Paul Erdős – der wandernde Mathematiker

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Primzahlzwillinge, Interpolationspolynome, benachbarte natürliche Zahlen, Ramsey-Theorie – Vor 25 Jahren starb Paul Erdős, vielleicht der brillianteste, ganz sicher aber der skurrilste Mathematiker des 20. Jahrhunderts

Von Judith Kessler

Erdős Pál, wie er auf Ungarisch heißt, wurde am 26. März 1913 in Budapest geboren. Anna Wilhelm und Lajos Engländer, seine Eltern, waren beide Mathematiklehrer. Pauls zwei Schwestern starben nur Tage vor seiner Geburt an Scharlach. Es war also kein Wunder, dass das verbliebene Kind erstens sehr behütet wurde und zweitens ein Faible für Zahlen entwickelte. 1914 wurde sein Vater zum Militärdienst eingezogen, geriet in russische Kriegsgefangenschaft und kam erst 1920 wieder frei. Derweil ließ die allein gebliebene Mutter den kleinen Paul aus Angst vor ansteckenden Krankheiten zu Hause unterrichten und kaum aus dem Haus. Paul muss ein einsames Kind gewesen sein, „die Zahlen waren meine Freude“, sagte er später. Dafür konnte er mit vier Jahren, wenn ihm Freunde der Familie ihr Geburtsdatum nannten, im Kopf ausrechnen, wie viele Sekunden sie schon gelebt hatten (Schnürsenkel binden hingegen lernte er erst mit zwölf). 

Obwohl Juden das Studium in der Horthy-Zeit in Ungarn verboten war, bekam Paul als Sieger eines landesweiten Mathe-Wettbewerbs eine Ausnahmegenehmigung und schrieb sich mit 17 Jahren an der Universität Budapest ein, fand mit 20 einen eleganten Beweis eines Satzes über Primzahlen und promovierte mit 21.

Noch im selben Jahr, 1934, der Antisemitismus in Ungarn wurde immer heftiger, konnte er dank eines Stipendiums nach Cambridge gehen und 1938 in die USA. Während Paul in Princeton lehrte und keine Nachrichten aus Ungarn bekam, starb sein Vater; mehre Tanten, Onkel und Freunde wurden im Holocaust ermordet; nur seine Mutter überlebte im Versteck; er sah sie erst 1948 wieder.

In den USA indes fand die Institutsleitung von Princeton den ungarischen Mathematiker zu „eigentümlich und unkonventionell“ und verlängerte seinen Vertrag nicht. Für die nächsten 50 Jahre reiste „der wahrscheinlich exzentrischste Mathematiker der Welt“ (Paul Hoffman) von Campus zu Campus und lebte aus dem Koffer – wortwörtlich: sein gesamter Besitz befand sich in zwei halbleeren Koffern. Der „wandernde Jude“ hielt es nie lange an einem Ort aus und pendelte zwischen Mathematik-Instituten und -freunden hin und her. D.h. er (das „verlorene Kind“, so ein Freund) tauchte ohne Vorwarnung an der Haustür anderer Mathematiker auf, mal in Australien, mal in New Jersey, verkündete mit seinem heftigen ungarischen Akzent: „my brain is open“, und wer ihn einließ, hatte sich einen Tag, eine Woche oder einen Monat um den völlig alltagsuntauglichen Gast zu kümmern, der nicht wußte, wie man eine Grapefruit schneidet oder seine Unterwäsche wäscht, aber die Gastgeber an den Denkprozessen des wohl klügsten Mathematikers des Jahrhunderts teilhaben ließ.

1952 reiste Erdős nach Amsterdam, und als er wieder zurück in die USA wollte, ließ man ihn nicht einreisen, nachdem man ihn verhört und unter anderem nach seiner Meinung zu Karl Marx befragt hatte (Antwort: „er war sicherlich ein bedeutender Mann“), und weil es eine alte FBI-Akte über ihn gab: er war 1941 bei einem Spaziergang vertieft in ein Gespräch über ein mathematisches Problem unwissentlich auf verbotenes militärisches Gelände geraten, und er hatte Kontakt zu einem Zahlentheoretiker aus dem kommunistischen China und seine Mutter mehrfach hinter dem eisernen Vorhang besucht – das reichte in der McCarthy-Ära, um der Spionage verdächtigt und zur persona non grata zu werden. Der „Nomade“ musste seine Wanderungen also außerhalb der USA fortsetzen und hielt sich hauptsächlich als ewiger Gastprofessor an der Hebrew University in Jerusalem und am Technion in Haifa auf, bis er 1963 endlich wieder in die USA einreisen durfte. 

Erdős liebte Zahlen und er verschwendete keine Minute damit, Dinge zu tun, die sich nicht um sie drehten. Das Time Magazine nannte ihn „the oddball’s oddball“. Er heiratete nicht, hatte keine Kinder, keinen festen Wohnsitz, keine Kreditkarte, legte keinen Wert auf Kleidung und Geld, arbeitete oft 20 Stunden am Stück und hielt sich mit Kaffee („a mathematician is a machine for turning coffee into theorems“) und mit Amphetaminen wach (dies noch vermehrt, als er jahrelang mit Depressionen kämpfte, nachdem seine Mutter, mit der ihn eine symbiotische Beziehung verband, gestorben war). Sein Freund Ronald Graham, der sich Sorgen um ihn machte, wettete einmal um 500 Dollar mit ihm, dass er es nicht schaffen würde, 30 Tage ohne Aufputschmittel durchzuhalten. Paul Erdős hielt durch, meinte aber, die Wette habe die Mathematik um einen Monat zurückgeworfen, da er keinen Gedanken zu Papier habe bringen können (und nahm das Doping wieder auf).

Dabei war Paul Erdős unglaublich produktiv. Er hat über 1500 Beiträge zu unterschiedlichsten mathematischen Problemen veröffentlicht, so viele wie kein anderer Mathematiker vor ihm und gilt deswegen als der „Euler des 20. Jahrhunderts“. Und Erdős war großzügig. Anstatt seine Ideen zu horten, teilte er sie mit jedem. Es spielte keine Rolle für ihn, ob er oder jemand anderes ein mathematisches Problem löste, Hauptsache es wurde gelöst. Er liebte den Gedankenaustausch und schrieb mehr als 500 „paper“ zusammen mit anderen Mathematiker*innen. Daraus entstand auch die halb scherzhafte „Erdőszahl“. Er selbst hatte die Erdőszahl 0, die 509 Mathematiker, die direkt mit ihm gearbeitet hatten, haben die Erdőszahl 1; die, die mit jemandem mit Erdőszahl 1 zusammen arbeiteten, haben die Erdőszahl 2 usw. usw.

Paul Erdős wurden in seinem Leben mit Preisen und (mindestens 15) Ehrendoktorwürden überschüttet. Er verwendete alle Preisgelder dafür, begabte junge Studenten zu unterstützen und selbst Preise auszuschreiben – für die Lösung von Problemen, die er stellte, und bei denen er die Höhe des Preisgeldes danach festlegte, wie viel ihm jeweils eine Lösung wert war.

Paul Erdős unterrichtet den damals 10jährigen Terence Tao an der University of Adelaide. (c) Fa. Tao, CC BY-SA 2.0

„The brain“ hatte auch ein sehr eigenes Vokabular. die USA nannte er „Samland“ nach Onkel Sam, die Sowjetunion „Joedom“ nach Josef Stalin, und Israel war „Isreal“.  War jemand „died“, gestorben, bedeutete dies in Erdős Slang, er hatte aufgehört zu rechnen.

Obwohl Atheist sprach er von „the book“, nämlich der Idee seiner Art Bibel, in der Gott die besten und elegantesten Beweise für mathematische Theoreme aufbewahrt. Und wenn er einen besonders schönen Beweis sah, rief er aus: „der ist aus dem Buch!“ Gott hingegen nannte Erdős den „supreme fascist“ oder kurz SF, und den beschuldigte er, seine Socken und seinen ungarischen Pass versteckt zu haben und die elegantesten mathematischen Beweise für sich zu behalten.

Erdős unterschrieb Papiere mit „Paul Erdos p.g.o.m.“ (poor great old man); als er 60 geworden war, fügte er „l.d.“ hinzu (living dead), mit 65 „a.d.“ (archaeological discovery), mit 70 wieder „l.d.“ (legally dead), mit 75 „c.d.“ (counts dead). 

Weiter gezählt hat er nicht. Er starb mit 83 Jahren 1996, während einer Konferenz in Warschau an einem Herzinfarkt. Ich schätze, es hätte ihm gefallen. Er hat einmal gesagt: „Ich möchte einen Vortrag halten und einen wichtigen Beweis an der Tafel abschließen; dann ruft jemand aus dem Publikum: ‚und was ist mit der Verallgemeinerung?‘; ich drehe mich zum Auditorium um, lächele und sage: ‚das überlasse ich der nächsten Generation.‘ Dann kippe ich um.“

Paul Erdős ruht neben seinen Eltern auf dem jüdischen Friedhof in Budapest. Sich gewünscht (aber nicht bekommen) hat er die Grabinschrift: „végre nem butulok tovább“– übersetzt in etwa: „endlich habe ich aufgehört, dümmer zu werden“.

Bild oben: Paul Erdős, 1992, (c) Kmhkmh, CC BY 3.0