Rachel Kohn: Ansichten in Ton

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Die in Prag geborene Bildhauerin Rachel Kohn ist neben ihrer eigenen künstlerischen Tätigkeit im Vorstand des „Frauenmuseums Berlin“ aktiv und Kuratorin zahlreicher Ausstellungen. Im Interview mit Judith Kessler erzählt sie über ihren Weg nach Berlin, ihre Arbeit, ihr jüdisches, soziales und politisches Engagement, vor allem bei der Sichtbarmachung von Frauen in der Kunst.

Das Interview führte Judith Kessler für das Deutschland Archiv / BpB.
Die Fotos hat Sharon Adler, Mitherausgeberin der Reihe „Jüdinnen nach 1945. Erinnerungen, Brüche, Perspektiven“ gemacht.

Foto: Rachel Kohn in ihrem Atelier in Berlin-Charlottenburg (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2021 )

Prag, München, Jerusalem, Berlin

Judith Kessler: Du wurdest 1962 in Prag geboren. Wie hat es deine Familie nach Deutschland verschlagen?

Rachel Kohn: Pavel, mein Vater, war Theaterdramaturg und hatte schon Ende der 1950er-Jahre Probleme bekommen, da man an seinem Theater in Karlsbad von ihm erwartete, nur noch regimekonforme Stücke zu inszenieren. Er war aber nicht bereit dazu, irgendwem nach dem Mund zu reden, und so wurde er entlassen. Im kommunistischen System arbeitslos zu sein, war strafbar. Da er unter Diabetes litt, konnten sie ihn aber nicht auf den Bau schicken. Er hat versucht, mit Theaterkritiken etwas für die Familie dazuzuverdienen. Aber eigentlich hat meine Mutter als Lehrerin das Geld nach Hause gebracht. Wir, ich habe noch einen jüngeren Bruder, David, haben zu viert in einer Einzimmerwohnung mit Außentoilette gewohnt.

Irgendwann begannen politische Lockerungen, und mein Vater wurde Redakteur der neugegründeten Zeitschrift „Student“, für die er ab und zu ins Ausland fahren durfte – auch nach Deutschland. Hier hat er den Kontakt zu seiner Pflegemutter gesucht, die ihn nach dem Krieg als alleinstehenden 16-Jährigen in ihre Familie aufgenommen hatte. Von seinen Verwandten war – bis auf eine Cousine – niemand zurückgekehrt; er selbst hatte als Jugendlicher unter den bekannten grausamen Umständen Theresienstadt, Auschwitz, einen Todesmarsch von Blechhammer nach Großrosen, den Transport in offenen Kohlewaggons und Buchenwald überlebt.

1967 bekam unsere ganze Familie eine Einladung von dieser Pflegemutter, die in Frankfurt am Main wohnte, und – es muss ein Fehler im System gewesen sein – wir haben tatsächlich auch alle vier ein Visum bekommen. Unsere Eltern beschlossen, die Gelegenheit zu nutzen und nicht nach Hause zurückzukehren. Außer ihrer prekären sozialen Lage wussten meine Eltern auch, was das System anrichten konnte. Die Cousine meines Vaters war mit Rudolf Margolius verheiratet, der nach dem Slánsky-Prozess 1952 hingerichtet worden war[1]. Vor allem wollten sie uns Kinder vor dem Spagat zwischen der Staatsdoktrin und dem andersdenkenden Zuhause bewahren. Vor der Reise beziehungsweise Flucht haben sie beide noch auf die letzte Minute den Führerschein erworben und alles zu Geld gemacht, was sie konnten. Aber wir kamen trotzdem nur mit zwei Koffern in Deutschland an.

Mein Vater hat sehr schnell eine Anstellung als Kulturredakteur bei „Radio Free Europe“ bekommen, und so zogen wir aus dem Flüchtlingswohnheim bei Frankfurt nach München. Wir haben zwar zu Hause ausschließlich tschechisch gesprochen, aber in dem Jahr, bis ich eingeschult wurde, habe ich im Kindergarten genug Deutsch gelernt.

Judith Kessler: Du hast nach dem Abitur an der Akademie der Bildenden Künste in München Bildhauerei studiert, warst Meisterschülerin und hast eine Zeit an der Bezalel Academy of Art in Jerusalem verbracht. Hattest du da schon eine starke Bindung zum Judentum? Und wodurch wurden dir jüdische Themen wichtig?

Rachel Kohn: Bei uns zu Hause spielte das Jüdischsein hauptsächlich in Bezug auf den Holocaust eine Rolle. Ansonsten fühlten sich meine Eltern primär als Tschechen und hatten viele tschechische Freunde, allein schon durch die Arbeit meines Vaters. Als Teenager habe ich angefangen, mich für mein Judentum zu interessieren, habe meine Ferien in verschiedenen Kibbutzim verbracht und Iwrit gelernt. Nach dem Abitur bekam ich Kontakt zur ZWST [2] und arbeitete bei jüdischen Kinderfreizeiten mit.

Im Studium organisierte ich mir dann auch ein Austauschsemester mit einer Studentin in Bezalel, der Kunstakademie in Jerusalem. Ich war auf der Suche, irgendwo anders eine neue Heimat zu finden, in Israel, in Mexiko, in den USA. Ich wollte nur nicht in Deutschland bleiben. Ich fühlte mich nicht wohl, dass ich nach Deutschland „gegangen worden war“. Aber ich merkte mit Ende 20 dann doch, wie sehr ich inzwischen deutsch sozialisiert war.

Andererseits hat die jüdische Seite ein größeres Gewicht bekommen. Ich war oft im Kulturzentrum der Gemeinde in München und habe im Jüdischen Studentenverband meinen Mann Jacky Schenavsky kennengelernt; wir haben russische Neuzuwanderer*innen betreut und Pakete für Russland gepackt. 1993 zogen wir zusammen nach Berlin, wo auch unsere drei Töchter geboren sind. Da wurden jüdische Themen, jüdische Erziehung, ein jüdisches Zuhause natürlich noch mal wichtiger und aktiv gelebt. Jeden Freitagabend luden wir Freunde zum Kabbalat Schabbat [3] ein, das war ein fester Bestandteil der Woche.

Judith Kessler: Warum seid ihr nach Berlin gezogen?

Rachel Kohn: Da Jacky wegen seiner Geschäfte nicht ins Ausland konnte, wir aber gerne aus München wegwollten, war Berlin sowohl aus jüdischer als auch aus kultureller Sicht ein spannendes Pflaster. Ich hatte zusammen mit meiner Mutter Rut, die Malerin ist, schon 1991 eine Ausstellung im Tschechischen Kulturzentrum in Berlin und Jacky hatte hier Freunde aus Jugendzeiten. Für mich war es anfangs nicht einfach, weil ich niemanden aus der Kunstszene kannte und gleich schwanger wurde, bevor ich Fuß fassen konnte. Helena ist 1994 geboren, Amelie 1997 und Fanny 2000. So habe ich mir für den Anfang Projekte gesucht, die ich von zu Hause aus betreuen konnte.

Judith Kessler: Du bist ein politisch und sozial außerordentlich engagierter Mensch. Das zieht sich wie ein roter Faden durch deinen Lebenslauf. 1994 hast du „Benevolencija Deutschland“ mitinitiiert. Was macht der Verein?

Rachel Kohn: Als 1994 der Krieg in Bosnien ausbrach, haben wir erfahren, dass die Jüdische Gemeinde in Sarajevo eine Hilfsorganisation – „La Benevolencija“, auf Ladino: guter Wille – mit finanzieller Unterstützung von Freundeskreisen im Ausland unterhält. Dieser Krieg direkt vor unserer Haustür machte uns sehr betroffen, und mit anderen Freunden beschlossen wir, einen Verein zu gründen, um zu helfen.

Das Interessante war, dass die Juden ausnahmsweise außerhalb des Konfliktes standen und als „Unparteiische“ anderen Hilfe anbieten konnten. Unsere kleine Gruppe organisierte unglaublich viele Transporte, sammelte Geld und brachte die Deutsche Bank dazu, mit 500.000 D-Mark ein Gesundheitszentrum vor Ort zu finanzieren. Benevolencija Deutschland existiert heute noch, und wir schicken weiterhin jährlich 25.000 Euro an Spenden für das Home Care-Projekt nach Sarajevo. Nur neue Spender zu akquirieren, ist leider kaum mehr möglich, und die, die uns bisher treu begleitet haben, sind in die Jahre gekommen und sterben weg.

Judith Kessler: Jacky und du habt euch auch auf religiösem Gebiet engagiert.

Rachel Kohn: Wir haben in den 1990er-Jahren den Betrieb der Synagoge Oranienburger Straße mit aufgebaut, Gottesdienste als „Lernenden Minjan“[4] etabliert, um die Beter – meist Freunde – in die Lage zu versetzen, selbst einen Teil des Gottesdienstes zu übernehmen – mit „learning by doing“, vielen Treffen bei uns zu Hause und aufgenommenen Kassetten zum Lernen der Liturgie. Wir waren jeden Schabbat mit allen Kindern in der Synagoge, sie kannten sich da sehr gut aus und fühlten sich zu Hause. Daraus entwickelte sich mit der Zeit die Institution „Synagoge Oranienburger Straße“, die heute ein fester Bestandteil der Synagogen-Landschaft und des egalitären Judentums [5] ist.

Ton-Kunst und -Gedanken im Raum

Judith Kessler: Du bist Bildhauerin und arbeitest fast ausschließlich mit Ton. Was gefällt dir an dem Werkstoff so gut? Was ermöglicht er dir, wo begrenzt er dich?

Rachel Kohn: Ton bietet so viele Möglichkeiten, wie man ihn bearbeiten kann. Dieses Material lässt mich nicht los und ich reize es oft bis an seine Grenzen aus. Meine fragilen Arbeiten – wie z. B. die Häusersilhouetten –, da würde niemand vermuten, dass das aus Ton machbar ist und ich versuche es trotzdem. Manchmal kann ich – bis ein Werk gebrannt ist – nicht sagen, ob es funktioniert. Im rohen Zustand ist die Arbeit empfindlicher als rohe Eier. Man braucht sehr viel Erfahrung und trotzdem geht auch mal etwas schief. Aber wer Keramik macht, muss Frust ertragen können und ein bisschen masochistisch sein. (lacht)

Judith Kessler: Du hast zwei in der Öffentlichkeit sehr beachtete Arbeiten in der Stadtlandschaft geschaffen – das Denkmal für getötete Kinder im Straßenverkehr in Berlin und jenes für die verstorbenen Kinder von Zwangsarbeiterinnen in Otterndorf. Erzähl uns bitte etwas mehr darüber.

Rachel Kohn: Hier im Kiez in Charlottenburg, wo ja auch mein Atelier ist, wurde ein neunjähriger Junge von einem rechtsabbiegenden Lastwagen tödlich überrollt, und wir wollten, dass an der Stelle, an der Kreuzung Bismarck-/Ecke Kaiser-Friedrich-Straße, etwas an ihn erinnert und auf die Gefahren für Kinder im Straßenverkehr aufmerksam macht. Der Genehmigungsprozess war aber sehr langwierig, die Politik hat sich sehr gesträubt, nach dem Motto: „Wo kämen wir denn hin, wenn wir überall ein Denkmal für Verkehrsopfer aufstellen würden?!“ Aber zwei Jahre später, 2006, hatten wir uns doch durchgesetzt, haben Spenden gesammelt und das Mahnmal konnte realisiert werden.

Ein, zwei Jahre später schrieb mich eine Frau an, die sich in der Gruppe „Zukunft durch Erinnern“ in Otterndorf in Niedersachsen engagierte. Ein Mitglied des Vereins war im Archiv zufällig auf die Namen von 14 Kindern von Zwangsarbeiterinnen gestoßen, die in der NS-Zeit in der Otterndorfer „Ausländerkinderpflegestätte“ unter ungeklärten Umstanden gestorben sind und von denen man nicht einmal weiß, wer ihre Eltern waren.

Sie fragte mich, ob ich mir vorstellen könne, ein Denkmal zu entwerfen, und ich freute mich, als mein Entwurf die Zustimmung der Initiative bekam und ich ihn – als Bronze – ausarbeiten konnte. Am 8. Mai 2009, dem Jahrestag der Befreiung, wurde meine Skulptur „Himmelsangst“, ein Kinderbett mit darüber schwebender schwarzer Wolke, eingeweiht. Nach der bewegenden Zeremonie kamen zu den schon bekannten Fakten noch andere unglaubliche Geschichten zu Tage.

Die Initiative hatte im Internet nach ehemaligen Zwangsarbeitern gesucht, und ein 65-jähriger Bauingenieur aus Russland, den man eingeladen hatte, war selbst eines dieser Kinder in Otterndorf gewesen. Er war bei seinen Großeltern aufgewachsen und erzählte, dass Teile des Tagebuchs seiner Mutter gerettet worden waren, aus denen hervorging, dass seine Mutter auf einem der umliegenden Höfe gearbeitet hatte. Nachdem sie ihn geboren hatte, musste sie sofort weiterarbeiten und auf ihn, das Baby, habe der Schäferhund des Hofbesitzers aufgepasst. Eines Tages hat ein Nazi, der das sah, den Hund erschossen, an einen Baum gehängt und das Baby mitgenommen – eben in diese „Ausländerkinderpflegestätte“. Seine Mutter soll aber ein großes Geschrei angefangen und der Hofbesitzer es geschafft haben, ihn wieder zurückzubekommen. Kurz darauf war der Krieg vorbei. Die Mutter lief Richtung Heimat und hatte sich mit dem Kindesvater, der ebenfalls Zwangsarbeiter war, irgendwo unterwegs verabredet. Unglücklicherweise ist sie auf eine Mine getreten und starb. Seine Eltern hat der Mann also nie kennenlernen können.

Es kam noch ein anderer Herr zur Feier, ein sehr alter, ganz einfacher Mensch, der keine Fremdsprachen konnte und für den man einen Übersetzer organisiert hatte. Er bat darum, den Hof besuchen zu dürfen, auf dem er damals arbeiten musste. Obwohl schon die dritte Generation seit damals den Hof bewirtschaftete, hatten die Bauersleute Angst vor dieser Konfrontation. Aber der alte Mann kam auf den Hof, brachte Schokolade mit und fragte, ob die Tochter der damaligen Besitzer noch leben würde, weil er auch für sie ein Geschenk dabeihabe. Er hatte sich mit damals 20 Jahren in sie verliebt und sich oft an sie zurückerinnert. Sie war leider zwei Jahre zuvor gestorben. Der Mann sagte, die Zeit sei zwar schlimm gewesen, aber so sei es eben im Krieg und er fühle keinen Groll. Das war für alle eine schöne, befreiende Begegnung. Alle spürten das Aufatmen der Hofbewohner, die Geschichte war etwas klarer und schwebte nicht mehr wie eine drohende Wolke über dem Gehöft. Sie wussten ja nicht genau, was damals dort geschehen war, wie sich die eigenen Großeltern verhalten hatten. Insofern hat dieses Denkmal noch mehr zur Versöhnung beigetragen.

Judith Kessler: 2016 hast du einen Kunst-am-Bau-Wettbewerb gewonnen und 2017 eine Wandinstallation im Gemeindesaal der Jüdischen Gemeinde in Nürnberg realisiert. Sie trägt den biblischen Titel „Ich will meine Wohnung unter euch haben“, Leviticus 26, 11, und besteht aus 2000 Keramikkugeln. Was war die Idee dabei?

Rachel Kohn: Die Auftraggeber wollten, dass die Arbeit etwas mit ihrem Ort zu tun hat. Anfangs dachte ich: Oje, Nürnberg – Reichsparteitag, Rassengesetze, Nürnberger Prozess … wer will das in seinem Gemeindesaal haben?! Aber dann sind mir beim mehrfachen Lesen der Ausschreibungsunterlagen ein paar Zahlen aufgefallen. In Nürnberg haben 1945 gerade mal 100 Überlebende diese Gemeinde wieder zum Leben erweckt und heute hat die Gemeinde bereits 2000 Mitglieder. Da entwickelte ich die Idee, 2000 Kugeln in unterschiedlicher Größe und Farbe an die Wand zu bringen.

Geholfen haben mir dabei zwei junge, aus Syrien geflüchtete Brüder, die ich kurz zuvor kennengelernt hatte. Es war eine sehr schöne Zusammenarbeit, sie konnten ihre Deutschkenntnisse verbessern und wir unterhielten uns auch über Religion und Politik. Sie wussten, dass ich Jüdin bin und brachten mir israelische Songs mit. Mithilfe des Vereins „Flüchtlingspaten Syrien“ haben wir es nach aufregenden Monaten später geschafft, Mutter und Bruder nach Deutschland zu holen.[6]

In den 1930er-Jahren fragten sich viele, ob sie weggehen oder bleiben sollten, heute haben wir wieder eine angespannte Situation für Juden mit ähnlichen Sorgen, und in Zukunft wird es wahrscheinlich nicht anders sein. Aus dieser Fragestellung heraus formten sich in meinem Kopf die Worte „Wenn ich wüsste…“. Der ist für mich sowohl universell politisch als auch im Persönlichen anwendbar. Die Jury war sehr angetan von meiner Bewerbung mit den Kugeln, aber der Meinung, der Satz würde die Mitglieder überfordern, sodass ich ihn dann in der zweiten Wettbewerbsphase veränderte. Aber das Bild der „Wohnung“ passt ja auch sehr gut. In der Mitte der Wandinstallation ist ein großes Loch für die „Leerstellen“ und manche Menschen beziehungsweise Kugeln befinden sich in der Peripherie, sind isoliert oder einsam, andere sind dick und groß und schillernd…

Judith Kessler: Zu den – nur größenmäßig betrachtet – kleineren Arbeiten: Es gibt kaum eine Künstlerin in Deutschland, die sich so intensiv mit jüdischer „Kultkunst“, will ich es mal nennen, befasst und Judaica so witzig oder skurril umsetzt. Wo kommt diese Ader bei dir her? Und was fasziniert dich an Häusern, die ja ebenfalls ein häufiger Gegenstand deiner Arbeit sind?

Rachel Kohn: Zur ersten Frage: Ich weiß es nicht, aber ich bin einfach verspielt und lache selber gern. Also sind auch meine Pessach-Teller oder Chanukka-Leuchter eben verspielt und multifunktional einsetzbar – das gehört dazu. Ich bin auch ein bisschen stolz darauf, dass mein zweites Standbein, die Gebrauchskeramik, bei der ich mich farblich und ornamental austoben kann, inzwischen viele Liebhaber hat. Das Team der Bundeskanzlerin erwarb im Museumsshop des Jüdischen Museums Berlin eine meiner Arbeiten als Gastgeschenk für den israelischen Ministerpräsidenten.

Ja, und die Häuser: Vielleicht haben die mit meiner tschechischen Herkunft zu tun. Ich muss etwas erzählen, meinen Ansichten zur Welt und zum Leben einen poetischen Ausdruck geben. In meinem Hinterhofatelier in Charlottenburg habe ich jetzt viele Jahre Häuser gebaut: geschlossene, offene, rudimentäre, schiefe, umwickelte, zusammengenähte, löchrige… Es geht mir um mögliche Perspektivwechsel und darum, dass die Dinge meist mehrere Facetten oder Seiten haben: Bei einem Haus, wo es oben hineinregnet und unten Moos wächst, ist offensichtlich das Dach kaputt, aber nur deswegen kann das Moos wachsen. Häuser, die nur ein Gerippe sind, bieten keinen Schutz, aber vielleicht Freiheit. In den Häusern spiegelt sich mein Leben und das, was um mich herum geschieht.

Seit Corona forme ich aber erst einmal keine Häuser mehr. Die Zeit hatte für mich so viel Ruhe und Abgeschiedenheit und zu viele leere Häuser. Ich beschäftige mich mit Hautfarben, weil wir eine Ausstellung „Haut“ in Planung haben und widme mich wieder der Figur, die in den Architekturen zwar nicht sichtbar und doch mitgedacht war. Dabei tritt meine erzählerische Ader noch mehr in den Vordergrund. Die Geschichten sind oft kurios, manchmal absurd und oft voller Allegorien. All meine Gedanken, Gefühle, Sehnsüchte sind darin enthalten.

Frauen sichtbar(er) machen

Judith Kessler: Wie kamst du zum Frauenmuseum Berlin? Erzähl uns bitte etwas über die Ziele und die Arbeit des Vereins.

Rachel Kohn: Durch meine drei Kinder hatte ich zwar die Möglichkeit, im Atelier zu arbeiten, solange sie im Kindergarten und in der Schule waren, aber ich hatte wenig Zeit, mich abends mit anderen Künstler*innen zu vernetzen. Eines Tages bin ich auf die Anzeige des Frauenmuseums Berlin [7] gestoßen, das Mitstreiterinnen suchte. Ziemlich schnell wurde ich zur Vorsitzenden gewählt, da ich gut organisieren kann und gerne Künstlerinnen unterstützen wollte.

Der Verein wurde in den 1990er-Jahren gegründet, um Frauen mehr in den Fokus der Stadtgeschichte zu rücken. Seit ich 2007 eingestiegen bin, hat er sich zum Bereich Bildende Kunst hin gewandelt. Wir haben keinen festen Ort, sondern bespielen zum Beispiel die Kommunalen Galerien. Wir bieten Berliner Künstlerinnen eine Plattform, wir versuchen, Kontakte zu Ausstellungsmacher*innen und Institutionen herzustellen, den Austausch zu fördern und die Frauen zu vernetzen. Ein Beispiel ist die Reihe „Vierhändig“, wo es darum geht, jeweils zwei Künstlerinnen unterschiedlicher Generationen zusammenzubringen, was für beide Seiten produktiv und lehrreich sein kann.

Eine anderes Beispiel war 2019 unsere Ausstellung mit 17 Künstlerinnen unter dem Titel „STIMMEN! 100 Jahre Frauenwahlrecht“ im Willy-Brandt-Haus. Die ist unglaublich gut geworden, zum Beispiel hat eine Frau ein fiktives Interview mit zwei Frauenrechtlerinnen geführt, die nächste hat sich Virginia Woolfs „A Room of her own“ vorgenommen, und mein Beitrag waren unter anderem Flüstertüten aus Keramik mit Aufschriften von Modifikationen des Wortes „Stimmen“, wie abstimmen, bestimmen, überstimmen, anstimmen usw. – unterschiedlich große Megafone, um sich – ob als kleines Mädchen oder erwachsene Frau – Gehör zu verschaffen.

Judith Kessler: Du bist Mitorganisatorin der Aktion „fair share! Sichtbarkeit für Künstlerinnen“.[8] Worum geht es dabei und wie agiert ihr?

Rachel Kohn: Frauen machen die Mehrheit der Absolvent*innen an Kunsthochschulen aus, gleichzeitig sind sie in Ausstellungen unterrepräsentiert, vor allem in Häusern, die aus Steuergeldern finanziert werden. Sie verdienen in der Kunst deutlich weniger als Männer, der so genannte Gender Pay Gap liegt immer noch bei 24 Prozent, und das ist absolut nicht einzusehen! Darauf wollen wir die Öffentlichkeit und die Politik aufmerksam machen und immer wieder fragen: Wo sind die Frauen?!

Außerdem geht es bei „faire share for women artists“ darum, größere Sichtbarkeit für Künstlerinnen zu erreichen und die oft prekären Arbeits- und Lebensbedingungen für freischaffende Künstlerinnen mit Kindern zu verbessern. Die Museen kaufen ja immer noch eher einen x-ten Adolf Menzel an als Bilder von Künstlerinnen aus dieser Epoche, und sie holen die ohnehin wenigen Arbeiten von Frauen kaum aus ihren Depots. Deswegen haben wir jetzt schon zweimal zum Weltfrauentag in den sozialen Medien wie Facebook oder Instagram Statistiken zum Stand der Gendergerechtigkeit gepostet und Performances veranstaltet – letztes Jahr vor der Alten Nationalgalerie und dieses Mal vor der Gemäldegalerie am Kulturforum, wo über tausend Meisterwerke hängen, aber nur wenige von Frauen, da sie nicht in den männerdominierten Kunstkanon aufgenommen wurden.

Und auch zu den Tagen der offenen Tür der Neuen Nationalgalerie, die nach der Renovierung wieder fürs Publikum geöffnet wurde, wollten wir ein Zeichen setzen, um unsere Forderung nach mehr Künstlerinnen in der kommenden Schausammlung sichtbar zu machen. Da das Gelände von einem Bauzaun umgeben war, haben wir in der Nacht innerhalb von zwei Stunden in einer Hauruck-Aktion 800 Namen von Künstlerinnen auf Papier ausgedruckt und an den Zaun geklebt. Das war sicher nicht ganz legal, aber sehr beeindruckend und sah toll aus. Und was passierte? Am nächsten Morgen war alles abgerissen. Aber sicherlich haben wir damit die Hausleitung für unser Thema sensibilisiert!

Derzeit planen wir eine Aktion zum 300. Geburtstag der in ihrer Zeit hoch angesehenen Berliner Malerin Anna Dorothea Therbusch, den kein einziges Museum begeht! Und zur Wiedereröffnung der Neuen Nationalgalerie im August werden wir T-Shirts mit Künstlerinnennamen bedrucken und die Besucher bitten, mit dem Tragen eines solchen T-Shirts eine Künstlerin mit ins Museum zu nehmen. Wir hoffen, dass die Medien uns dabei unterstützen werden!

Judith Kessler: Das Frauenmuseum Berlin ist auch Teil des EU Projektes REGENERART, das im Mai 2021 an den Start ging.[9] Worum geht es dabei?

Rachel Kohn: Das ist ein Projekt, das über einen Zeitraum von zwei Jahren geht. Es sind acht internationale Partner und sechs Länder beteiligt. Es geht darum, mittels der Kunst die Genderdebatte in die Schulen zu bringen. Wir werden uns mit den Jugendlichen anhand von Kunstwerken ansehen, wie unterschiedlich Frauen und Männer und in welchen Ambienten sie dargestellt sind, welche Stereotype reproduziert werden und wie sie gebrochen werden können. Später wird mit allen Beteiligten ein Manifest erarbeitet und zum Schluss soll es eine Ausstellung geben, wo Künstler*innen zusammen mit den Schüler*innen selbst etwas erarbeiten, das dann – hoffen wir – ohne Stereotype auskommt und vielleicht auch das Empowerment von Frauen begünstigt.

Judith Kessler: Du bist auch Teil von LABA Berlin, einem Künstler-Stipendienprogramm, das in Zusammenarbeit mit LABA Global in New York von der Synagoge Fraenkelufer ins Leben gerufen wurde und sich dieses Jahr dem Thema „The Chosen“ widmet…[10]

Rachel Kohn: Ja, ich habe mich sehr gefreut, aufgenommen worden zu sein. Wir sind eine Gruppe von acht Künstler*innen aller Sparten, die ganz unterschiedlich arbeiten. Das diesjährige Thema ist provokativ und vielschichtig. Wir treffen uns einmal in der Woche und studieren sowohl biblische und historische als auch zeitgenössische Texte. Danach werden wir drei Monate Zeit haben, jede*r für sich oder miteinander ein Projekt zu entwickeln, das Ende des Jahres der Öffentlichkeit präsentiert wird. Es ist eine junge Truppe und ich bin sehr gespannt, was sich entwickeln wird!

Judith Kessler: Du hast einen Namen, der sehr „jüdisch“ klingt und arbeitest viel zu jüdischen Themen. Hast du selbst Erfahrungen mit Antisemitismus gemacht?

Rachel Kohn: Nein, ich hatte in meinem Leben bisher keine antisemitischen Erlebnisse. Vielleicht ist mein Umfeld anders. Ich gehe sehr offen und positiv auf Leute zu und bin gerne dabei, wenn es sinnvolle Aktionen gibt. Aber ich meide manche Settings auch. Zum Beispiel Israel-Demos, auf denen sich deutsche Juden in Israel-Fahnen hüllen und sich dann wundern, für die israelische Politik verantwortlich gemacht zu werden. Vor allem, wenn sie die Fahnen auch auf Demonstrationen gegen Antisemitismus schwenken. Wenn wir Juden schon nicht Antisemitismus und Israel auseinanderhalten können, wie sollen es die anderen besser wissen?

Ich finde, man müsste hier in Berlin zusammen mit aufgeklärten palästinensischen Menschen zusammen auf die Straße gehen, um gemeinsam gegen die Gewalt im Nahen Osten zu protestieren. Mein Vorbild wäre dabei die „women wage peace“-Bewegung in Israel.[11] Ich denke, dass Frauen auf allen Gebieten mehr Einfluss haben sollten. Vielleicht würde damit unsere Chance auf eine grundsätzliche Veränderung der Weltordnung wachsen, in der es zu viele soziale Ungerechtigkeiten und sinnlose Kriege gibt!

Judith Kessler: Was wünschst du dir für oder wie siehst du die Zukunft?

Rachel Kohn: Es wäre natürlich zu wünschen, dass die Kultur wirklich einen größeren Stellenwert genießen und „systemrelevant“ würde, so wie die Pflegeberufe es verdienten, stärker anerkannt zu werden. Aber ich habe nicht so viel Hoffnung, dass in der Pandemie ein Umdenken stattgefunden hat. Die Wirtschaft „regiert“ weiter über alles. Ich mache mir Gedanken, wie junge Leute damit umgehen, dass sie gerade anderthalb Jahre verloren haben und man das einfach so weggewischt hat. Ich mache mir Sorgen über die Wahlergebnisse in Sachsen-Anhalt und anderswo, darüber, was heute alles wieder gesagt werden darf, dass gewisse Leute Zugpferde einer Partei sein können, über den Hass in den sozialen Netzwerken und was in dieser Beziehung noch alles auf uns zukommt.

Und natürlich wünsche ich mir, dass es keine weiteren 20 Jahre dauert, bis der gender gap geschlossen ist und die Frauen in allen Bereichen gleichberechtigt sind. Aber im Moment freue ich mich erst einmal, dass ich nach ziemlich genau 30 Jahren zum ersten Mal wieder mit meiner Mutter zusammen ausstelle, im Schloss Obernzell an der Donau – Rut Kohn [12] und Rachel Kohn [13]: „Aus den Wolken tropft die Zeit“. Das hätte gewiss auch meinen Vater gefreut, der leider 2017 gestorben ist.

Fußnoten:
[1] Der Slánský-Prozess war ein antisemitischer Schauprozess gegen 14 führende Mitglieder der Kommunistischen Partei der ČSSR, darunter elf Juden. Elf der Angeklagten wurden 1952 wegen einer vermeintlichen trotzkistisch-zionistischen Verschwörung zum Tode verurteilt. Das Urteil war der Beginn einer von der sowjetischen Führung erwünschten Prozesswelle ähnlicher Art im gesamten sozialistischen Lager.
[2] Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland
[3] Kabbalat Schabbat, der Empfang des Schabbats, ist ein Teil des Freitagabendgottesdienstes. Die Gemeinde begrüßt die „Braut“ Schabbat und damit den Feiertag und oft gibt es nach dem Gottesdienst noch ein gemeinsames Essen oder Beisammensein.
[4] Minjan ist das Quorum von mindestens zehn Betern (oder im Reformjudentum auch Beterinnen), das notwendig ist, um einen Gottesdienst abzuhalten. Als „Lernender Minjan“ werden seit den 1990er-Jahren in vielen Synagogengemeinden Gruppen bezeichnet, die sich regelmäßig treffen, um miteinander jüdische Texte, Rituale und Liturgien zu studieren und sich selbst zu befähigen, Gottesdienste oder Teile davon durchzuführen.
[5] Im egalitären Judentum sind Männer und Frauen gleichberechtigte Beter.
[6] siehe auch: www.fluechtlingspaten-syrien.de
[7] siehe auch: www.frauenmuseumberlin.de
[8] siehe auch: www.fairshareforwomenartists.de
[9] siehe auch: https://regenerart.eu
[10] siehe auch: www.aufbruch-am-ufer.berlin
[11] siehe auch: https://womenwagepeace.org.il
[12] siehe auch: www.rutkohn.de
[13] siehe auch: www.rachel-kohn.de