wie wir noch via Nils Wegner sehen werden (s. Essay Nr. 13.3.3), aktuellen Neu-Rechts-Ikone Rudolf Berthold geleitet wurde. Dessen Biograph Ludwig F. Gengler zu diesem Punkt 1934 zu Protokoll gab:

„Der Jugend unerschütterliches Nationalbewußtsein einzupflanzen, sie schon frühzeitig zu tüchtigen Vaterlandsverteidigern heranzuziehen, das war geradezu willkommene und herzerfreuende Ergänzung des manchmal recht schematisch trockenen Truppendienstes.“ (Gengler 1934: 23)

Dass es, ganz im Gegensatz hierzu, in Reaktion hierauf gelte, „der Jugend außerhalb der Schule ihre Freiheit und ihr Selbstbestimmungsrecht“ zu wahren und „die äußerliche Soldatenspielerei des Jungdeutschland-Bundes sowie jede politische Tendenz und jede geistige Einzwängung“ (Ziemer/Wolf 1961: 286) abzulehnen, war nur einer Minderheit – in diesem Fall: des Jungwandervogel – klar. Der Alt-Wandervogel hingegen unterstand sich nicht, bereits „angesetzte Fahrten aufzugeben zugunsten des Kriegsspiels“ (ebd.: 284) und dies zum Anlass für eine Diskussion darüber zu nehmen, ob man sich nicht stärker den – wie man damals meinte – ‚modernen‘ Formen der Jugendpflege gegenüber öffnen, wenn nicht gar dem Jungdeutschlandbund beitreten solle, zumal man dann an dessen Vergünstigung (beispielsweise kostenlose Bahnfahrten) partizipieren könne. Tatsächlich wurde den Wandervögeln „bis 1914 fast 300 Kasernen als Übernachtungsmöglichkeiten erschlossen. Zudem wurde die Abgabe militärischen Kartenmaterials gewährt; das Kriegsministerium gestattete […] auch die Benutzung von Übungsplätzen, das Justizministerium ermöglichte die Abgabe von alten Militärsachen, und nicht zuletzt war der Verkauf verbilligter Bahnfahrkarten für wandernde Jugendliche von Bedeutung.“ (Wolschke-Bulmahn 1989: 264) Berichte wie die von Walter Fischer zum Thema Die lustigen Wandervögel im Kaisermanöver waren denn auch in Periodika der Jugendbewegung keine Seltenheit und bezeugen die im Vorfeld des Krieges verallgemeinert zu registrierende ‚Militarisierung der Mentalität‘ (Berg/Herrmann 1991: 12 f.) sowie der Jugenderziehung (Schubert-Weller 1991). Ein wichtiges Indiz gibt auch eine einschlägige Schülerbefragung im Umfeld der Kriegsgefahr um Serbien und Österreich-Ungarn im März 1909, die in das Resümee ausläuft:

„Der größte Teil der 11- bis 16jährigen Knaben, ja sogar der Mädchen ist derart kriegerisch, kampf- und abenteuerlustig, daß keine Erziehung der Welt etwas dagegen auszurichten vermag.“ (Máday 1911/12: 117)

So gesehen scheint es nur folgerichtig, dass die Fortsetzung von Remarques Im Westen nichts Neues zum beklemmenden Ende hin mit einem Porträt des Wandervogel aufwartet, das diesen auch nach 1918 mit nichts Wichtigerem beschäftigt sein lässt als mit von Erwachsenen inszenierten Kriegsspielen (Remarque 1931: 361 ff.).

Entsprechend selten waren Stimmen gegen den Krieg, so wie etwa die von Walter Hammer in seinem für die Jugendbewegung gedachten Nietzschebuch. Vehement protestierte Hammer hier gegen das damals überall zu vernehmende Lechzen nach Krieg als einer angemessenen „Pferdekur“ für eine „degenerierende Gesellschaft“ (Hammer 1914: 130) – ein Aufruf, der fast wie ein Reflex wirkt auf einschlägige expressionistische Gedichte jener Epoche (etwa Pinthus 1920). In vielen von ihnen wurde der Krieg als Teil der Erfüllung einer apokalyptischen Erwartung geradezu herbeigesehnt, ebenso in Tagebüchern und Werken einiger Dichter und Schriftsteller aus jener Sammlung (Krebs 1969; Vondung 1985). So notierte sich beispielsweise Georg Heym 1910:

„Würden einmal wieder Barrikaden gebaut […]. Oder sei es auch nur, daß man einen Krieg begänne, er kann ungerecht sein. Dieser Frieden ist so faul ölig und schmierig wie eine Leimpolitur auf alten Möbeln.“ (zit. n. Vondung 1985: 529)

Zusammenfassend und mit den (späteren) Worten Arnold Bronnens gesprochen:

„Nie ist ein Krieg so herbeigesehnt worden von unzähligen jungen Menschen, von Bürgers-Söhnen, die sich verirrt hatten in ihrer Welt. Sie alle wollten, was auch ich wollte: ein Ende. Ein Ende dieser Zeit. Ein Ende ihrer Leben in dieser Zeit. Eine Lebensform hatte sich aufgebraucht… Das Barbarische, Teil meines Wesens, dessen ich mit Begeisterung gewahr worden war, erschien mir in allen den Monaten vor dem Kriege, und noch in den ersten Kriegs-Wochen, als die große Reinigung, als der Sturm, der alles Morsche, Dekadente hinwegfegen würde.“ (zit. n. Preuß 1989: 236)

Dies war der Zeitgeist, dem Walter Hammer zu widerstehen suchte, ähnlich wie eine Gruppe Berliner Wandervögel, die im Herbst 1914 in der Zeitschrift Wandervogel zu bedenken gab:

„Wandervogel und Krieg! welch furchtbare Gegensätze! Unser Wandervogel ist ein Kind des Friedens, und im Schutz des Friedens ist er stark und mächtig geworden. Er ist und war keine Vereinigung, die eine kriegerische Ausbildung bezweckte.“ (zit. n. Fenske 1989: 204 f.)

Die überwiegende Mehrheit hingegen war deutlich kriegsbegeistert und missdeutete den Krieg als die von ihnen ersehnte ‚große Fahrt‘ (Ille 1987; Fenske 1989: 197; vgl. auch Bias-Engel 1989), auf den sie sich ihrer zuvor absolvierten vielen ‚kleinen Fahrten‘ wegen, also schon allein der Wandererfahrung halber und mithin rein körperlich gesehen, bestens vorbereitet wähnten. Edmund Neuendorff unterstrich denn auch in einem unmittelbar nach Kriegsbeginn herausgegangenen Aufruf die besonderen Fähigkeiten der Wandervögel, die im Krieg von Nutzen sein könnten, wie beispielsweise „marschieren“, „sich im Gelände zurechtfinden“, „auf jedem Lager […] schlafen“, „auf sich selbst gestellt ihre Nahrung […] finden“, um zu ergänzen:

„Was schadet‘s, wenn wir draußen Not und Entbehrung ertragen müssen, es ist ja für unsere liebe schöne Heimat, die keiner so kennt wie wir… Und müssen wir sterben, es ist ja für Deutschland, unser Deutschland.“ (zit. n. Fenske 1989: 202)

Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein dem Andenken des Jenaer Freideutschen Studenten Karl Brügmann gewidmeter Aufsatz Herman Nohls aus dem Jahre 1915, in dem es über Brügmann, der am 8. November 1914 fiel, heißt: „Er ging in den Krieg wie auf eine Wandervogelfahrt, erfüllt von der Schönheit seiner Heimat und der großen Liebeseinheit seines Volkes in jenen Tagen, froh der abenteuerlichen Kriegsexistenz mit all ihren wirklichen Aufgaben und im freundlichsten Verkehr mit der flämischen Bevölkerung, ‚als wären wir in ein Thüringer Dorf eingezogen.“ (zit. n. Flitner 1973: 99) Darin sprach sich aus, was mancherorts seitens der Erwachsenen schon vor dem Krieg vom Wandervogel erhofft worden war: nämlich dass der, dem sich das deutsche Land auf Wanderungen „in das Herz geschmeichelt hat“, als reifer Mann keine Schwierigkeiten habe, der „Heimaterde“ zu vergelten, was sie gab, und zwar „mit Glut und Blut.“ (Schmidt 1910: 152)

In derlei Formeln dokumentierten sich die Folgen jener mentalen Nahrung, wie sie etwa Paul de Lagarde verabreicht hatte – und die am Erschreckendsten wohl zutage trat in der Wandervogelführerzeitung (zum Folgenden auch Niemeyer 2001). So polemisierte in ihr Karl Wilker heftig gegen Walter Hammers pazifistisches Nietzschebuch. Noch schlimmer agierte deren – in der Erinnerungspolitik des Mainstream gezielt verharmloster (vgl. Niemeyer 2013b: 26 f.) – Verleger Erich Matthes gleich im 1. Kriegsheft vom September 1914 als ‚Kriegsfreiwilliger‘ zeichnete, um über vier Seiten hinweg in Großschrift und unter dem Vorzeichen Gott mit uns eine Antwort auf die Frage, worum es in diesem Krieg gehe, anzubieten. Im Anschluss an die als Überschrift gesetzte Formel: Um das Deutsche Wesen! liest man hierzu im Einzelnen:

„Das Deutsche ist ein Ast des Germanischen […]. Lebt dieser Geist noch? Wo ist er zu finden? Nun wissen wir’s: Deutschland ist noch der Hort des Germanentums! […] Deutschland ist das Gewissen der weißen Rasse!“ (Wandervogelführerzeitung 2 [1914]: 171)

Wenige Zeilen später wird deutlich, dass nun, aus völkischer Sicht, auch die Heimatfront neu begradigt werden muss:

„Wir werden sie alle besiegen! Wir müssen aber zugleich uns selbst besiegen: Das Böse, das Undeutsche bei uns, das Gemeine, das Verkehrte, das Kranke, das Äußerliche! Es ist viel Gesindel und Ungeziefer daheim geblieben […]. Es meint, euer Blut flösse für sein stinkendes Behagen! Wollen wir‘s ungestört hausen lassen? Wollt ihr Heimkehrenden euch den Lohn von ihm wegstehlen lassen? – Duckt es!“ (ebd.: 173)

Auf diese Verlautbarung traf zwar ein Protest ein von der Kreisleitung des Alt-Wandervogels für Pommern des Inhalts, dass ein „in so unflätigem Tone gehaltener Aufsatz“ nicht „veredelnd auf unsere deutsche Jugend“ wirke, verbunden mit der Bitte, solche Artikel nicht mehr abzudrucken, ansonsten man eine „öffentliche Warnung“ vor dieser Zeitschrift ergehen lassen werde (Wandervogelführerzeitung 3 [1915]: 32). Tatsächlich aber war das Publikum zumindest dieses Periodikums schon längst an den hier kritisierten Ton gewöhnt. Entsprechend überrascht es wohl kaum, dass die Schriftleitung ganz beruhigt hinzufügen konnte, die erstgenannte Äußerung sei eine Einzelerscheinung geblieben, wohingegen aus dem Feld an die hundert zustimmende Mitteilungen in Sachen der Tendenz des 1. Kriegsheftes eingetroffen seien (ebd.). Entsprechend waren die ersten Kriegshefte dominiert durch Feldbriefe, die der Hoffnung Ausdruck gaben, dieser „große Krieg“ werde „für uns deutschvölkische Ostmarkdeutsche die herrlichste Erfüllung unserer kühnsten Zukunftsträume“ (Wandervogelführerzeitung 2 [1914]: 176) bringen und am Ende werde „am deutschen Wesen noch einmal die Welt genesen“, zumal die Jugendbewegung doch schon vor dem Krieg darauf hingearbeitet habe, „ein körperlich, geistig und sittlich starkes und gesundes Geschlecht heranzuziehen.“ (ebd.: 223) In der Linie von derlei Optimismus steht beispielsweise die in der nämlichen Zeitschrift 1916 nachlesbare Bekanntgabe der Gründung der Hamburger Germanengilde, getragen von der Überzeugung, dass dieser Krieg „ganz wider den Willen unserer Feinde einen köstlichen Schatz gehoben hat: das germanische Gewissen und Gefühl.“ (Wandervogelführerzeitung 4 [1916]: 48)

Was in Äußerungen wie diesen zutage tritt, ist die völkische Lektion aus Langemarck, als Mythos gelesen. Denn natürlich ist Langemarck (in Belgien gelegen, unweit Ypern) zunächst nichts weiter als der Ort eines deutschen Sturmangriffs vom November 1914 mit der Folge von 45.000 Gräbern allein auf dem deutschen Kriegerfriedhof. In zweiter Linie allerdings handelt es sich um einen – nicht eben selten irredentistisch aufgeladenen – Mythos, der auf der im Wehrmachtstagebuch für den 10. November festgehaltenen Meldung basiert, wonach (angeblich) westlich Langemarck „junge Regimenter unter dem Gesange ‚Deutschland, Deutschland über alles‘ gegen die erste Linie der feindlichen Stellungen vor[brachen].“ (zit. n. Ketelsen 1985: 70) Der Nohl-Schüler Erich Weniger notierte noch 1938 sehr ernst, sich vom Fach wähnend und erkennbar auf einen Folgeeinsatz vorbereitend: „[K]eine aussichtslosen Lagen schaffen, nie wieder ein solch verschwenderischer Einsatz kostbaren Blutes unter so unzulänglichen Bedingungen.“ (Weniger 1938: 249) Inzwischen sind noch einmal einige Jahrzehnte vergangen, der Wahrheitswert der angeführten Wehrmachtsmeldung steht in Frage, und es dominiert der Blick auf die Funktion, die sie offenkundig zu erfüllen hatte: Es ging darum, den tölpelhaften Akt schlecht ausgebildeter Kriegsfreiwilliger – darunter eben auch vieler Wandervögel – und die dadurch verursachten ungeheuren Verluste „rührselig-patriotisch“ zu übertünchen, „die mangelhafte Aufklärung des Geländes durch die Heeresleitung“ zu verbrämen sowie „die kriegspsychologischen Folgen der Ausdünnung des Westheeres zugunsten der Truppen im Osten kriegspropagandistisch“ (Ketelsen 1985: 70 f.) zu mildern. Tragisch ist, dass selbst Gustav Wyneken von der Kriegsbegeisterung angesteckt wurde und den Krieg am 25. November 1914 – also nur zwei Wochen nach Langemarck – in einem Vortrag als den eigentlichen Garanten der Erfüllung jugendlichen Autonomiestrebens missdeutete, ausrufend: „Hört nicht auf die Stimme eines billigen Vernünftelns, die euch ins Ohr raunen möchte: ‚es gibt keinen Ruhm‘ und ‚was habe ich vom Heldentum‘. Es gibt Ruhm und soll ihn wieder geben. Vielleicht werden wir nicht jeden von euch wiedersehen, aber vergessen werden wir keinen.“ (zit. n. Herfurth 1989: 95) Derlei Emphase hatte die demonstrative Lossagung Walter Benjamins von seinem vormaligen Idol zur Folge (in einem Brief vom 9. März 1915, wiederabgedruckt in Holler [Hrsg.] [2013]: 30 ff.; vgl. auch Dudek 2002: 48 ff.).

Der Mainstream der Jugendbewegung war indes von derlei Einsicht weit entfernt, wie insbesondere die – teils in Konkurrenz zu Erinnerungen an das Meißnerfest organisierten – Langemarck-Feiern zeigten. Auf diesen wurde zwar auch mitunter der Forderung „Nie wieder Langemarck!“ Gehör gegeben, so etwa auf der Feier der Bündischen Jugend 1923, auch auf jener von 2.000 Teilnehmern besuchten ein Jahr später in der Rhön, auf die sich der dichtende Weltkriegsveteran Rudolf G. Binding in seinem vor Pathos triefenden, im Grundschriften-Band der Kindt-Edition (1963) mit Stolz präsentierten Text Deutsche Jugend vor den Toten des Krieges (1924) bezog. Indes war sich Binding – „Hitler’s War Poet“, wie ihn Jay W. Baird (2009: 32) im Ausblick auf das in der Kurzbiographie der Kindt-Edition (Ki I: 558) außer Betracht gelassene zustimmende Agieren Bindings zumindest zu Beginn der NS-Zeit (hierzu: Loewy 1966: 306; auch: Klee 2009: 49) nannte – seinerzeit sicher, dass ein anderes Wort noch sehr viel mehr Klang habe als jene pazifistische Parole: die Vokabel „Vaterland“ als „Inbegriff des Gemeinsamen, des Sicheren, des zu Sichernden.“ (Ki I: 435Binding 1924: 435) Letzteres war das Entscheidende und erklärt gegen die damals verantwortlichen Offiziere gerichtete (selbst-)kritische Hinweise wie: „Vernichtung ohne Zweck ist heute ein Luxus.“ (Kreppel 1924: 437) Davon unberührt blieben Sätze in Geltung wie: „Es ist schön, jubelnd zu sterben“ (ebd.) sowie:

„Wir Wandervögel wissen, daß unsern Brüdern das Sterben so notwendig war wie Geburt und Leben, darum uns die Frage nie brennend geworden ist, ob sie umsonst gefallen seien.“ (ebd.: 436)

Stärker vom Kriegsgeschehen abgelöst war Kleo Pleyers Lesart:

„Langemarck versinnbildlicht die Wende zu neuer bündischer Wesenhaftigkeit. Wie auf den Schlachtfeldern Flanderns deutsches Studententum kraft seiner Gebundenheit an das Volk sich hinopferte, so will das bündische Studententum für Volk und Reich dienen, taten, opfern.“ (Ki III: 1246)

Im Dritten Reich dominierte wieder die Kriegsmetaphysik, etwa im Zuge der heroischen, „monumentalen“ (wiederum nach Nietzsches Begriffsgebrauch von 1874) Geschichtsbetrachtung Erich Wenigers, der Langemarck als Zeugnis nahm „für den Willen der Jugend zum Opfer, zum bedingungslosen Einsatz des Lebens, für die Tapferkeit und für die edle Form der Hingabe.“ (Weniger 1938: 249) Zumal nach 1939 wurde der Mythos ‚Langemarck‘ zur Kriegsverherrlichung genutzt, etwa 1943 durch Verleihung des Ehrennamens „Langemarck“ an eine flämische Einheit der Waffen-SS. Fatal war für Verehrer Nietzsches und seine Dichtung Also sprach Zarathustra Lesarten über Jünglinge, die „bei Langemarck singend in den Tod gingen und die in ihrem Tornister neben Goethes ‚Faust‘ auch Nietzsches ‚Zarathustra‘ hatten.“ (Zimmer 1929: 883) Dagegen stand – teils via Walter Hammer – das Bestreben, ein Nietzsche-Bild zu konturieren, das den (guten) Europäer und Weltbürger betonte und mithin Nietzsches kritisch auf den Mythos Deutschland bezüglichen Satz zur Anschauung brachte:

„Für das Princip ‚Deutschland, Deutschland über Alles‘ oder für das deutsche Reich sich zu begeistern, sind wir nicht dumm genug.“ (XI: 78)

Das Dominierende am Langemarck-Effekt wird man in der Linie von Arno Klönnes Beobachtung zu suchen haben: „Ernst Jünger trat literarisch an die Stelle von Hermann Hesse oder Leonhard Frank.“ (Klönne 2013: 21) ‚In der Linie‘ meint: Klönne überschätzte die bis dato angeblich feststehende Bedeutung erziehungskritischer resp. pazifistischer Autoren im Lesehaushalt Jugendbewegter, hat aber insoweit recht, als im Sog des Langemarck-Mythos Kriegsmetaphysik à la Ernst Jünger Konjunktur hat. Zu denken ist in diesem Zusammenhang auch an Rudolf G. Binding, an WK-I-Anekdoten wie Wir fordern Reims zur Übergabe auf (1934), auch an Bindings als Bekenntnis zum NS-Staat zu lesenden Offenen Brief (1933) mit den verheerenden Zeilen:

„Deutschland – dieses Deutschland – ist geboren worden aus der wütenden Sehnsucht, aus der inneren Besessenheit, aus den blutigen Wehen, Deutschland zu wollen: um jeden Preis, um den Preis jedes Untergangs. Davor versinkt jede Anklage.“ (zit. n. Loewy 1966: 204)

Einschlägiger ist aber fraglos Hans Zöberleins mit einem Geleitwort Hitlers versehenes, 1934 – unter dem Titel Stoßtrupp 1917 (Wulf 1964: 371) verfilmtes – Weltkriegsepos Der Glaube an Deutschland (1931). Von hier aus ist der Weg nicht weit zu Gerhard Roßbach, Freikorpsführer und Teilnehmer am Hitlerputsch (wie Zöberlein), 1924 Gründer der Schilljugend, die Hitler nach seiner Entlassung aus der Landsberger Festungshaft und der Wiedergründung der NSDAP im Februar 1925 kurzzeitig als NS-Jugendorganisation auszubauen beabsichtigte. Nachdem Roßbach die Unterordnung unter Hitler abgelehnt hatte, agierte die Schilljugend ab Herbst 1926 parallel zur HJ, um sich schließlich im Sommer 1933 mit ihren ca. 1.000 Mitgliedern der HJ einzugliedern (Breuer/Schmidt 2010: 26 ff.; Ahrens 2015: 175 ff.). So betrachtet hatte Hitler zumindest vom Prinzip her mit Roßbach nicht aufs falsche Pferd gesetzt, wie auch dessen 1925 erschienene Polemik gegen „Weltfriedensideen, die im Gehirn der Schlauen erzeugt und im Gehirn der Dummen Glauben finden“, zeigt, mitsamt des martialischen Diktums:

„Heldentum wird durch Kampf geboren, nicht durch Kampf mit geistigen Waffen, sondern mit dem Schwerte um das Dasein des Volkes, um den Bestand der Nation.“ (Ki III: 951)

Zu derlei Bellizismus passt, dass Roßbach 1932 einen ‚Luftschutztrupp Ekkehard‘ ins Leben rief, der in der Schilljugend nach Art eines freiwilligen Arbeitsdienstes funktionierte und 1934 in den Reichsluftschutzbund übernommen wurde, dessen erster Inspekteur Roßbach wurde (ebd.: 949), ehe er im Zuge der Röhm-Affäre kurzfristig inhaftiert wurde und fortan ein Privatleben als Versicherungskaufmann pflegte (Klee 2003: 509).

Ernst Jünger selbst, „der 1923 eine Zeitlang die Organisation Roßbach in Sachsen geleitet hatte“ (Breuer/Schmidt 2010: 30), agierte ab 1928 als Schirmherr der von Roßbachs Stellvertreter Werner Laß gegründeten Freischar Schill. Dabei wird an dieser Stelle wohl kaum noch überraschen, dass die Kurzbiographie der Kindt-Edition die NSDAP-Mitgliedschaft von Laß (ab 1928, mit Unterbrechung ab August 1929 wg. ausstehender Mitgliedsbeiträge; 1937 Wiederaufnahme, sowie dessen Tätigkeit in der HJ und als Leiter des Presseamtes von Gauleiter Bürckel in Wien) verschweigt (Ki III: 1778; Angaben zu Laß nach Breuer/Schmidt 2010: 369 ff.). Jünger jedenfalls, der sich nach 1933 in einen anti-antisemitischen Nazigegner wandelte, war zunächst, gegen Ende der Weimarer Epoche, Mitherausgeber mehrerer neonationalistischer Zeitschriften, darunter Die Kommenden (1930-31), in welcher eigene Texte sowie kriegsmetaphysische Betrachtungen Dritter verstärkt zum Abdruck gelangten (ebd.: 222 ff.). Dazu gehörte auch die folgende Betrachtung:

„Hundertausende mußten sterben, damit der Gedanke des Nationalismus geboren werden konnte, und Hundertausende werden sterben müssen, damit die Nation wiedergeboren werde.“ (zit. n. Breuer/Schmidt 2010: 224)

Derjenige, der 1928 speziell diese Lektion aus Langemarck unter dem Kürzel H. G. vortrug, war Hans-Gerd Techow, Rathenau-Attentäter (vgl. Niemeyer 2013b: 34 f.) und später Mitglied von HJ (ab 1932) und NSDAP (ab 1937), so betrachtet also ein (späterer) Parteigenosse Kleo Pleyers, dessen geschönte Biographie in der Kindt-Edition (ebd.: 32 f.) – offenbar von seinem Nachfolger als nationalsozialistischer Historiker in Innsbruck, Theodor Schieder, stammt. Techow dürfte denn auch wohlgemut zusammen mit Pleyer in das noch aus bündischer Zeit herrührende Lied Es zittern die morschen Knochen (1932) des späteren (1935) HJ-Poeten Hans Baumann eingestimmt haben, insbesondere in die legendären Zeilen:

„Wie werden weitermarschieren,
wenn alles in Scherben fällt,
denn heute gehört [da hört] uns Deutschland,
und morgen die ganze Welt.“

Die in eckigen Klammern beigefügten Ausdrücke markieren den Inhalt der (angeblichen) Zensur Baldur von Schirachs in Bezug etwa auf die 1936 vorgelegte Fassung (Loewy 1966: 274; weitere Varianten: Hillesheim/Michael 1993: 41 ff.). Nach sorgfältiger Analyse des Sachverhalts durch Winfried Mogge (1996; vgl. auch Krolle 2004: 248) darf man indes annehmen, dass es sich hier um eine Schutzbehauptung handelt. Dies gilt umso mehr, da Schirach, einer spannend zu lesenden „Detailrecherche“ Jürgen Reuleckes (1996/99) zufolge, auch den Text des von Heino gelegentlich geträllerten Liedes Jenseits des Tales (1907) aus der Feder des völkischen Lyrikers Börries Freiherr von Münchhausen (Loewy 1966: 319) manipulierte, wohl zwecks Abwehr auf ihn als Person zielender homoerotischer Gerüchte. Ungeachtet dessen ist Baumanns Lied, nach glaubwürdigen Berichten aus der HJ (etwa Finck 1978: 110), in der NS-Zeit auch in der ‚zensierten‘ Variante gesungen worden, was allerdings kaum einen Unterschied macht: in beiden Fassungen war es instrumentalisierbar für eine bewusst auf Steigerung des Wertgefühls der Jugend – gegen die ‚verkalkten‘ Eltern – setzenden Strategie (Aurin 1983: 680), der zugleich eine bellizistische Pointe innewohnte.

Parallel dazu wird die Heimatfront begradigt. Auch die in Sachen Jugendbewegung am ehesten betroffene Zunft beginnt nun umzudenken, wie der folgende, 1942 angebrachte Zusatz für die dritte Auflage des Pädagogischen Wörterbuchs von Wilhelm Hehlmann zeigt: „Im 1. Weltkriege war die J. einer der Träger völkischen Behauptungswillens und Frontkämpfertums.“ (Hehlmann 31942: 210) Von der Meißnerformel hingegen ist am nämlichen Ort nur noch als eines Anlass bezogenen („anläßlich des Jugendfestes auf dem Hohen Meißner“) „Leitworts“ (ebd.: 210) die Rede, mithin: so, als gehe es um ein Stück Vergangenheit, im Gegensatz zur Hitlerjugend, deren Arbeit Hehlmann breit darstellt und so, als werde hier „erstmalig auf der Grundlage der Selbstführung und in eigner politischer Verantwortlichkeit“ agiert, zum Wohle „des ganzen deutschen Volkes“ (ebd.: 181), selbstredend. Dies war nicht dumm gedacht: Man entschärft das Fremde, vielleicht Verlockende, indem man es sich einverleibt. So betrachtet gibt es Grund genug für die in der aktuellen Jugendbewegung zu beobachtenden Tendenzen (etwa Schweigmann-Greve 2013), die Meißnerformel vom Oktober 1913 als nicht einzuverleibende wieder stark zu machen (vgl. auch Niemeyer 2014) – aber bitte nicht für den Preis, die dunklen Seiten schon des Wandervogel, hier den Bellizismus betreffend, vergessen zu machen.

Diese Warnung gilt auch für die neu-deutsche Auslegung des Langemarck-Mythos – zu spät, wie man vermuten darf beim Blick auf Karlheinz Weißmanns einschlägigen Artikel im Staatspolitischen Handbuch. Zwar wird hier „die Intensivierung des Langemarck-Kults durch Hitler-Jugend und Reichsstudentenführung“ (SH 4: 119) kritisiert, ansonsten aber der Mythos selbst unbeschädigt gelassen und abschließend gelobt, dass bei der Restauration der Langemarck-Halle in Berlin 2006 „auf eine volkspädagogisch motivierte Dekonstruktion“ (ebd.: 120) verzichtet wurde – ein verständliches Lob, wenn man bedenkt, wer von diesem Verzicht profitiert: Ideologen vom Niveau Weißmanns, für die Bagatellisierung gleichsam zum Volkssport gerät, etwa mittels des Hinweises, dass „im Februar 1933 […] die Wohnung Ernst Jüngers ein erstes Mal durch die Gestapo durchsucht [wurde]“ (M/W: 197) – was so klingt und auch so klingen soll, als sei dies nur der erste Schritt einer Verfolgungsgeschichte, die für die Heroen der Konservativen Revolution ab Hitlers Machtergreifung die typische sei. Über dieses Beispiel hinausgedacht und die einleitenden Sätze wieder aufnehmen: Lesarten wie jene sind in der Linie des eingangs angesprochenen Strebens zu lesen, im längst schon eröffneten Dritten Weltkrieg mental nutzbare Ideologeme zur Verfügung zu stellen.

Autor: Prof. Dr. Christian Niemeyer, Berlin. niem.ch2020@outlook.de

Die nicht-kursivierten Partien dieses Textes habe ich meinem Schwarzbuch Neue / Alte Rechte. Glossen, Essays, Lexikon (= Bildung nach Auschwitz). Weinheim Basel 2021 entnommen.

Foto:  Kremlin.ru / CC BY 4.0

[1] „Unsere tägliche Schuld gib uns heute“ bete man, so Michael Klonovskys Gegen-Spott, allmorgendlich „in manchen deutschen Redaktions- und Gelehrtenstuben.“ (Klonovsky 2015: 163)