Zu Jom haShoa – Eine Jahrhundert-Zeitzeugin wird 100

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Lisa Mikova mit Schülern in Prag, Foto: W. Imhof

Am 31. Januar 2022 feierte die Pragerin Lisa Miková, geborene Lichtenstern, ihren 100. Geburtstag. 96 Jahre verbrachte sie in ihrer Heimatstadt Prag, wo sie in der demokratischen Ersten Tschechoslowakischen Republik aufwuchs. Sie erlebte dort dann die Zerstörung dieses Staatswesens durch das Münchner Abkommen im September 1938, das die sudetendeutschen Gebiete dem Deutschen Reich zusprach, dann die Abspaltung der Slowakei am 14. März 1939 und die Besetzung des restlichen Staatsgebiets durch das NS-Regime einen Tag später.

Von Werner Imhof

Lisa Miková als junge Frau, Foto: Familienarchiv

Als Kind einer jüdischen Familie war sie von diesem Tag an der Entrechtung, Beraubung und Verfolgung durch das vom Rassenwahn besessene Hitler-Regime ausgesetzt. An ihrem 20. Geburtstag wurde sie mit ihren Eltern im KZ Theresienstadt inhaftiert. Die Eltern wurden im September 1943 nach Auschwitz deportiert und dort am 9. März 1944 ermordet. Lisa lernte in Theresienstadt František Mauthner kennen und heiratete ihn auch dort. František war Mitglied des so genannten „Aufbaukommandos“ – 342 Männer, die Ende November 1941 nach Theresienstadt geschickt wurden, um die Festungsstadt als tschechisches Sammellager für die Deportation in die Vernichtungslager vorzubereiten. Man hatte ihnen zunächst versprochen, an den Wochenenden nach Hause fahren zu dürfen – die erste Lüge der Nazis, denn sehr schnell war klar, dass sie die ersten Häftlinge waren. Ein weiteres Versprechen – eine weitere Lüge – war, dass sie vor weiterer Deportation geschützt seien. Im September 1944 wurde ein Transport von 5.000 Männern zusammengestellt. František war einer von ihnen, und das Ziel war Auschwitz. Zwei Tage später wurde verkündet, zu den 5.000 Männern könnten sich zur Familienzusammenführung 1.000 Frauen freiwillig melden. Lisa meldete sich. Zielort dieses Transportes war ebenfalls Auschwitz – aber diese Frauen trafen die Männer dort nicht. Sie wurden bald weiter deportiert, nach Freiberg in Sachsen, wo sie in einer Flugzeugfabrik der Vernichtung durch Arbeit ausgesetzt waren: 12-Stunden-Schichten schwerster körperlicher Arbeit, nach Verschlechterung der Kriegslage für das NS-Regime nur noch jeden zweiten Tag miserable Verpflegung. Schließlich eine Todesfahrt in Güterwaggons, die Ende April 1945 im Vernichtungslager Mauthausen endete. Dort erlebte Lisa Miková Anfang Mai, dem Tode nahe, die Befreiung durch die US-Armee.

Heimgekehrt nach Prag traf sie ihren Mann wieder, der Auschwitz und das KZ Ebensee nahe Mauthausen überlebt hatte. Man änderte den deutsch klingenden Namen „Mauthner“ in „Mika“. Nach der Machtübernahme durch die Kommunisten 1948 keimte in der ČSSR bald neuer Antisemitismus auf, dem Anfang der 50er Jahre unter anderen der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Rudolf Slánský und die Widerstandskämpferin Milada Horáková nach Schauprozessen, die mit Todesurteilen endeten, zum Opfer fielen. Auch Lisas „Kaderprofil“ war verheerend: bourgeoise Familienwurzeln, jüdisch, Verwandte in der Schweiz, in England und Australien – und keinerlei Neigung, sich im Sinne der „proletarischen Revolution“ von diesen zu distanzieren.

Lisa hat auch unter dem kommunistischen Regime in der ČSSR sehr gelitten. Sie arbeitete im Buchhandel, liebte Literatur. Der niedergeschlagene „Prager Frühling“ bereitete ihr neue Probleme, weil sie es kategorisch ablehnte, die Okkupation durch die Warschauer-Pakt-Staaten zu begrüßen. Nach 1989 blühte sie auf. Mit Václav Havel hatte ihr Land wie in ihrer Jugend abermals einen Dichter-Präsidenten, der wie Tomáš Garrigue Masarýk in ihrer Jugend weltweit geachtet und verehrt wurde. Aber 1993 starb ihr geliebter František. 2016 erlitt sie durch einen Sturz einen Oberschenkelhalsbruch und kann seitdem nicht mehr laufen. Im gleichen Jahr starb ihr einziger Sohn Petr. Auch diese schweren Schicksalsschläge hat sie verkraftet.

Ich habe nie eine so inspirierende, kluge, liebenswürdige und kultivierte Person kennengelernt wie Lisa Miková. Sie hat einen wunderbaren, trockenen Humor. Ich habe deshalb 2018 ihre Biografie geschrieben und das Buch 2019 mit meiner Frau ins Tschechische übersetzt. Am 19. Januar 2020 hat Bundespräsident Steinmeier auf meinen Vorschlag hin Lisa Miková das Bundesverdienstkreuz verliehen. Sie hat mit mir in Zeitzeugengesprächen Tausenden Schülerinnen und Schülern in Deutschland ihre Geschichte erzählt. Und – da bin ich mir ganz sicher – diese werden sie nie vergessen. Ich habe sie einmal gefragt: „Glaubst Du, dass all das Entsetzliche, was Du erleben musstest, Dich eher geschwächt oder gestärkt hat?“ Offensichtlich war ihr diese Frage noch nie gestellt worden. Sie sah mich lange und sehr nachdenklich an und sagte dann: „Ich glaube, es hat mich eher gestärkt.“

In einem Begleitwort zu Lisas Biografie schrieb Dr. Jörg Skriebeleit, Leiter der Gedenkstätte Flossenbürg: „Selten in meinem Leben habe ich intensiver gespürt, was die Zerstörung des europäischen Kultur-, Geistes und Lebensraums durch die nationalsozialistischen Deutschen bedeutete als in den Begegnungen mit Lisa Miková und ihren Freundinnen.“

Bild oben: Lisa Miková mit Schülern in Prag, Foto: W. Imhof