Quer durch Amerika – Eindrücke einer Reise

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Der nächste Teil der Reiseeindrücke des jiddischen Schriftsteller Schalom Asch, die ab November 1931 in Fortsetzung in der Zeitschrift Menorah erschienen. Sie sind eine Momentaufnahme des jüdischen Lebens in den USA. In diesem Teil besucht Schalom Asch ein Sanatorium in Los Angeles, wo jüdische Arbeiter ihre Schwindsucht auskurieren…

Schalom Asch wurde 1880 in Kutno geboren und traditionell jüdisch erzogen. 1899 zog er nach Warschau und begann dort als Schriftsteller in Hebräisch und Jiddisch zu arbeiten. Nach einem Aufenthalt in den USA und der Rückkehr nach Russland, verbrachte Asch die Zeit des Ersten Weltkriegs in New York, wo er für jüdische Zeitschriften arbeitete und seine Theaterstücke erfolgreich aufgenommen wurden. 1923 kehrte er nach Polen zurück, musste jedoch 1938 erneut in die USA emigrieren. 1956 zog er nach Bat Jam nahe Tel Aviv. Schalom Asch starb am 10. Juli 1957 in London.

Quer durch Amerika
Eindrücke einer Reise

Von Schalom Asch
Autorisierte Übersetzung von Siegfried Schmitz
Erschienen in: Menorah, X. Jahrgang, Juli/August 1932, Nummer 7/8

VIII.
Das Land der Hoffnung

Alle anderen Völker zog nach dem legendären Gebiet jenseits der Rocky Mountains der romantische Drang nach fernen Ländern, der Wunsch, unbesiedelte Gegenden zu erforschen, unbekannte Tiere im nie betretenen Urwald zu jagen oder Gletscher zu besteigen, die Gier, Gold zu graben und zu waschen — den Juden aber zieht die helle, goldene Sonne hin, die seine kranken Lungen heilen soll, ihn lockt die durchsichtige Frühlingsluft, die seiner schwachen Brust Balsam ist. Viele tausende jüdischer Arbeiter, junge und alte, Männer und Frauen, Jünglinge und Mädchen, sitzen hustend in staubigen Werkstätten Amerikas bei öligriechenden Maschinen und träumen von dem goldenen Land, wo ewiger Sonnenschein herrscht, wo unaufhörlich die Kirschen und Orangen blühen, wo es Heilung für die kranken Lungen dieser Tausende gibt.

Die Schwindsucht war stets eine jüdische Krankheit — eine vornehme Krankheit. In den alten Heimatländern der Juden, unter den alten jüdischen Lebensformen bekam man sie durch zu eifriges Studium der heiligen Thora, und ihre Träger waren Gelehrte, junge Leute aus guten Häusern, die hei den Schwiegereltern Freitisch aßen, oder Talmudstudenten: dann und wann befiel sie auch Externisten, die das russische Gymnasium mit der goldenen Medaille beendigen mußten und sich daher beim Studium für das Examen übermäßig anstrengten. In Amerika akquiriert man die Schwindsucht im Shop, wenn man Hosen oder Schürzen näht. Seine Gesundheit durch Studium zu verlieren, mochte immerhin noch Sinn haben — warum aber muß man die Schwindsucht bekommen, wenn man Knöpfe annäht? …

„Die Schwindsucht in Amerika ist ein Produkt der ungerechten Gesellschaftsordnung des kapitalistischen Systems, in der wir leben“ — so heißt es in den sozialistischen Propagandaschriften. Tatsächlich ist die Schwindsucht eine jüdische Proletarierkrankheit. Ihre Opfer sind die „Gefallenen auf dem Schlachtfeld des Lebens“.

Los Angeles ist ihre letzte Hoffnung, von der sie in der Stickluft des Shop phantasieren, während sie den letzten Blutstropfen aus ihren zerfressenen Lungen speien.

Zu tausenden und abertausenden leben sie in der Riesenstadt New-York, in den Städten der Provinz. Manchmal gibt es Hilfe von guten Freunden: sie mieten ein Theater, veranstalten eine Benefiz Vorstellung — das letzte Kissen wird verkauft und dann wandert man mit Weih und Kindern in das Land der ewigen Sonne, die der kranken Lunge Heilung bringen soll. Man wartet nicht, bis ein Platz im Sanatorium frei wird, denn man ist überzeugt, daß schon die Luft von Los Angeles Gesundung geben wird.

In den letzten Jahren haben sich in Los Angeles Leicht- und Schwerkranke angesiedelt, zumeist bemittelte Leute, die ein Geschäft angefangen haben. Aber auch eine große Zahl von Arbeitern wandert zu. Die Stadt wächst sehr rasch und mit ihr — die jüdische Bevölkerung. Es dürfte nicht lange dauern, bis Los Angeles zu den am stärksten von Juden bevölkerten Städten zählen wird. Zum Lobe der jüdischen Bevölkerung des kalifornischen Paradieses muß gesagt werden, daß die Juden in Los Angeles kein Ghetto geschaffen haben, wie sie es in den anderen amerikanischen Städten in der Nachbarschaft der Neger oder Italiener in den engsten und düstersten Gassen zu tun pflegten. In Los Angeles siedeln sich die Juden zumeist in den geräumigen Vierteln, fernab vom Handelszentrum an und bewohnen moderne Ein- oder Zweifamilienhäuser, wie es in der letzten Zeit auch in New-York immer häufiger der Fall ist. Ich weiß nicht, ob die Natur des Landes das mit sich bringt — aber Tatsache ist, daß es in keinem jüdischen Viertel einer anderen amerikanischen Stadt so sorgfältig gepflegte Hausgürten gibt wie rings um die von Juden bewohnten Häuser von Los Angeles. Die Zufahrtwege sind mit Palmen bepflanzt und vor und hinter den Häusern breiten sich Sommer und Winter sattgrüne Grasflächen aus. Es ist kein ungewöhnlicher Anblick, daß jüdische Arbeiterfrauen mit Schaufel und Rechen liebevoll ihr Hausgärtchen bearbeiten. Die Judengassen von Los Angeles sind so blitzsauber, daß es eine wahre Freude ist.

Ganz besonders aber muß die brüderliche Hilfsbereitschaft hervorgehoben werden, welche die Juden von Los Angeles — besonders die demokratischen Elemente aller Richtungen — den jüdischen Kranken erweisen, die unter der Sonne von Los Angeles Rettung suchen. Noch mehr als in anderen Städten herrscht in Los Angeles Wohnungsmangel, da die Stadt sehr rasch wächst. Und es kommt häutig vor, daß Juden in ihren Häusern zugewanderten kranken Familien Aufnahme gewähren, ohne der Gefahr einer Ansteckung zu achten. Ich hatte selbst Gelegenheit, solche wahrhaft brüderliche Hilfsbereitschaft bei einigen meiner Bekannten zu beobachten. Doch das Schönste und Beste, was die Juden von Los Angeles geschaffen haben, ist das Sanatorium für Lungenkranke.

Jeder „Persönlichkeit“, die Los Angeles besucht, wird als erste Aufmerksamkeit eine Führung durch das Sanatorium erwiesen. Wenn man mit einem Juden von Los Angeles, der zu den demokratischen „Elementen“ gehört, ins Gespräch kommt, so ist das erste Thema, welches das „Element“ anschneidet, das Sanatorium. Was für die Juden anderer Städte Parteien, Organisationen, Richtungen, Rußland, Palästina bedeuten, das bedeutet für Los Angeles das Sanatorium. Das ganze gesellschaftliche Leben „kreist“ um das Sanatorium. Alles „arbeitet“ für das Sanatorium. Im Zeichen des Sanatoriums haben alle Parteien Frieden geschlossen. Für einige von ihnen bedeutet es Lebensinhalt, Programm, Persönlichkeit. Noch nie habe ich eine solche Hingabe, ein solches Interesse an einer Sache gesehen, wie es die Juden von Los Angeles an ihrem Sanatorium für Lungenkranke zeigen.

Das ist kein Wunder. Das Sanatorium von Los Angeles wurde nicht wie andere Institutionen dieser Art durch die Philantropie von Fremden erbaut, sondern durch die demokratischen Elemente unter den Juden gegen den Willen und trotz der Hindernisse der Reichen.

Das Sanatorium von Los Angeles ist gewissermaßen von selbst entstanden: „Als Kranke in immer größerer Zahl nach der Stadt kamen, mußte man für sie einen geeigneten Platz schaffen“, — so erzählt mir einer der Gründer —. „Die deutschen Juden fürchteten, wenn wir ein Sanatorium erbauten, so würde dies noch mehr Kranke nach Los Angeles ziehen. Daher leisteten sie beim Bau nicht nur keine Hilfe, sondern erwirkten sogar, daß die Stadtgemeinde einen Beschluß gegen den Bau des Sanatoriums faßte. Doch wir erwarben, ehe noch jemand etwas davon merkte, einen Baugrund außerhalb der Stadt zwischen Orangen und Zypressenhainen, stellten ein paar Leinenzelte auf, schoben einige Betten hinein, nahmen etliche Kranke auf — und seither haben wir ein Sanatorium.“ Von jener Zeit an entwickelt sich das Sanatorium unaufhörlich.

Es ist rührend, mit welchem Eifer die demokratischen Organisationen in verschiedenen Städten des Westens Geldsammlungen durchführen und aus dem Erträgnis immer neue prachtvolle Pavillons errichtet werden. So ist u. a. den jüdischen Arbeitern von San Franzisko ein herrliches Gebäude für Schwerkranke zu verdanken.

Das Sanatorium besitzt schon mehrere solcher prächtiger Gebäude, die alle mit dem Gelde armer, jüdischer Arbeiterorganisationen errichtet wurden und durch die Energie und Hingabe der in Los Angeles lebenden Juden aus Osteuropa erhalten werden. Die reichen Schichten von Los Angeles stehen noch bis heute abseits. Hindernisse können sie allerdings der Sache nicht mehr bereiten, da das Sanatorium sich zu einer wichtigen Institution entwickelt hat. Es ist interessant, die Gründe für ihre Gegnerschaft kennen zu lernen. Kurz bevor ich Los Angeles verließ, führte mich ein Freund zu einer angesehenen und reichen jüdischen Dame der Gesellschaft der Stadt, die in philantropischen Kreisen großen Einfluß besitzt. Diese Dame hat großes Interesse für alle jüdischen Angelegenheiten, auch für jüdische Literatur und Kultur. Daher meinten meine Freunde, ich könnte einen gewissen Einfluß zu Gunsten des Sanatoriums üben. Als ich die Dame auf das wahrhaft rührende brüderliche Gefühl hinwies, das so viele Juden von Los Angeles ihren kranken Glaubensgenossen beweisen, und fragte, warum die reichen Juden der Stadt abseits stehen, erklärte sie mir offen: „Wir fürchten, das Sanatorium könnte zuviele jüdische Zuwanderer nach Los Angeles ziehen — und das kann uns schaden. Unsere wichtigste Aufgabe aber ist, uns selbst zu schützen.“

Im Sanatorium befinden sich, wenn ich recht unterrichtet hin, etwa hundert Kranke, doch hunderte und aberhunderte warten darauf, bis die Reihe an sie kommt und ein Bett frei wird, das sein letzter Besitzer vielleicht mit einem Lager aus Erde vertauscht hat. Die ganze Atmosphäre ist anheimelnd, brüderlich, wie man es so häufig in den Institutionen findet, die von Arbeitern geschaffen wurden und verwaltet werden. Die meisten Kranken stehen im jüngeren Alter, es sind viele Mädchen darunter, die aus den Werkstätten kommen, auch sehr junge Männer. Altere Leute sah ich nur wenige. Die meisten Insassen kommen natürlich aus New-York, der Rest aus den anderen Industriestädten, wo es jüdische Arbeiter gibt. Fast 90 Prozent des Belags sind Arbeiter. Die Krankheit selbst hat etwas Tragisches und seltsam Erhabenes. Die von ihr befallen sind, machen nicht den Eindruck von Kranken, sondern von Menschen, deren geheimnisvolle Leiden unter einem Schleier verborgen sind. Etwas Mystisches haltet ihnen an. Ihr Körper gleicht einem Raum, an dem ein Wurm nagt und der doch in schönster Blüte steht. Charakteristisch für die Krankheit ist, daß die Seele um so lebendiger ist, je mehr der Körper von dem übel untergraben wird. Und je näher man dem Grabe steht, desto jünger scheint man zu werden, desto mehr wird der Körper mit Lebenssäften angefüllt. Oft verlieben sich Kranke auf dem Totenbett in einander und träumen von dem neuen Leben, das dort drüben, jenseits beginnen soll …

Das Sanatorium macht daher nicht den Eindruck einer Krankenanstalt, man glaubt vielmehr, einem Picknick von jungen Menschen beizuwohnen. Wohin man blickt, Jugend, blühende Körper. Nie noch sah ich unsere Arbeiter so ausgeruht, so satt, so sonngebräunt. Wie es scheint, muß ein Arbeiter erst die Schwindsucht bekommen, um so gut auszusehen. Doch in den Wangenrosen sitzt der Wurm. Und von dem Patienten, der am gesündesten aussah, sagte mir der Doktor, daß seine Tage gezählt seien.

Einer von den Kranken, ein Arbeiter in mittleren Jahren, mit schwarzen träumerischen Augen, hielt mich an seinem Bett zurück, indem er mich an der Hand faßte. Er hätte — so sagte er — mich um Rat zu fragen, denn er wisse nicht, was er mit Frau und Kindern anfangen solle. Während der ganzen Kriegszeit hatte er von ihnen nichts gehört. Sie wohnten damals in der Ukraine, in jenen Gebieten, wo die Randen des berüchtigten Petljura wüteten. Er mußte glauben, daß auch sie hei den Pogromen ihr Lehen gelassen hatten oder auf der Flucht in den Wäldern umgekommen waren. Der Gedanke daran war wohl die Ursache seiner Krankheit. Er verbrachte schlaflose Nächte, in denen er unaufhörlich an die Seinen dachte. In der vagen Hoffnung, doch von ihnen Nachricht zu erhalten, sparte er Groschen um Groschen, ohne sich Essen und Schlaf zu gönnen. Und dann mußte das Geld für die Krankheit aufgewendet werden: „Und jetzt liege ich hier und weiß, daß es bald zu Ende geht. Da bekomme ich ein Telegramm aus Warschau — es ist ihnen gelungen nach Polen zu kommen, ich möge ihnen eine Schiffskarte senden.“

Er zieht unter dem Polster ein zerknülltes Telegramm hervor und drückt es an sein Herz — es ist der einzige und letzte Gruß.
„Wozu sollen sie kommen? Ich werde sie ja ohnehin nicht mehr sehen. Und wer wird sie abholen, wer sich hier ihrer annehmen?“ Nach kurzem Nachdenken beginnt er wieder: „Aber wer wird sich dort ihrer annehmen? Was raten Sie mir? Was soll ich tun?“…

Ein anderer, mit glänzenden Augen, spricht, wie er mich sieht, erregt auf mich ein:
„In der letzten Woche sind drei Arbeiter im Sanatorium gestorben, sämtlich Mitglieder des Arbeiterrings. Und niemand von der hiesigen Ortsgruppe des Arbeiterrings war beim Begräbnis. Bloß einige Kranke aus dem Sanatorium gaben den Toten das letzte Geleite. Wenn ein frommer Jude stirbt, so kommen Leute von der Chewra Kadischah oder von einem Bethaus. Stirbt aber unsereiner, so kommt niemand aus der Stadt.“
„Die Mitglieder des Arbeiterrings sind Arbeiter, sie haben keine Zeit, zu Leichenbegängnissen zu gehen“ — verteidigt ein Kranker, der dem Arbeiterring angehört, seine Genossen.
„Aber so elend … so allein …“ — murmelt der Kranke ängstlich.
Es ist in seinen Augen zu lesen — er denkt nicht nur an die Gestorbenen der letzten Woche, er denkt an sein eigenes Begräbnis…

Als ich das Sanatorium verließ, war es Nacht. Die Sterne am Himmel von Los Angeles sind sehr groß und hell, wie in allen warmen Ländern, und geben mehr Licht als bei uns. Das Sanatorium liegt am Fuße des Mount Wilson, auf dessen Gipfel sich die größte Sternwarte der Welt mit den größten astronomischen Teleskopen befindet. Oben im Observatorium saßen wohl jetzt die Gelehrten, richteten ihre Teleskope auf die Sterne und sahen neue Welten. Unten aber, am Fuße des Berges, saßen die Kranken des Sanatoriums von Los Angeles und blickten zu denselben Sternen empor, welche die Gelehrten auf dem Mount Wilson betrachteten. Und ich glaube — die Kranken sahen die Welten, die sich auf den Sternen befinden, viel deutlicher und schärfer als die Gelehrten. Denn es sind die Welten, in denen die Kranken bald sich befinden werden …

–> Fortsetzung folgt