Der nächste Teil der Reiseeindrücke des jiddischen Schriftsteller Schalom Asch, die ab November 1931 in Fortsetzung in der Zeitschrift Menorah erschienen. Sie sind eine Momentaufnahme des jüdischen Lebens in den USA, aber auch die Begegnung eines aus Polen stammenden Schriftstellers mit den Menschen des Landes…
Schalom Asch wurde 1880 in Kutno geboren und traditionell jüdisch erzogen. 1899 zog er nach Warschau und begann dort als Schriftsteller in Hebräisch und Jiddisch zu arbeiten. Nach einem Aufenthalt in den USA und der Rückkehr nach Russland, verbrachte Asch die Zeit des Ersten Weltkriegs in New York, wo er für jüdische Zeitschriften arbeitete und seine Theaterstücke erfolgreich aufgenommen wurden. 1923 kehrte er nach Polen zurück, musste jedoch 1938 erneut in die USA emigrieren. 1956 zog er nach Bat Jam nahe Tel Aviv. Schalom Asch starb am 10. Juli 1957 in London.
Quer durch Amerika
Eindrücke einer Reise
Von Schalom Asch
Autorisierte Übersetzung von Siegfried Schmitz
Erschienen in: Menorah, X. Jahrgang, Mai 1932, Nummer 5/6
VII.
Von schwarzen Königinnen, Sombreros und alten Schuhen
Einst herrschte in dem Lande am Pacific eine schwarze Königin mit Namen California. Alle ihre Untertanen waren Frauen. Jeder Mann, der sich in den Grenzen des Königreiches sehen ließ, wurde unbarmherzig dem Tode überliefert. Alle Häuser im Lande waren aus geschliffenem Bergkristall und ihre Dächer aus Gold. Alles Hausgerät war aus eitel Gold verfertigt, die Rosse trugen goldenes Geschirr und auch das Zaumzeug der Maulesel war aus Gold. Die Königin California war sehr mächtig. Kein König und kein Held konnte ihr im Kampfe widerstehen. Ihr Heer bestand ausschließlich aus Frauen. Ihre Waffen waren aus purem Golde geschmiedet. Das freie, starke Frauenreich der Königin erstreckte sich über die grünenden Berge und die fruchtbaren Täler des schönen Landes, das nach seiner Königin benannt wurde. Die Frauen hatten keinen Herrn über sich und kein Mann sah ihre Blöße. Sie gingen völlig unbekleidet, nur Goldschmuck zierte ihre schwarzglänzenden Leiber. In strahlender Nacktheit lustwandelten die heldenhaften Frauen in den fruchtbaren Gärten, auf schwarzen, goldgezäumten Rossen stürmten sie über die Hügel, über die üppigen mit grünem Samtteppich bedeckten Fluren, badeten in dein himmelblauen Meer, das die Ufer des fruchtbaren Landes bespült — und kein Herr, kein Gebieter war über ihnen. Frei und stark lebte das große, edle Heldenvolk der Frauen.
Dies erzählt ein alter Roman, der zu Anfang des 16. Jahrhunderts in Spanien erschienen ist, von den ersten Bewohnern Kaliforniens, die, wie es in dem Buche heißt, „zur Rechten des neuen Indien siedeln“. Der Roman geriet bald in Vergessenheit und es blieb bloß eine verschwommene Legende übrig; sie schwebte wie ein Sommerfaden durch die Luft des romantischen Mittelalters und flüsterte von dem Goldland, in dem ein freies heldenhaftes Frauenvolk auf fruchtbarem Boden in Häusern aus Kristall unter goldenen Dächern lebt, das von keinem König und keinem Helden besiegt werden könne und keinen Mann in seinen Grenzen dulde. Und seither ließ das Goldland mit seinen dunklen Bewohnerinnen die schwärmerischen Geister Europas nicht ruhen. Jahrzehntelang träumten die Menschen von dem Reich der California, wo die Quellen der ewigen Jugend fließen, wo das Geheimnis der ewigen Liebe zu finden ist zusammen mit unerschöpflichen Schätzen. Und die Ritter und Abenteurer aller Länder und Zeiten zogen aus, um dieses Land zu suchen, frommen Pilgern gleich wanderten sie über Meere, Wüsten und Gebirge. Wie eine Fata Morgana, wie eine Vision schwebte das geheimnisvolle Reich vor ihren Augen und der Schein des Goldes übte seinen geheimnisvollen Zauber aus den verborgenen Tiefen der Ströme und Berge.
Ich weiß nicht, ob die ersten Entdecker Kaliforniens das Königreich der schönen nackten Frauen gefunden haben. Aber Spuren dieses Frauenstaates sind in Kalifornien noch bis zum heutigen Tage zu finden. Das Gold des Landes ging wohl in fremde Hände über, — aber die ewige Liebe kann niemand für sich allein kapitalisieren und sie blüht noch jetzt überall in dem ebenen Teil Kaliforniens wie das Grün der Fluren, wie die bunten Blumen, wie der Duft der Orangenblüten. Ich glaube, Kalifornien ist bis heute das Land der Liebe und der ewigen Jugend. Es mag sein, daß die Frau eine Frucht ist, die nur in einem Lande ewigen Sommers gut gedeihen kann — sicher ist, daß kein Land so viel schöne Frauen besitzt wie Kalifornien. Vielleicht sind das die Spuren des legendären Frauenreiches.
Jedes Land hat seine eigene Farbe. Wenn man um die Osterzeit an einem schönen Morgen in Jerusalem erwacht und die weißen Straßen, die weiß getünchten Häuser, den weißblauen Himmel sieht, dann ruft man unwillkürlich aus: „Das ist das Silberland.“ Denn in Palästina hat alles die Farbe des Silbers. Kalifornien aber hat die Farbe des Goldes. Dieser Eindruck kommt nicht etwa daher, weil unsere Phantasie schon darauf eingestellt ist, Kalifornien im Glanz des Goldes zu sehen; die Farbe des Goldes wird dem Lande vielmehr von seinen Orangen verliehen. Wo man geht und wo man fährt, erstrecken sich große Orangenpflanzungen, über Meilen weit stehen ganze Wälder kleiner, kräftiger Stämme mit saftgrünen Blättern, die in fetter, schwarzer, frischbewässerter Erde wurzeln. Und hinter jedem grünen Blatt lugen goldgelbe Orangen hervor. Zur Zeit, als ich in Kalifornien war, reiften eben die Orangen. Doch ehe sie noch abgenommen werden, tragen die Bäume bereits die zweite Blüte. Der Duft der Orangenblüten ist so stark, daß er die Luft mit einem berauschend starken Parfüm erfüllt. Und unablässig befindet man sich wie unter der Wirkung von Alkohol — es ist ein unaufhörliches Angeheitertsein. In dem Jahre, als ich Kalifornien besuchte, waren die Orangen besonders gut geraten. Unter der Fülle der Früchte brachen schier die Äste und neigten sich tief zur Erde unter der schweren Last. Die Ernte an Orangen war diesmal übermäßig groß. Darüber waren die Pflanzer nicht allzusehr entzückt — so sagte man mir wenigstens.
Überall am Weg liegen Orangen umher und niemand nimmt sich die Mühe, sie aufzuheben. Vor jeder Pflanzung stehen die Besitzer und bieten ganze Körbe und Fässer von Orangen feil, einen vollen Korb für einen Vierteldollar. Die Zitronen werden gar nicht von den Bäumen abgenommen — angeblich deshalb, weil angesichts des Tiefstandes der europäischen Valuta die Italiener ihre eigenen Zitronen einführen und den Preis so unterbieten, daß die kalifornischen Zitronen keinen Absatz finden. Daher bleiben sie an den Bäumen hängen, fallen ab und faulen. Dieses Bild sieht man von Los Angeles bis San Diego. Als wir jedoch nach einer Reise durch einen wahren Zitronenstrom in San Diego ein Restaurant aufsuchten und einer meiner Reisegefährten sich zum Fisch eine Zitrone geben ließ, erschien nach einiger Zeit der Kellner, vorsichtig eine große Tasse vor sich balancierend; auf dieser stand ein kleines Täßchen und darauf lag, wie ein kostbarer Edelstein, ein Viertel einer kleinen, vertrockneten Zitrone.
Los Angeles ist die spanische Bezeichnung für „Engel“. Ich weiß nicht, ob die Bewohner von Los Angeles Engel sind — jedenfalls haben sie mit den geflügelten Himmelsbewohnern das eine gemeinsam, daß sie nie zu Fuß gehen. Jeder oder fast jeder Bewohner von Los Angeles verfügt über ein eigenes Auto. Es ist nicht überraschend zu sehen, daß ein einfacher jüdischer Arbeiter in Los Angeles zu seiner Arbeit nicht in einem überfüllten Autobus fährt, wie in New York, sondern in einem eigenen, allerdings nicht ganz neuen Auto, das er sich aus ver¬schiedenen Typen zusammengesetzt hat. Man sieht nicht selten Wagen, deren vordere Hälfte ein Ford, die hintere ein Hudson ist.
Das Auto ist in Los Angeles keine Luxusangelegenheit, sondern eine Notwendigkeit. Das Land ist wunderschön und hat ewigen Som¬mer. Da wohnt man denn statt in einer eigenen Villa in seinem eigenen Auto. An freien Tagen werden Frau und Kinder in den Wagen gepackt, ein paar Wirtschaftsgeräte, etliche Kissen und ein zerbrochenes Eisen¬bett werden aufgeladen, dazu kommen noch ein paar Stühle und ein kleiner Ofen — und so wird die Fahrt angetreten. Wenn man Sonn¬tags auf der Straße steht, glaubt man, ganz Los Angeles sei im Umzug begriffen. Kissen und Bettüberzüge in allen Farben, Kinder in allen Größen bis hinab zu solchen im Steckkissen und in Wiegen. Einige sitzen auf Stühlchen, andere hängen auf dem Oberdeck des Autos — – und alles, alles fährt.
Die „Stadt der Engel“ liegt wirklich in einem Paradies. Wie die Fassung um einen kostbaren Edelstein schlingen sich grüne Gärten um Los Angeles. Diese Gärten und die Stadt sind wiederum von himmlisch weißen, schneebedeckten Bergen umschlossen. Es ist der 10. März. Um die Mittagszeit ist die Sonne bereits heiß und ergießt trockene, erfrischende Helligkeit. Und ganz nahe erheben sich weiße Schneeberge, sie scheinen geradezu vor dem Fenster zu stehen. Der Schnee blitzt in der Sonne und es sieht aus, als stünde ein Stück Himmel dem anderen gegenüber. An die Schneeberge aber lehnen sich dunkelgrüne Hügel, die wie frischbesät aussehen, als hätten Menschen sie gepflügt. Meilenweit erstreckt sich dieses wellige Grün und sinkt talwärts. Da und dort klettern Orangengärten den Hügelhang hinan. Eine Gruppe junger, schlanker Cypressenbäumchen ragt aus dem Talgrund empor und verhüllt die Façade eines glänzendweißen, maurisch-spanischen Palastes; und im Schalten der gefiederten Palmen scheinen die schwarzen Amazonenköniginnen zu baden, die einst das Land beherrschten. Die ganze Landschaft ist voll romantischer Erscheinungen, weiße Paläste, grüne Palmen und dunkle Cypressen geben ihr das Gepräge. Dann erheben sich aus grünem Feld weiße, trockene Nußbäume, die aussehen, als wären sie aus Eis. Da und dort große Olivenwälder mit ihren knorrig verkrüppelten Stämmen. Und immer wieder da ein Hügel, dort ein Tal, mit dem frischesten, grünsten Grasteppich bedeckt. Zwischen den Bäumen lugt bald ein weißer Marmorpalast, bald ein goldrot schimmerndes Ziegeldach, das in der Sonne glänzt. Und über Berg und Tal zieht wie ein weißes Seidenband eine unendlich lange, hell asphaltierte Straße, zu beiden Seiten von Palmen, Cypressen, Orangengärten, von den rosa und weißen Aprikosen- und Kirschblüten umsäumt. Kann mau in einem solchen Lande zu Hause hocken? So verlädt man denn die Kinder und den Eisenherd im Auto, packt das Bettzeug dazu und fährt drauf los. Man übernachtet im Freien zwischen Orangen- und Zitronenbäumen, klappt die Eisenbetten auf und stellt den Herd in der Nähe der Millionärspaläste von Pasadena auf. Man atmet dieselbe Luft wie die Millionäre und sieht dieselbe Welt wie sie . . . Und am nächsten Morgen packt man alles wieder ein und fährt in die Stadt zur Arbeit.
Amerika ist kein Land mit einer Menschengattung, sondern ein verkleinertes Abbild der ganzen Welt. Eine Unzahl von Sprachen, Gebräuchen und Lebensformen sind in jeder einzelnen Stadt zu sehen. Man muß keine große Reise machen, um in ein fremdes Land zu gelangen. Wenn man in New York von der Redaktion der jüdischen Tageszeitung „Forward“ zum Broadway kommen will, so passiert man auf diesem Wege von etwa 15 Minuten drei Länder: zunächst ein Judenland, dann Italien, und wenn man einen Hang zur Romantik, Freude an Farben und Sinn für Exotik hat, so macht man, einerlei ob es notwendig oder nicht notwendig ist, einen kleinen Abstecher nach China. Wer nämlich mit offenen Augen durch das New Yorker Chinesenviertel geht, der sieht in dem einen Tropfen das ganze Meer des riesigen Reiches der Mitte.
Im Osten der Nation werden die Völker sehr schnell assimiliert und so völlig im „Schmelztiegel“ aufgelöst, daß man oft nicht mehr genau erkennen kann, wer vom Berg Libanon und wer von den Reisfeldern Chinas hergekommen ist. In New York liegt China zu nahe den jüdischen Altkleidergeschäften. Und wenn ein Chinese dort vorübergeht, so wird er von eifrigen Händen in einen jüdischen Kleiderladen gezerrt; ehe er sichs versieht, ist sein Zopf fort und er steckt in einem Paar Hosen, die von einem Gentleman aus „Riverside Drive“ stammen, in einem Schlußrock, den ein jüdischer Rabbiner getragen hat, in einem Hut, der ehemals einem jüdischen Schauspieler gehörte — und mit dem Chinesen ist es aus. Aber im amerikanischen Orient, an der Küste des Pacific, an dessen einem Ufer sich die „Venus“, der Prater von Los Angeles, befindet und an dessen anderem Ufer sich die chinesischen Buddhatempel erheben — dort bewahren der Chinese und der Japaner ihre Eigenart, ihre Kleidung, ihre Lebensformen. Was New York für die Juden ist, das ist San Franzisko für die Chinesen und Los Angeles für die Japaner.
Das interessanteste Viertel von Los Angeles ist unbedingt das mexikanische. Die mexikanische Bevölkerung ist die ursprüngliche von Kalifornien. Sie ist ohne Zweifel eine Mischung aus den spanischen Kavalieren, die zusammen mit den Franziskaner-Mönchen von Mexiko nach Kalifornien kamen, um die Indianer zum katholischen Glauben zu bekehren, und den indianischen Eingeborenen, die von den Mönchen getauft worden waren und in einem Zustand halber Sklaverei und halben christlichen Kommunismus gehalten wurden. Die Franziskaner lehrten die Neubekehrten europäisches Handwerk und andere nützliche Arbeit und erbauten Missionen in dem ganzen ebenen Gebiet von Kalifornien. Die meisten Städte des Landes verdanken ihnen ihre Entstehung und haben ihre Namen von den Kirchen, welche die Indianer für die Franziskaner-Mönche bauten. Eine von diesen Städten ist Los Angeles.
Das mexikanische Viertel liegt in der Altstadt, rings um die alte Kirche „Zu unserer lieben Frau von den Engeln“, nach der die Stadt heißt. Diese Kirche ist eine der wenigen, die sich von den alten Missionsgotteshäusern der Franziskaner erhalten haben. In ihrer Umgebung stehen mehrere alte Gebäude in spanischem Stil, der übrige Teil des mexikanischen Viertels ist modern. Aber die ganze Bevölkerung, viele Straßen weit, besteht aus Mexikanern. Es ist ein dunkelbrauner, großer Menschenschlag mit Indianeraugen, die scharfen Gesichter tragen deutlich die Charakterzüge der roten Rasse. Die Männer tragen steife, runde und flache Filzhüte mit breiten Krempen, die sogenannten Sombreros, Stiefel mit hohen Schäften und silbernen Sporen. Die meisten dieser Männer zählen zu dem Typus, dem man bei Nacht in einer dunklen Gasse nicht gerne begegnen möchte und der uns aus den Kinos gut bekannt ist. Denn die amerikanischen Filmerzeuger benützen diese Typen für die Darstellung von Banditen, Räubern und anderen Missetätern. Aber es genügt ein Blick in die guten, weichen Augen dieser großen, starken Wüstenkinder, um die gehässige Propaganda zu erkennen, die der amerikanische Film gegen Mexiko betreibt.
Die Mexikaner sind eines der arbeitsamsten Völker des Landes. Die meisten von ihnen sind Farmarbeiter und führen ein elendes Dasein weit draußen auf dem flachen Lande, wo sie im Lohn stehen. Wochen- und monatelang sehen sie keine Menschenseele. Die freie Natur, in der sie leben, hat ihren Geist befreit. Wenn sie nach vielen Monaten harter Arbeit mit den wenigen Dollars, die sie von ihrem kargen Lohn erspart haben, in die Stadt kommen, dann trachten sie, ihr Geld so rasch wie möglich los zu werden. Wie alle Südländer haben sie große Vorliebe für bunte Farben und für Schmuck, vornehmlich für Silberfiligranarbeit, in der sie selbst Meister sind. Ketten und Ringe aus Silber, Silberschmuck auf den Sombreros, Silbersporen und silberbesetzte Gürtel, schreiend bunte Westen und Seidenhemden bilden den Gegenstand ihrer Wünsche. Auf der Straße des mexikanischen Viertels bei Los Angeles sieht man am Sonntag die mexikanischen Kavaliere in zerrissenen Hosen und arg mitgenommenen Röcken lustwandeln — dafür aber trägt jeder einen neuen breiten Sombrero, für den er oft 18 bis 20 Dollar gezahlt hat, und ein Paar elegante, schön gefaltete hohe Stiefel mit silbernen Sporen, sowie ein grellfarbiges Hemd, für das er im jüdischen Laden seiner Straße oft einen ganzen Monatslohn ausgegeben hat.
Die Frauen sind durchwegs brünett und zeigen den echt spanischen Typ mit feurigen, dunklen Augen und tiefschwarzem Seidenhaar. Sie sind klein, ein wenig üppig, haben kräftige Hüften und wohlgeformte, kleine Füßchen. Ebenso wie die Männer haben auch sie Vorliebe für Schmuck, überdies sind Spitzen ihr Element. Die mexikanischen Gold- und Silberfiletstickereien, die sie tragen, sind das Schönste in dieser Art, das ich sah. Nach Zigeunerart lieben sie es auch, Geldstücke als Schmuck zu verwenden. Lange Ketten aus Silber- und Goldmünzen beschweren ihnen Hände und Nacken. Die Farbe ihrer Kleider ist nach spanischer Art schwarz, das gewöhnlich verwendete Material ist Seide. Rote Blumen im Haar, Gebetbüchlein in den Händen gehen sie Arm in Arm mit ihren Kavalieren Sonntags in die Missionskirche. Um sie liegt eine Duftwolke aus dem schweren, zu Hause hergestellten Parfüm, vermischt mit dem Zwiebel- und Knoblauchgeruch ihrer Speisen.
Das ganze Leben spielt sich, ähnlich wie im Orient, auf der Straße ab. Überall stehen improvisierte Küchen, an denen schöne, spanische Mädchen und dicke Duennas, die aus dem Don Quichote entsprungen zu sein scheinen, eifrig hantieren. Auf den Herden braten und brodeln allerlei Fleischgerichte, kräftig gepfeffert, stark gesalzen, mit Zwiebeln vermengt und mit Knoblauch geröstet. Der Duft der gebratenen Speisen läßt den Vorübergehenden das Wasser im Mund zusammenlaufen, reizt den Appetit und weckt die Lust zum Essen und zu anderen Dingen… Neben den Bratküchen gibt es Stände mit Zuckerwerk und glutäugige, üppige Mädchen mit roten Rosen im Haar und starkem, lockendem Parfüm verkaufen Backwerk und Zuckerwaren. Nebenan aber ist der fliegende Buchhändler etabliert, der den Hunger deines Geistes stillt, ebenso wie vorher dein leiblicher Hunger gestillt ward. Zwischen der geistigen und leiblichen Nahrung besteht eine gewisse Verwandtschaft; derselbe stark gewürzte Duft, der den Eßwaren entströmt, scheint auch aus den buntfarbigen und schreienden Titeln der spanischen Schundromane aufzusteigen, die der ambulante Buchhausierer unermüdlich anbietet…
Wenn man sich im mexikanischen Viertel von Los Angeles befindet, glaubt man in eine alte spanische Stadt, etwa nach Sevilla, verschlagen worden zu sein. Und vor dem Auge entsteht das Bild der altspanischen Kavaliere, die in winzigen Schiffen den unheimlichen, unbekannten Ozean durchkreuzten, um neue Länder und neue Völker zu entdecken …
Vom mexikanischen Viertel bis zum Viertel der Japaner ist ein Weg von ein paar Minuten. Die Japaner assimilieren sich viel schneller als jedes andere orientalische Volk, doch diese Angleichung ist nur äußerlich und erstreckt sich lediglich auf die Kleidung. Betritt man aber das Japanerviertel, wo die Söhne des Sonnenreiches in Massen wohnen, so fühlt man sofort das fremdartige Wesen dieses Volkes, seinen kindlich spielerischen Geist und den hellen Frühlingshauch, der alles, was japanisch ist, umgibt.
Das Japanerviertel ist das sauberste von allen Fremdenvierteln in Los Angeles. Die Häuser sind klein, höchstens ein bis zwei Stockwerke hoch. Fast alle sind Hotels. Dies kennzeichnet beinahe sämtliche Fremdenviertel, das japanische ebenso wie das mexikanische. Die mexikanischen Farmarbeiter, die zeitweise vom Lande in die Stadt kommen, brauchen eben eine Unterkunft. Im Japanerviertel dienen die Hotels den japanischen Farmarbeitern und Farmern, deren Zahl in Kalifornien sehr ansehnlich ist. Während jedoch das Mexikanerhotel den Eindruck einer Bierkneipe und Spielhölle macht, in der es nach Mord und geheimnisvoller Untat riecht, ist das japanische Hotel ein kleiner Palast aus tausend und einer Nacht. Alle Fenster sind mit Zierpflanzen und den schöngeschwungenen Ornamenten der japanischen Schriftzeichen geschmückt. Die Türen und die Marmortreppen der Gebäude blitzen vor Sauberkeit. Vor dem Eingang hängt stets die charakteristische, japanische Laterne und verbreitet am Abend freundlich einladenden Schein. Die Kaufläden der Japaner sind peinlich rein, die Waren in den Schaufenstern künstlerisch angeordnet. Die große Zahl von japanischen Druckereien mit ihren farbigen, zarten Stichen fällt auf. Die Obsthändler stapeln ihre Ware kunstvoll, mit viel Geschmack und noch mehr östlicher Geduld auf. Restaurants gibt es wenig. Dafür aber stößt man sehr häufig auf Bäder, die nur von Orientalen betreten werden dürfen. An allen Laden findet man die typisch-japanischen Schilder auf Goldgrund. In den Schaufenstern sind stets die bekannten japanischen Zwerggewächse zu sehen. Die Frauen und Kinder sind fast durchwegs japanisch gekleidet, die Männer dagegen bereits europäisch. Sämtliche Läden in dem japanischen Viertel, das eine ziemlich große Zahl von Straßen umfaßt, gehören Japanern, die Waren dagegen, die darin feilgeboten werden, sind durchwegs amerikanischen Ursprungs. Im mexikanischen Viertel dagegen gehören sämtliche Läden für die Gegenstände des täglichen Gebrauchs Juden. Es muß zugestanden werden, daß die Händler ihre mexikanischen Kunden nicht allzu reell bedienen. Sie tun jedoch nur das gleiche, was die kalifornischen Obsthändler etwa in New York tun. Ebenso stark wie man in New York oder Boston kalifornische Orangen oder anderes Obst überzahlen muß, werden hier die Preise für einen New Yorker Anzug oder ein Paar Schuhe aus Boston emporgeschraubt.
Ein besonderes Charakteristikum des japanischen Viertels bilden die weiblichen Barbiere. In diesem Gewerbe sind Frauen auch in Chikago zu finden, doch nirgends haben sie so starken Anklang gefunden wie in den Westländern der Union. Hier stammt diese Einführung von den Japanern. Eigentlich ist ja die Barbiertätigkeit mehr für die Frau geeignet als für den Mann. Die Beschäftigung ist überaus delikat, daher im Grunde weiblich. Es ist auch viel angenehmer, wenn die feinparfümierte, zarte Hand einer japanischen Geisha dir über die Wange streicht, als wenn die dicken Finger eines kräftigen Italieners dir das Gesicht massieren, besonders wenn sie, wie es häufig der Fall ist, nicht gerade allzu rein sind. Auch der Duft eines jungen Mädchens aus dem fernen Osten ist angenehmer als der schweiß-durchtränkte Odem eines Barbiers. Und dann der Blick der träumerischen japanischen Augen . . .
Im Japanerviertel gibt es sehr viel weibliche Barbiere. Und das ganze männliche Los Angeles läßt sich von ihnen rasieren. Sie haben das Gewerbe tatsächlich zu einer Art Kult erhoben und es zu wahrer Vollkommenheit gebracht. Schon die Barbierstube gleicht einem japanischen Damenzimmer: In allen Ecken der wohltuende Anblick von Topfpflanzen. Das ganze Zimmer ist gewissermaßen schwebend leicht und sommerlich hell. Von der Decke hängen Käfige mit Singvögeln nieder, die Wände sind mit japanischen Fächern geschmückt. Ein zartes Mädchen mit länglich geschnittenen Augen, glänzend schwarzem Haar und kühlen, leichten Fingern wäscht dein Gesicht mit den duftenden Wassern des Orients. Du dünkst dich in das Traumland der Geschichten aus tausend und einer Nacht versetzt — du bist ein verkleideter Perserprinz, der die Welt durchwandert, um die Geliebte seines Herzens zu suchen, und wegmatt in einer unbekannten Stadt des legendären Ostens rastet. Und eine verkleidete Prinzessin, die in der Gefangenschaft eines fremden Fürsten lebt, wäscht dein müdes Antlitz, ehe du den Weg fortsetzt, der dich zur Geliebten führen soll…
Doch nicht immer sind die weiblichen Barbiere so romantisch. Ich betrat einmal eine weibliche Barbierstube im mexikanischen Viertel, um mich rasieren zu lassen. Dort empfing mich eine Dame, die geradenwegs aus Cervantes’ Epos hinausgestiegen zu sein schien. Sie ähnelte lebhaft der Duenna, mit der der edle Ritter Don Quichote die Ehre hatte, eine Nacht auf dem Heuboden seiner Herberge zu verbringen. Diese Edle hob mich wie einen Säugling empor und ließ mich auf den Barbierstuhl fallen, der so hoch war, daß man nur auf einer Leiter zu ihm gelangen konnte, und bloß drei Füße besaß, während seine vierte Ecke von dem Knie der edlen Dame gestützt wurde. Als sie mein Gesicht in die Arbeit nahm, kamen mir lebhaft die Kinderjahre in den Sinn, wenn mich am Freitag Nachmittag das Dienstmädchen ordentlich für den Sabbat abschrubbte und durchkämmte. Während der ganzen Zeit, da ich unter dem Messer stand, hatte ich die Ehre, von dem weichen Busen der edlen Dame so gut gewärmt zu werden wie von einer Daunendecke an einem heißen Sommerabend in einem New Yorker Logierhaus. Wenn ich aber mein Gesicht aus dieser bedrückenden Nähe wegschob, um ein wenig Luft zu schöpfen, so sah ich den krummen Schnabel eines Papageis vor mir, der böse und feindselig aus seinem Käfig zu mir hinüberstarrte, wohl weil er mich um so unermeßlich reiche Gnade beneidete, wie die edle Dame sie mir schenkte …
Zwischen dem mexikanischen und japanischen Viertel stieß ich auf einen winzigen Laden, der voll war mit alten Schuhen. Auf der Schwelle stand der Besitzer, ein kleiner Jude mit einem kleinen Höcker vorn und einem kleinen Höcker hinten. Seine Nase war ein verkleinertes Spiegelbild seiner Person. Sie war ungefähr so groß wie das ganze übrige Männchen und besaß ebenfalls einen kleinen Höcker vorne und einen kleinen Höcker hinten. An dieser Nase erkannte ich, daß ihr Träger aus derselben Gegend stammte, wie ich — nämlich aus Großpolen. Ich muß gestehen, daß ich den Mann sogar verdächtigte, mit mir verwandt zu sein, da er unser Sippenzeichen, die höckerige Nase, besaß. Meine Vermutung bestätigte sich wohl nicht, aber er war wenigstens ein Landsmann von mir. In seinem Laden gab es Schuhe, die von den Füßen der ganzen Welt stammten — Sporenstiefel von wilden mexikanischen Reitern und kleine, zierliche Schühchen der japanischen Geishas; riesige, benagelte Negerschuhe und geräuschlose Chinesenpantoffel. Das Wesen des Menschen findet seinen besten Ausdruck im Schuh. Denn kein Kleidungsstück lebt das Leben seines Trägers so mit wie die Schuhe. An Schuhen läßt sich erkennen, ob ihr Träger ein Schwerarbeiter war oder ein Müßiggänger, ein Dandy, der den ganzen lieben Tag nichts zu tun bat, oder ein Familienvater, der für das tägliche Brot des Hauses sorgen muß, eine Dame von Welt oder eine Halbweltdame … Ja, alte vertretene Schuhe sind das Spiegelbild des Menschen. Und während ich so die alten Schuhe der verschiedenen Völker betrachtete, die im Laden des Juden aufgestapelt waren, hatte ich die Empfindung, als hätten sie bei diesem Juden Rast gemacht auf ihrer Wanderschaft über die ganze Erdkugel. Viele gab es ihrer und verschiedene, von allen Ecken und Enden der Erde waren sie in des Juden kleinen Laden gekommen, aus China, aus Japan, aus Italien, aus Rußland — woher nicht? Ich sah mir den Juden auf der Schwelle des Ladens, wo die alten Schuhe aller Völker der Erde von ihrer Wanderschaft nach Amerika ausruhen, näher an und er erschien mir gewissermaßen als Symbol…
„Warum handeln Sie eigentlich mit alten Schuhen?“ — fragte ich den Juden. „Womit soll ich handeln?“ — war die Antwort — „Ich komm’ aus dem Osten. Dort war ich Arbeiter. Ich wurde lungenkrank und da hat mich meine Organisation nach Los Angeles geschickt. Arbeiter kann ich nicht mehr sein, das schadet meiner Gesundheit. So handle ich mit alten Schuhen.“
Die jüdische Ansiedlung im Westen Amerikas beginnt mit der Schwindsucht.