Das Transitghetto Izbica

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Die Bahnstation von Izbica, Repro: Metropol Verlag

Vor 80 Jahren wurden fränkische Juden nach Osten deportiert.

Von Jim G. Tobias

Am 24. März 1942 mussten 428 Nürnberger Juden und ebenso viele aus weiteren fränkischen Städten und Gemeinden am Bahnhof Märzfeld einen Sonderzug der Deutschen Reichsbahn besteigen. Ziel war das Ghetto Izbica bei Lublin (Polen). Viele Menschen starben schon dort durch Hunger, Krankheiten oder Gewalt. Der Rest wurde in den Todesfabriken Belzec und Sobibor ermordet.

„Meine Eltern David und Amalie Goldberger waren patriotische Nürnberger und sehr verbunden mit ihrer deutschen Heimat“, berichtete der 2002 verstorbene Jakob Goldberger. Die Familie besaß eine große Textilhandlung. Zunächst kam mit der Enteignung des Geschäfts- und Wohnhauses der wirtschaftliche Tod, dann folgte die physische Vernichtung. Am 24. März 1942 wurden David und Amalie Goldberger nach Izbica deportiert. Sohn Jakob hatte sich noch rechtzeitig nach Palästina retten können. Von seinen Eltern hat er nie wieder etwas gehört.

In der kleinen polnischen Stadt bestand zunächst ein Ghetto für die ansässige jüdische Bevölkerung, das jedoch bald geräumt wurde; die Menschen in den Vernichtungslagern Belzec und Sobibor ermordet. Anschließend diente Izbica einige Monate lang als Transitghetto. „Vom 13. März 1942 bis Anfang Juni 1942 wurden mindestens 14.446 Juden aus dem Deutschen Reich, Luxemburg, dem Protektorat Böhmen und Mähren und der Slowakischen Republik nach Izbica verschleppt“, hat der Historiker Steffen Hänschen herausgefunden. Nicht wenige starben bereits im Ghetto.

Darunter befand sich auch der berühmte expressionistische Dichter Jakob van Hoddis. Ende April 1942 verschleppten die Nationalsozialisten ihn in die polnische Ortschaft. Bis zur Auflösung des Ghettos im November 1942 vegetierten insgesamt „über 25.000 Juden für kürzere oder längere Zeit“ in Izbica. Einen Monat zuvor hatte die Liquidierung begonnen: Am 18. und 19. Oktober 1942 bestellten die deutschen Behörden zwei Züge nach Izbica, in denen jeweils 2.500 Personen gepfercht wurden. Da der Platz nicht ausreichte, feuerten die Wachleute planlos in die Menge. Etwa 700 Menschen sollen diesem Massenmord zum Opfer gefallen sein. Dann fuhren die Züge in die Vernichtungslager Sobibor und Belzec. Lediglich eine Gruppe von „etwa 60 Personen erlebte das Ende der deutschen Besatzung“.

Das Transitghetto Izbica wird zwar in einigen historischen Studien als Zielort von Deportationen benannt. Doch enden diese Untersuchungen „oft mit der Abfahrt der Züge, Genaueres über das Schicksal der Opfer wird kaum vermittelt,“ musste Steffen Hänschen bei seinen Recherchen feststellen. Izbica und seine Funktion in der NS-Maschinerie ist auch vielen Experten kaum ein Begriff. In dem von Wolfgang Benz und Barbara Distel editierten Nachschlagwerk „Orte des Terrors“ wie auch in der von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem herausgegebenen „Enzyklopädie der Ghettos“ sucht man vergeblich nach Informationen über diesen „Vorhof zur Hölle“.

Obwohl die Nationalsozialisten bemüht waren, alle Spuren und Dokumente zu beseitigen, ist es Steffen Hänschen gelungen, die Geschichte des Ghettos zu erzählen – er nennt die Herkunftsorte der Ermordeten, die Transporte – beschreibt das kurze Überleben der geschundenen Menschen und schließlich deren Ermordung. Der Autor recherchierte akribisch in polnischen, deutschen, israelischen, englischen und US-amerikanischen Archiven. Er sichtete die Transportlisten, die Aufzeichnungen der Überlebenden, die wenigen erhaltenen Akten der Täter, Briefe sowie Tagebücher der Ermordeten. Zudem reiste er an die Tatorte und sprach mit Zeitzeugen. Er schildert die alltägliche Gewalt, den Hunger, die Angst und das grausame Morden. Hänschen wertete Ermittlungsakten aus und beleuchtet die juristische Aufarbeitung der Verbrechen. Der Autor beschreibt erstmalig und detailliert das Unfassbare. 600 Seiten Wahrheit! Ein wichtiges, quellengesättigtes und schon lange überfälliges Buch. 

Steffen Hänschen, Das Transitghetto Izbica im System des Holocaust, Metropol Verlag, Berlin 2018, 608 S., Euro 29,90, Bestellen?

Bild oben: Die Bahnstation von Izbica, Repro: Metropol Verlag

Linktipp:
Zum 80. Jahrestag der Deportation von Nürnberg nach Izbica am 24. März 1942: „Abgesehen von Wanzen und Flöhen wohnen wir gesund.“ – Ein Brief aus der Vorhölle