Quer durch Amerika – Eindrücke einer Reise

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Die vorliegenden Reiseeindrücke schrieb Schalom Asch, der zu den bedeutendsten jiddischen Schriftstellern gehörte. Sie erschienenen in deutscher Übersetzung in Fortsetzung ab November 1931 in der Zeitschrift Menorah und sind eine Momentaufnahme des jüdischen Lebens in den USA…

Schalom Asch wurde 1880 in Kutno geboren und traditionell jüdisch erzogen. 1899 zog er nach Warschau und begann dort als Schriftsteller in Hebräisch und Jiddisch zu arbeiten. Nach einem Aufenthalt in den USA und der Rückkehr nach Russland, verbrachte Asch die Zeit des Ersten Weltkriegs in New York, wo er für jüdische Zeitschriften arbeitete und seine Theaterstücke erfolgreich aufgenommen wurden. 1923 kehrte er nach Polen zurück, musste jedoch 1938 erneut in die USA emigrieren. 1956 zog er nach Bat Jam nahe Tel Aviv. Schalom Asch starb am 10. Juli 1957 in London.

Quer durch Amerika
Eindrücke einer Reise

Von Schalom Asch
Autorisierte Übersetzung von Siegfried Schmitz
Erschienen in: Menorah, IX. Jahrgang, November/Dezember 1931, Nummer 11/12

I.
Ein Fleckchen grüner Rasen

In Amerika ist es jetzt Mode, die Reise über den Ozean zu machen, um das Nachkriegseuropa zu besichtigen. Ich habe es vorgezogen,
Amerika selbst zu durchqueren, um das Leben im Lande kennenzulernen, vor allem das der Juden — denn auch außerhalb New-Yorks wohnen Kinder Israels. So begab ich mich denn auf eine lange Fahrt über ungeheure Ebenen, Wüsten, Gletscher und Felsen — mit einem Wort: ich suchte Amerika in Amerika.

Zunächst ging es eine ganze Nacht durch sorgfältig bearbeitete Äcker mit schnurgeraden Streifen aus grünendem Korn und kräftig aufgeschossenem Hafer. In der Dunkelheit spürte ich sie mehr als ich sie sah. Und ich wußte: unter der schwarzen Decke, in die jetzt die Welt gehüllt ist, sind Felder versteckt; der Mensch hat seine Arbeit der Nacht anvertraut und ist sicher, am nächsten Tage seine Felder, mit Speise und Trank der Nacht gestärkt, wiederzufinden.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, fand ich mich am sandigen Ufer des Erie. Die Landschaft erinnerte mich an die bei der Weichsel in meiner polnischen Heimat. Ein sandiges Ufer am Rande des schmutziggelben Stromes, da und dort erhebt sich starr eine einsame grüne Pappel. Die gelben Straßen sind schütter mit Weiden bestanden, die ihre langen Äste wie Mädchenzöpfe von Sonne und Wind umspielen lassen. Hie und da taucht ein Häuschen auf mit weißen Mauern. Apfel- und Pflaumengärten weit vor und hinter den Häusern, ganz wie in Polen. Nur eines fehlt — die armen Bauernkinder, die in Polen sich wie Ferkel vor den Hütten im Staub und Schmutz umherwälzen. Die Kinder, die ich hier auf der Dorfstraße traf, waren rein gewaschen und sauber gekleidet, trugen weiße Schürzen und gingen, Bücher unterm Arm und das Frühstück in der Hand, zur Schule. Dieses Bild paßte nicht zu der polnischen Landschaft. . .

Als ich die Ufer des Eric sah, begriff ich, warum die Polen sich so gern im mittleren Westen ansiedeln, wenn sie nach Amerika kommen; ich begriff auch, wieso die polnische Sprache so häufig im Gebiet des Erie zu hören ist. Alles, was es in der alten Welt gibt, existiert auch in der neuen: jedes Land Europas hat in Amerika eine Schwesterlandschaft, und jede Nation, die in Amerika einwandert, sucht in der neuen Welt die Landschaft auf, die der ihrer Heimat ähnlich ist. Deshalb haben sich die Polen am Erie angesiedelt, die Deutschen am Michigansee. Und die Juden? Die Juden — in den schmutzigsten, heißesten Straßen in den ältesten Vierteln der Großstädte . . .

Zwei Wochen lang mit der Eisenbahn, drei Wochen auf dem Schiff und dann noch drei Tage Bahnfahrt brauchte Chane-Sure mit ihrem Mann Nachman und den Kindern, bis sie aus ihrem klein-russischen Heimatstädtchen am Dnjepr in die große Stadt St. Louis, im mittleren Westen am Mississippi kamen und in der Morgan-Street mitten unter Negern ihre Wohnung aufschlugen. Dort eröffneten sie einen kleinen „cleaning store“, wo die abgetragenen Hosen der Neger repariert wurden.

Der Flickschneider ist Frau Chane-Sure aus Krementschug am Dnjepr. Sie sitzt an der Nähmaschine. Ihr Mann Nachman sagt mir mit verlegener Miene: „Nähen kann ich nicht, ich habe es nicht gelernt.“ Er bügelt, was seine Frau geschneidert hat.

Seit zwölf Jahren wohnt die Frau in der Morgan-Street und hat während der ganzen Zeit kein Fleckchen grünen Rasen gesehen, keinen Tropfen fließendes Wasser in freier Natur, keinen Hauch von Feld und Wiese gespürt. Sie sitzt an dem mit Spinnwebe bedeckten Fenster in der Morgan-Street, flickt unaufhörlich alte Hosen für die Neger, und ihr Mann Nachman bügelt. Bei dieser Arbeit hatte Chane-Sure dennoch Zeit, zu den vier Kindern, die sie aus Krementschug mitgebracht hat, noch vier zu gehören. Zwei davon mußte sie begraben, zwei sind leben geblieben. Die „school-teachers“ in Amerika sind Antisemiten — sie bestehen darauf, daß die Kinder sauber angezogen in die Schule kommen. So flickt die Mutter tagsüber die Hosen für die Kunden, nachts die Kleider der Kinder und besorgt überdies die Wäsche. Seit zwölf Jahren hat sie keine freie Minute, um Atem zu schöpfen. Die zwei ältesten Söhne sind bereits erwachsen, haben eine Hochschule beendigt und sind verschwunden — einer ist Verkäufer in Chicago, der andere reist irgendwo im Lande umher, keiner läßt von sich hören, — Amerika!

Die anderen vier Kinder sind noch zuhause, ihretwegen kann Chane-Sure keinen Untermieter nehmen, daher ist sie auf ihre eigene Arbeit angewiesen. Aber „Ich weiß nicht“, — beginnt sie zögernd — „in der letzten Zeit bin ich nicht recht beisammen. Ich begreife nicht, woher das kommt! Zwölf Jahre bin ich bei der Maschine hier gesessen“ — sie deutet auf die mit Flecken übersäte Nähmaschine, die an der Wand steht — „und alles war in Ordnung, man konnte leben. Aber in der letzten Zeit habe ich starkes Stechen beim Herzen und die Füße sind wie zerbrochen — ich weiß nicht, woher ich das bekommen habe!“

„Seit einem Jahr schon klagt sie über Herzbeschwerden“ — fügt der Mann hinzu, der sich einigermaßen schuldbewußt fühlt, weil er infolge seiner Ungeschicklichkeit nur bügeln und nicht nähen kann — „Ich glaube, das kommt von einer Erkältung.“

„Der Doktor hat mir Herztropfen verschrieben. Anderthalb Dollar hat er mir abgenommen, mich kaum angeschaut und mir Herztropfen verschrieben!“ — erzählt die Frau weiter und ihre gelben Augen in dem grauen eingefallenen Gesicht mit den stark hervorstehenden, fast zahnlosen Kiefern funkeln entrüstet — „Ich soll ausruhen, sagt er, viel liegen, jeden Tag ein wenig spazieren gehen, frische Eier essen! Da haben Sie einen Doktor! I c h soll liegen! Wer wird an meiner Stelle nähen?“

„Und wenn sie nicht näht, habe ich nichts zu bügeln“ — wirft der Mann in schuldbewußtem Ton ein, während er die Federn aus seinem Bart entfernt.

„Bevor wir nach Amerika gekommen sind, hat man uns noch in Krementschug gesagt, in Amerika gebe es eine Society, die jedem, der nur will, ein Stück Boden unentgeltlich zur Verfügung stellt und ihm eine Farm einrichtet.. . Seit zwölf Jahren frage ich nach dieser Gesellschaft und niemand kann mir sagen, wo sie zu finden ist. Der eine sagt, — in New York, der andere, — in Kalifornien. Könnten Sie mir nicht sagen, wo diese Gesellschaft sich befindet?“

„Jetzt wärmt sie alte Geschichten auf!“ — wirft der Mann ein — „Wozu mußt du das wissen? Wozu brauchst du Ochsen? Was wirst du mit ihnen anfangen?“

„Soll ich also weiter an der Maschine sitzen, weiter Herzschmerzen haben und schwache Füße? Mußte ich deswegen von Krementschug über Meere und Bahnen ziehen und aus der Heimat in ein fremdes Land verschlagen werden? Amerika! Das alles konnte ich in Krementschug auch haben, aber dort war wenigstens ein Lufthauch zu spüren, dort gab’s Wasser, den Dnjepr! O wie wohl täte mir so ein Stückchen Erde, eine Wiese am Wasser wie in Krementschug! Für die Nähmaschine habe ich keine Kraft. Aber Erde — die Arbeit ist leicht und man wird gesund dabei, — so sagen alle. Wenn man kuhwarme Milch trinkt, wird das Herz gekräftigt. Vielleicht nimmt sich doch irgend eine Society einer armen jüdischen Frau an, die Herz und Füße an der Maschine ruiniert hat, und siedelt sie auf dem Lande an?! Wenn die Leute sagen, daß es so eine Gesellschaft gibt, so muß doch etwas daran sein! … Und so wahr ich lebe, ich habe Anspuch darauf, ich hab’ es mir redlich verdient! Zwölf Jahre war ich Knecht des Pharao, der Maschine — da gebührt mir wahrhaftig im dreizehnten Jahr ein Fleckchen grüner Rasen, wo ich mein krankes Herz auskurieren kann! Erkundigen Sie sich nach der Society, Herr, Sie tun ein gutes Werk!“

Ich versprach der Frau, mich nach der Society, die jedermann einen Flecken grünen Rasen zuweist, zu erkundigen und ihr das Ergebnis meiner Nachforschungen sofort mitzuteilen. Nach vielem Umfragen erfuhr ich endlich, daß es tatsächlich eine Society gibt, die jedem einen Flecken grünen Rasen zur Verfügung stellt, wo er sich von der schweren Arbeit ausruhen kann, jedoch — nicht bei Lebzeiten, erst nach dem Tode steht für jedermann ein Flecken grüner Rasen bereit…

Soll ich das der Frau mitteilen?

II.
Wenn die Nadel schweigt

Am nächsten Tag hatte ich Glück. Ich besuchte das Sommerheim der Weißnäherinnen-Gewerkschaft in Pennhill. Es liegt auf einem hohen Gipfel und im Emporsteigen öffnet sich eine herrliche Berglandschaft. Der Ausblick von oben ist beglückend schön. Am Fuße des Berges liegt in einem tiefen Tal der Ort Pennhill mit seinen winzigen Häuschen, den kleinen grünen Feldern und dem schmalen Flüßchen. Das alles sieht aus, als käme es aus einer Spielzeugschachtel. Den gegenüberliegenden Bergabhang klimmen Häuschen empor, höher und höher; immer wieder bleiben sie stehen, sinken in ein Meer von Grün ein. Bäume und dichtes Gras umbranden die Gebäude, so daß die roten Dächer und blaugetünchten Mauern kaum hervorsehen können. Rings um den Talkessel aber erheben sich die Berge, einer über den anderen, als bemühte sich jeder, höher zu steigen als sein Nachbar. Ein bläulicher, von Sonne durchfluteter Nebel umhüllt die Berge und wallt von Baum zu Baum. Vor mir hängt ein bläulicher Schleier, da und dort von einem silberhellen Wasserfall zerrissen, der von Stein zu Stein talwärts hüpft und sich stets von neuem in tausend Fäden und Schnüre teilt Sie vereinigen sich immer wieder und stürzen brausend den Berg hinab.

Das Heim bewohnen etwa vierzig jüdische und einige italienische Arbeitermädchen, einige junge Arbeiter und die Hausverwalterin, eine Deutsche. Sie macht — ich hoffe, daß ihr dies schmeichelt — den Eindruck, als wäre die Germania von ihrem marmornen Postament gestiegen und hätte Schwert und Schild abgelegt, um Verwalterin eines jüdischen Gewerkschaftsheimes zu werden. Doch wenn sie den Mädchen eine sozialistische Rede hält (das geschieht vor jeder Mahlzeit, sozusagen als Tischsegen, während des Essens als Toast und nach dem Speisen als Tischgebet) und die Macht des Proletariats rühmt, dann ist es, als hätte sie wieder Schild und Schwert in Händen und stehe auf ihrem Postament. Die Mädchen lassen sich übrigens von Germanias sozialistischem Donnerhall nicht gar viel stören — sie öffnen ihre schönen schwarzen oder goldblonden Zöpfe und zerstreuen sich Nymphen gleich im Grase und im Dunkel der Bäume. Es dauert nicht lange, da schreitet vom nächsten Wasserfall her eine blumenbekränzte Nixe heran, dann steigt vom Berg eine Waldkönigin nieder, die Arme mit einer Kette aus wildem Goldlack gefesselt, lind zwischen zwei mächtigen Asten lugt verführerisch eine Baumnymphe hervor und zeigt lachend die weißen Perlen ihrer Zähne …

Wie wenig brauchen die Mädchen, um glücklich zu sein! Wer sie hier sieht, kann nicht glauben, daß sie ein ganzes Jahr an der Nähmaschine saßen, daß diese schlanken Rücken tagelang über den Werktisch gebeugt waren, daß diese schmalen Finger unaufhörlich die Nadel führten, daß diese blitzenden Augen zu nichts anderem als zum Einfädeln dienten. Jetzt ist es, als wäre all’ dies nie gewesen. Nichts hat das innere Glück ertöten können, das Glück der Armen und Gerechten, das aus den Gliedern dieser jungen Mädchen sprüht. Nichts vermochte den hellen Jungmädchenglanz der Augen zu trüben, und ein Lufthauch, ein freier Atemzug, der Ruf des Waldes, das Rauschen des Wasserfalls — sie haben genügt, um den Werkstattstaub eines ganzen Jahres von den Mädchenköpfen wegzuwaschen. Und jetzt entströmt die Jugendfreude ihrer Brust wie ein Lied …

Fröhlicher als alle ist die Blonde mit den goldenen Zöpfen (ihren Namen nenne ich nicht). Sie ist biegsam wie eine junge Linde und kann nicht eine Minute lang ruhig stehen. Es genügt, daß jemand in einer Ecke ein Liedchen summt oder daß ein Vogel im Wald zwitschert, um sie sofort zum Tanzen zu bringen. Es ist, als erfüllte dieses Mädchen all ihre Sehnsucht, alle ihre Wünsche im Tanz. Sie kann nicht sprechen, sie kann nur tanzen. Was in ihrem Herzen singt und jubelt, das bringen die Beine im Tanz zum Ausdruck. Tanzend geht sie über die Treppe, tanzend setzt sie sich zum Essen. Sie tanzt in Gesellschaft und tanzt, wenn sie allein im Wald ist. Ich bin sicher — mitten in der Nacht, wenn alle anderen Mädchen schlafen, schlüpft sie heimlich auf die große Veranda, von der man tief ins dunkle, von den schweigenden Bergen umschlossene Tal hinabschaut, und tanzt im weißen Hemd für die Sterne und die Berge …

Eine andere wieder singt. Was sie singt, ist ihr einerlei, ob es das „Lied von den Margueriten“ ist oder „Wollen wir nicht wieder gut sein“ oder die italienische Weise, die sie hier erlernt hat. Sie denkt weder an den Text noch an die Melodie dessen, was sie singt. In ihr singt es und was ihr Herz empfindet, das legt sie in die wenigen ein¬fachen Volksliedchen, die sie kennt. Man empfindet — dieses Mädchen will etwas sagen, mit ganz anderen Worten als die ihrer Lieder; sie meint etwas anderes, denkt etwas anderes und singt etwas anderes. Und plötzlich ertönt im Walde das einfache jüdische Volksliedchen:

„Wollen wir nicht wieder gut sein, wieder gut sein?
Bist du mir wirklich böse?“

Wenn dieses Mädchen das Lied singt, klingt es, als wollte sie etwas ganz Persönliches, Ureigenes sagen, etwas von sich selbst erzählen.. .

Dafür gibt es hier eine andere, die kann schweigen. Nie im Leben ist mir ein Schweigen so ausdrucksvoll erschienen wie das dieses Mädchens mit den scharfgeschnittenen Brauen und dem reizenden ernsten Scheitelstrich in der Mitte des dunklen Haares. Sie sitzt ein wenig vorgebeugt, Kopf und Augen gesenkt, aber man hat den Eindruck, daß ihre Brauen alles sehen. Die schmalen Lippen sind fest aufeinander gepreßt und doch spricht sie. Alle lachen, freuen sich, singen, tanzen; nur sie allein sitzt stumm dabei. Und ich habe das Gefühl, als erzählte dieses Schweigen mehr als eines anderen Worte …

Unvergeßlich bleiben mir zwei Augen, denen ich dort begegnete. Ich kann sie nicht beschreiben, denn ich habe sie nicht gesehen, sondern bloß gefühlt. Als ich zum ersten Male in einem Theater vor das Publikum trat, da schauten aus der schwarzen Masse, die im finsteren Zuschauerraum versteckt war, zwei Mädchenaugen auf mich mit so viel naivem Glauben, daß ich mich vor ihnen schuldbewußt und sündig fühlte und eine Zeitlang kein Wort hervorbringen konnte aus Angst vor diesen Augen des Glaubens. Seither habe ich, sooft ich vor einer Menschenmenge stehe, das Gefühl, als bekäme diese Masse zwei Augen, die auf mich schauen. Vor diesen Augen kann ich nicht lügen. Diese Augen sieht man nicht, sondern man fühlt sie… Hier fühlte ich den Blick solcher Augen auf mir und schwieg lange …

In einem versteckten Winkel des Hauses ertönt ein russisches Lied. Dort kauern zwei Mädchen, blond wie Bauerndirnen. Beide sprechen mit scharfem „r“, tragen lange Zöpfe und haben die Ärmel aufgeschürzt. Sie sehen aus, als wären sie soeben vom Felde heimgekommen, hätten dort Heu gebündelt und schickten sich an, melken zu gehen. Sie singen eine melancholische kleinrussische Weise. Beide stammen aus der Ukraine. Die eine ist schon sechs Jahre, die andere acht Jahre in Amerika. Hier im Heim haben sie einander kennengelernt. Zum ersten Mal, seit sie in New York wohnen, sind sie auf dem Lande. Hier in den Bergen ist ihre Kindheit wieder vor ihnen aufgetaucht, die grünen Wiesen, die grasbedeckten Hügel und die murmelnden Bächlein der Ukraine. Voll Sehnsucht nach ihrer Kindheit haben sie sich der Liedchen erinnert, welche die ukrainischen Bauernmädchen singen. Jetzt sind sie unzertrennlich, essen zusammen, schlafen zusammen, gehen zusammen spazieren und singen ohne Unterlaß bei Tag und Nacht die melancholischen klein russischen Volkslieder, als wollten sie mit ihnen ihre Kindheit zurückrufen …

Abseits von den anderen aber sitzen in einer Ecke drei Mädchen. Sie singen nicht mehr. Sie tanzen nicht mehr. Selten erscheint ein Lächeln auf ihren Lippen, Die glanzlosen übermüdeten Augen blicken sehnsüchtig auf die frohen, lachenden und singenden Insassinnen des Heims. Plötzlich glimmt in den Augen der einen der Funke des Neides auf, die Lippen verzerren sich zur Grimasse und aus dem Munde lugen schadhafte, mühsam durch Metall zusammengehaltene Zähne. Dann und wann wirft eines der lustigen Mädchen einen nachdenklichen Blick in die Ecke und schauert zusammen, in bebender Angst vor der Zukunft. .. Die drei Mädchen haben so lange Wäsche genäht, bis sie ihr Lachen, ihre Freude, ihre Jugend in fremde Kleidung hineingearbeitet haben. Die Wäsche, in der ihre Jugend eingenäht ist, hat andere Mädchen verschönt, sie selbst aber, als vortreffliche Weißnäherinnen gerühmt, haben ihre Jugend verloren …

Die Nacht sinkt nieder und drückt das Tal an ihre Brust. Von unten her erhebt sich eine Wolke, einem zarten durchsichtigen Schleier gleich, und schwebt bald über Wipfeln und Gipfeln. Die Lichter der Puppenhäuschen im Tal schimmern durch das Dunkel. Die Mädchen und die jungen Arbeiter haben sich auf der Veranda versammelt. Die Germania mit Schild und Schwert hat soeben ihren sozialistischen Abendsegen beendet und zwei Burschen geben ein wirklich meisterhaftes Konzert auf der Guitarre. Schluchzend beginnt es: „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ und geht in einen lustigen Walzer über, zu dessen Takt die blonde Tänzerin über die Veranda schwebt. Die Italienerinnen haben sich versteckt, da sie sonst ununterbrochen den anderen ihre Lieder Vorsingen müssen. Aber die jüdischen Mädchen wissen ein Mittel, sie hervorzulocken: sie singen das „Lied von den Margueriten“. Sofort fallen die italienischen Stimmen in das jüdische Lied ein. „Wenn wir die Italienerinnen holen wollen, singen wir das ‚Lied von den Margueriten‘. Da halten sie es nicht mehr aus — sie müssen kommen und mitsingen, so sehr lieben sie dieses jüdische Liedchen“ — erzählen mir die anderen Mädchen lachend.

Es war schon sehr spät und dicht lag die Nacht über dem Walde, als die Mädchen mich bergab zur Stadt geleiteten. Eine Laterne lief uns voraus und beleuchtete die zwei Guitarrespieler, die mir einen jüdischen Hochzeitsmarsch aufspielten. Ich war von Mädchen umringt und hatte manchmal das Empfinden, ich hätte mich im Wald verirrt und sei in die Gewalt von Wald- und Bergnymphen geraten, die mich tief in den Wald locken, um mich in einen Satyr zu verwandeln und mir die schönste von ihnen zur Frau zu geben …

Keine Angst — ich fand mich bald nicht im tiefen Wald, sondern in meinem Zimmer, und nahm die dankbare und angenehme Erinnerung an das Unity-Heim mit, das den Weißnäher-Mädchen so viel Gutes schenkt.

–> Fortsetzung