Zum Tod von Rabbiner Tovia Ben Chorin

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Baruch Dajan haEmet
Mit großer Trauer möchte ich Ihnen bekannt geben, dass uns gestern in der Nacht Rabbiner Tovia Ben Chorin verlassen hat.

Rabbiner Tom Kučera

Schulchan orech ist einer der Begriffe, mit dem mich mein Mentor Rabbiner Tovia, ein ernsthafter post-halachischer Denker, prägte. Post-halachisch, weil er bemerkte: kehalacha awal lo lefi halacha, d. h. wie es das jüdische Gesetz fordert, aber nicht immer in seiner Ganzheit. Die Spannung zwischen der Tradition und der Modernität mag unter Umständen zugunsten der Letzteren ausgehen. Darum sprach Rabbiner Ben Chorin vom Schulchan orech, dem sich immer neu deckenden Tisch, im Gegensatz zum Schulchan aruch, dem schon gedeckten, sich nicht mehr ändernden Tisch.

Immer, wenn ich ihm eine Frage stellte, griff er nach Mischna Brura, einem Kommentar von Schulchan aruch, dem klassischen jüdischen Gesetz. Dann griff er auch nach einem anderen Buch, und noch nach einem anderen Buch, sodass ich oft am Ende meine Frage vergaß und verstand, warum er manchmal überspitzt sagte, dass ein Rabbiner für seine Rede keine Uhr, sondern einen Kalender brauche.

Wenn ich mit ihm spazieren ging, verwickelte er sich spontan in ein nettes Schmoozing mit einem Polizisten, Jugendlichen oder Straßenkehrer, mit jedem, der ihm begegnete. Er hatte für alle ein nettes Wort parat, einen kleinen Witz oder eine kurze Weisheit. Er war wie ein Zauberer, der zu jeder Zeit aus seinem Zauberhut eine schöne Blume herausziehen und überreichen kann. Er selbst sprach vom horizontalen Glauben, vom Göttlichen als Du und erläuterte dies am Beispiel der Gebetsriemen: „Wenn ich Tefillin anlege, sehe ich selbst die Tefillin nicht, sondern der Andere, der dadurch in gewissem Dialog mit mir steht.“ Wegen seines horizontalen Glaubens war Rabbiner Ben Chorin an jeder seiner Wirkungsstätten ein effektiver Seelsorger für Kranke, Ältere und alle, die seine Hilfe brauchten.

Er mochte das strukturelle Denken, wenn er von der Formel „Schöpfer – Schöpfung – das Geschaffene” sprach. Aber am meisten betonte er das folgende Trio, das für ihn die Essenz des gesamten Judentums darstellte: zum Ersten die Terminologie – d. h. die besonderen Worte und Ausdrücke, die wir benutzen und die uns prägen. Zum Zweiten der Kalender – d. h. das Gespür für den Ablauf der Zeit und die besonderen Zeiten im Laufe des jüdischen Jahres. Zum Dritten die soziale Ethik und die Aufmerksamkeit den fremden Menschen gegenüber.

Er bezog sich oft, in der guten Tradition des progressiven Judentums, auf die Propheten, wie z. B.: Bakschu Zedek, bakschu Anawa, sucht die Gerechtigkeit, sucht die Bescheidenheit (Zefanja 2,3).

Seine liturgischen Seminare in Zürich waren bekannt und gesucht. Rabbiner Ben Chorin konnte auf die textuellen Feinheiten im Siddur, Gebetbuch, lehrreich hinweisen, wenn er z. B. sagte: „An jedem Schacharit des Wochentages erinnern wir uns an viele Mizwot, wie Bikkur Cholim, Krankenbesuch oder Hachnassat Orchim, die Gastfreundschaft. Dann auch an Ijun Tefilla. Wenn wir Tefilla hören, denken wir gleich an die Pflicht zum Gebet. Rabbiner Ben-Chorin wies jedoch darauf hin, dass der Text vom Ijun Tefilla spricht, vom Studium, vom Betrachten des Gebetes, wobei diese Formulierung sogar Agnostiker nicht ausschließt.

Rabbiner Ben-Chorin wirkte seit seiner Ordination (1964 in den USA) in Israel, Manchester (1977-1981), Zürich (1996-2008), Berlin (2009-2015) und St. Gallen, wo er in der Nacht am 22. März 2022, ein halbes Jahr nach seinem 85. Geburtstag, diese Welt verließ.

Er wird von vielen vermisst. Nicht nur von seiner Frau Adina, den Söhnen Golan und Noam, den Enkelkindern Ilai, Roi, Shaked, Shirah und Tamar, den Schwiegertöchtern Jennifer und Bat Sheva. Jehi Sichro baruch.

 

Foto: © H.-P.Katlewski

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