Israels Ukraine-Drahtseilakt

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Über Wochen hinweg versuchte Israel im Ukraine-Konflikt Neutralität zu bewahren. Doch mit Beginn der russischen Invasion ist das kaum mehr möglich. Für Jerusalem wird es dadurch nicht einfacher. Denn jede Form einer Parteinahme kann für Israel schwerwiegende Konsequenzen haben.

Von Ralf Balke

Ein wenig wird es das Ego von Ministerpräsident Naftali Bennett gewiss geschmeichelt haben – zumindest für einen Moment. Denn vor einigen Tagen meldete die New York Times unter Berufung auf den ukrainischen Botschafter in Israel, Jewgen Kornijtschuk, sowie einem anonym gebliebenen israelischen Beamten, dass Präsident Wolodymyr Selenskyj ihn in einem Telefongespräch gebeten haben soll, zwischen Kiew und Moskau zu vermitteln. „Wir glauben, dass weltweit Israel der einzige demokratische Staat ist, der sowohl zur Ukraine als auch zu Russland beste Beziehungen pflegt“, so der Diplomat. Das Büro des israelischen Ministerpräsidenten wollte diese Meldung jedoch nicht weiter kommentieren. „Aber sie haben auch nicht nein gesagt“, betonte Kornijtschuk ferner. Man kann diese Nachricht durchaus als Versuch deuten, Israel aus der Reserve zu locken und sich unmissverständlicher in diesem Konflikt zu positionieren. Denn genau das hat Jerusalem bis dato immer versucht zu vermeiden. Und Selenskyj war nicht der einzige Präsident, mit dem Bennett dieser Tage telefonieren sollte. Auch mit Wladimir Putin gab es am Sonntag ein Gespräch. Man habe sich über die Situation vor Ort ausgetauscht und den israelischen Ministerpräsidenten „über den Verlauf der Sonder-Militäroperation zum Schutz des Donbass“, wie die Invasion in der Diktion des Kremls bezeichnet wird, informiert. Und Bennett hatte angeblich in dem Gespräch seine Vermittlerrolle angeboten, „um die Feindseligkeiten auszusetzen“. Doch wirklich Substanzielles war nicht zu hören.

Dafür melden sich ähnlich wie in den Vereinigten Staaten auch in Israel Stimmen zu Wort, die den Ukraine-Konflikt innenpolitisch in der Form instrumentalisieren wollen, indem sie behaupten, dass die Vorgängerregierung mit der Situation besser umgegangen wäre – schließlich hatte sich ja vor allem Benjamin Netanyahu immer damit gebrüstet, zu seinem „engen Freund Putin“ einen besonders guten Draht zu haben. So forderte beispielsweise Ronen Manelis, früher Armeesprecher und zwischen 2020 und 2021 Generaldirektor des Ministeriums für Strategische Angelegenheiten, dass man Netanyahu zum Sondergesandten ernennen sollte, der dann zwischen Russland und der Ukraine vermitteln könnte. Und Likud-Abgeordnete Galit Distal Atbaryana, eine der glühendsten Netanyahu-Anhängerinnen in der Knesset, machte sich unmittelbar nach Beginn der russischen Invasion über Außenminister Yair Lapid lustig. Dessen Außenpolitik basiere auf einer Kombination aus dem alten John Lennon Song „Imagine“  sowie „Glückskeksen“. Nur ein erfahrener Staatsmann wie „Bibi“ wäre in der Lage, die Interessen Israels jetzt klar zu definieren und zu vertreten.

All das dürfte für die Regierung in Jerusalem derzeit das geringste Problem sein. Viel existentiellere Fragen stehen auf dem Spiel. Denn seit Beginn der russischen Invasion in die Ukraine funktioniert der vorsichtige Neutralitätskurs nicht mehr wirklich. Nimmt man zu sehr Partei für Kiew, dürfte das in Moskau nicht gut ankommen. Und damit gefährdet Israel seine Handlungsfreiheit am Himmel von Syrien gegen die Hisbollah oder Irans Revolutionsgarden, die vollständig von Russlands gutem Willen abhängt. Auch besteht die Gefahr, dass im Falle einer weiteren Abkühlung des Verhältnisses mit dem Westen, Putin sich neue Verbündete suchen wird, und das wiederum wäre dann unter anderem der Iran – auch das keine schöne Vorstellung. Genau das dürften die Gründe dafür sein, warum unmittelbar nach Beginn der russischen Aggressionen Bennett nur davon sprach, für den Frieden zu beten, sich für einen Dialog stark zu machen und den Ukrainern Hilfe anzubieten, ohne dabei sonderlich konkret zu werden. Russland wurde in diesem Kontext nicht einmal namentlich erwähnt.

Umgekehrt kann sich Israel aber nicht leisten, die Vereinigten Staaten zu verärgern, die sich ganz klar an die Seite Kiews gestellt haben. Deswegen hat Israel zwar seine Unterstützung für das ukrainische Volk zum Ausdruck gebracht und jetzt 100 Tonnen humanitäre Hilfe geschickt. Trotzdem vermeidet es Bennett aber weiterhin, Putin beim Namen zu nennen, geschweige auf die ukrainischen Forderungen nach Waffenlieferungen einzugehen. Auch in der gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundeskanzler Olaf Scholz am Mittwoch beantwortete er keine Fragen dahingehend, ob Israel jetzt ähnlich wie Deutschland eine 180-Grad-Wende in der Außenpolitik vollziehen würde oder nicht. Selbst als russische Bomben auf die Gedenkstätte von Baby Yar in Kiew fielen, dem Ort, an dem im Zweiten Weltkrieg Zehntausende von Juden von den Nazis ermordet wurden, ertönte keine Kritik seitens der israelischen Regierung an Moskau. Bei der Sitzung des UN-Generalversammlung am Freitag will man aber „auf der richtigen Seite der Geschichte stehen“, wie es hieß, und Russland auf jeden Fall verurteilen. Sogar das schien nicht ganz sicher zu sein. So hatte sich vergangene Woche noch Israel dagegen entschieden, als sogenannter Ko-Sponsor einer Resolution, die Russlands Vorgehen verurteilen sollte, in Erscheinung zu treten, woraufhin die UN-Botschafterin der Vereinigten Staaten, Linda Thomas-Greenfeld, ihren israelischen Kollegen mitteilte, dass US-Präsident Joe Biden sehr enttäuscht von dieser Haltung wäre. Bei solchen Worten sollten spätestens jetzt in Jerusalem die Alarmglocken losgehen.

Es ist eine „heikle Situation für Israel“, bringt es Ehud Olmert auf den Punkt. Als früherer Ministerpräsident hatte er selbst viel mit Putin zu tun. „Einerseits ist Israel ein Verbündeter der Vereinigten Staaten und Teil des Westens. Daran darf es einfach keinen Zweifel geben“, so Olmert gegenüber der New York Times. „Auf der anderen Seite sind die Russen in Syrien präsent. Dort haben wir diffizile militärische und sicherheitspolitische Probleme – und das erfordert eine gewisse Handlungsfreiheit für das israelische Militär in Syrien.“ Auch deswegen hat Israel im vergangenen Jahr noch dafür gesorgt, dass die Vereinigten Staaten das Raketenabwehrsystem Iron Dome nicht an die Ukraine weitergaben. Ob man heute genauso entscheiden würde, darüber ließe sich nur spekulieren. Fakt ist, dass israelische Waffen nun ebenfalls die Ukraine erreichen – wenn auch nicht auf direktem Wege. Denn als sich beispielsweise die Niederlande dazu entschieden hatten, unter anderem das Panzerabwehrsystem vom Typ „Panzerfaust 3“ nach Kiew zu schicken, handelte es sich zwar dabei um ein Produkt des deutschen Herstellers Dynamit Nobel Defence. Doch Eigentümer des Rüstungsherstellers ist der israelische Staatskonzern Rafael Advanced Systems, und das seit 2004. Weil aber die mit bundesdeutschen Geldern entwickelte „Panzerfaust 3“ bereits 1973 auf den Markt kam, musste nur Berlin sein OK für die Weitergabe durch die Niederlande geben und nicht Jerusalem. Und da die russische Okkupation der Krim bereits im Jahr 2014 dafür gesorgt hat, dass viele osteuropäische Nationen aus Furcht vor weiteren Aggressionen aus Moskau reichlich Rüstungstechnik ‚Made in Israel‘ wie Drohnen oder Frühwarnsysteme erwarben, dürfte das eine oder andere Teil davon womöglich bald in der Ukraine zum Einsatz gegen die russischen Invasoren kommen.

In anderen Fragen dagegen hat man in Jerusalem rasch reagiert und zeigt sich ungewöhnlich flexibel. Denn seit Russland mit seiner Offensive in Ukraine begann, haben sich mehr als 10.000 Ukrainer an die Jewish Agency gewandt, um zu sondieren, ob sie auf Basis des israelischen Rückkehrgesetz das Recht hätten, nach Israel auszuwandern und die Staatsangehörigkeit zu erhalten. Diese Option besteht ebenfalls für die unmittelbaren Angehörigen, die aus halachischer Sicht nicht als jüdisch gelten. Wenn aber beispielsweise der Ehemann und Vater als das einzige einwanderungsberechtigte Familienmitglied die Ukraine aufgrund der Wehrpflicht nicht verlassen kann, wäre das ein Problem für seine nichtjüdische Frau oder deren Kinder, ohne ihn nach Israel überzusiedeln. Genau diese Regelung hat man gerade ausgesetzt, so dass sie alle einwandern dürfen, sogar ohne den in der Ukrainer verbliebenen jüdischen Vater. Auch ansonsten hat Israel recht unbürokratisch nicht nur seinen Staatsbürgern in der Ukraine die Aus- und Weiterreise ermöglicht. Zahlreichen Medienberichten zufolge half man dabei ebenso Angehörigen anderer Nationen, und zwar auch solchen, die mit Israel eher Probleme haben, wie zum Beispiel Syrern oder Libanesen.

Doch unabhängig davon, ob Israel Waffen an die Ukraine liefert oder nicht. Es wird Auswirkungen des Konflikts auf die gesamte Region geben, die langfristig allen Sorgen bereiten könnten. Bekanntermaßen ist das Land eine der größten Kornkammern der Welt. Und vor allem die Staaten des Nahen und Mittleren Osten sind wichtige Abnehmer von ukrainischem Weizen, allen voran Ägypten, das rund drei Millionen Tonnen davon importiert, immerhin fast 14 Prozent der gesamten Ernte. Wenn diese nun wegfallen und woanders Weizen für mehr Geld eingekauft werden muss, worauf bereits vieles an den Rohstoffmärkten hindeutet, dann steigen bald nicht nur in Kairo die Brotpreise. Schon heute subventioniert der ägyptische Staat günstiges Brot mit rund 3,2 Milliarden Dollar im Jahr, weitere Ausgaben dafür lassen sich in dem finanziell chronisch klammen Land schwerlich aufbringen. Weil aber 30 Prozent der Bevölkerung in Armut leben, werden sie bald Schwierigkeiten haben, sich ausreichend Brot leisten zu können, ähnliches gilt auch für den Libanon oder Tunesien. Kurzum, in der gesamten Region kann es zu Protesten kommen, was wiederum die Stabilität vieler Länder in unmittelbarer Nachbarschaft zu Israel gefährdet. Da hilft es wenig, wenn Finanzminister Avigdor Lieberman erklärt, dass der Krieg in der Ukraine zwar ökonomische Folgen für den Staat Israel und die ganze Welt haben wird, man aber entspannt sein könne, da die israelische Wirtschaft in „guter Verfassung“ sei. Denn auch die Einbrüche im bilateralen Handel wird man zu spüren bekommen, wobei das Handelsvolumen Israels mit der Ukraine mit rund 800 Millionen Dollar noch relativ moderat ist. Im Fall von Russland sind es aber bereits 3,5 Milliarden Dollar. Sollten diese aufgrund des Krieges und der Sanktionspolitik dahinschmelzen, wird dies auch an der als so robust gepriesenen israelischen Volkswirtschaft nicht spurlos vorbeigehen. Daran wird auch kein Neutralitätskurs der Welt etwas ändern können.