Der lange Schatten von „Nine-Eleven“

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010915-N-3995K-015.New York, N.Y. (Sept. 15, 2001) -- A New York City fireman calls for 10 more rescue workers to make their way into the rubble of the World Trade Center. U.S. Navy Photo by Journalist 1st Class Preston Keres. (RELEASED)

Vor genau zwanzig Jahren steuerten islamistische Terroristen zwei Passierflugzeuge in das World Trade Center in New York. Seither ranken sich antisemitische Mythen und Verschwörungslegenden um dieses Ereignis, bei dem rund 3.000 Menschen den Tod fanden. Auch gilt nicht nur in dieser Szene Israel als Drahtzieher und Profiteur der Ereignisse.

Von Ralf Balke

Kein Tag wie jeder andere. Als am Dienstag, dem 11. September 2001, um 8.46 Uhr New Yorker Ortszeit eine Boeing 767 in einen der beiden Zwillingstürme des World Trade Centers einschlug, konnte noch niemand die Ausmaße der als „Nine-Eleven“ in die Geschichte eingegangenen Terroranschläge erahnen. Um 9.03 Uhr flog eine weitere Maschine in den zweiten Turm ein. 9.37 Uhr dann stürzte ein drittes Flugzeug in den Westflügel des Pentagons in Washington, ein viertes wurde nach einer Auseinandersetzung zwischen Entführern und Passagieren in Pennsylvania zum Absturz gebracht, bevor es das Kapitol oder das Weiße Haus erreichen konnte. Fast 3.000 Menschen starben, weitere 6.000 wurden bei dem schlimmsten aller Terroranschläge in der Geschichte der Vereinigten Staaten verletzt. Die Bilder des Geschehens erschütterten die gesamte Weltöffentlichkeit.

Der 11. September 2001 markierte nicht nur den Beginn des Krieges gegen den Terror. Zugleich bilden die Ereignisse von diesem Tag auch den Auftakt für die Verbreitung einer Vielzahl von Mythen und Verschwörungserzählungen, die immer wieder Juden als Urheber oder Profiteure der Anschläge nennen und mit den Jahren nichts von ihrer Wirkungsmacht verloren hatten – eher das Gegenteil scheint der Fall. Im Internet kursieren seither Schriften, Fotos und Videos, die allesamt von sich behaupten, die „offizielle Version“ als Lüge entlarven zu können und die „wahren Drahtzieher“ oder „Hintermänner“ zu kennen.

Auch in deutschen Buchläden stößt man auf Autoren wie Mathias Bröcker, Gerhard Wisnewski oder Andreas von Bülow, die von sich behaupten, die Wahrheit erkannt zu haben. Regelmäßig wird in diesen Publikationen auch Israel erwähnt. So sei der jüdische Staat angeblich der größte Nutznießer der politischen und militärischen Maßnahmen, die im Gefolge von „Nine-Eleven“ initiiert worden sind. Über die Frage, ob die Verschwörungserzählungen dafür sorgten, dass hierzulande ebenfalls nur wenige Menschen die offizielle Version glaubten, oder aber bereits vor dem 11. September eine große Skepsis gegenüber den Medien existierte, darüber ließe sich trefflich streiten. Fakt aber ist, das laut einer Erhebung 2003 nur 27 Prozent der befragten Deutschen glaubten, dass die Presse und Fernsehen ihnen die ganze Wahrheit über die Anschläge erzählen würden. Das Bild von einer Verschwörung der Eliten dieser Welt sitzt seither fest im Kopf.

Eine der prominentesten Legenden, die sich bis heute hartnäckig hält, ist die Behauptung, dass der israelische Geheimdienst hinter „Nine-Eleven“ stecken würde. In die Welt wurde dieses Märchen bereits sechs Tage nach den Anschlägen von al-Manar, dem TV-Sender der schiitischen Terrororganisation Hisbollah, gesetzt. So seien 4.000 Juden am 11. September nicht wie sonst auch zur Arbeit im World Trade Center erschienen, weil sie zuvor vom Mossad gewarnt worden seien. Auch hätte es unter den Opfern keine Juden gegeben, was angesichts der Tatsache, dass mindestens 270 Juden bei dem Anschlag zu Tode kamen, eine reine Lüge ist. Bemerkenswerterweise erfreut sich diese Verschwörungserzählung in den verschiedensten Milieus seither großer Beliebtheit. Nicht nur unter Islamisten ist sie bis heute aktuell. David Duke vom Klu-Klux-Klan, aber auch der ehemalige deutsche Links-Terrorist und zum Vordenker der NPD gewendete Horst Mahler propagierte diese Behauptung. Und die National-Zeitung schwadronierte von der „Israellobby“ als Auftraggeber von Nine-Eleven. In der Literatur, die in den Zirkeln der Anhänger solcher Verschwörungserzählungen kursiert, heißt es ferner, dass der Mossad die Terrororganisation al-Quaida zuvor unterwandert hätte, weshalb die Anschläge ohnehin auf das Konto des israelischen Geheimdienstes gingen.

Ferner ist gerne von einem Komplott des jüdischen Immobilienmagnaten Larry Silverstein die Rede, der als Pächter des gesamten Areals des World Trade Centers fast 4,7 Milliarden Dollar Entschädigung für die eingestürzten Zwillingstürme erhielt, was natürlich kein Zufall sein konnte, so dass auch er als Urheber gehandelt wurde. Der Umstand, dass ihm als Juden noch enge Kontakte nach Israel attestiert wurden, machte ihn aus Sicht vieler sogenannter „Truther“, die sich auf die Suche nach der Wahrheit gemacht hatten, weiter verdächtig. Auch diese These ist bei genauerer Betrachtung Teil einer antisemitischen Erzählung, die wesentliche Fakten ausblendet: Zum einen hatte Silverstein deutlich weniger Schadensersatz erhalten als erwartet und war mit seinen ursprünglichen Forderungen bei den Versicherungen vor Gericht gescheitert. Zum anderen hatte man ihn verpflichtet, diese Summe innerhalb von zwei Jahren in den Neubau eines World Trade Centers zu investieren, der ohnehin das Mehrfache der Entschädigung kostete.

Eine weitere Gruppe, die immer wieder in den Verschwörungserzählungen auftaucht, sind die „jüdischen Neokonservativen“, allen voran der damalige stellvertretende Verteidigungsminister Paul Wolfowitz oder der Chefberater von US-Präsident George W. Bush, Richard Perle. Sie alle hätten ein „neues Pearl Harbor“ gebraucht, um endlich gegen Iraks Diktator Saddam Hussein sowie andere Feinde Israels militärisch vorgehen zu können. In abgewandelter Form hat diese These sogar in der Wissenschaft Karriere gemacht. So erklärten die Politikprofessoren John Mearsheimer sowie Stephen Walt eine „Pro-Israel-Lobby“ in Washington dafür verantwortlich, dass die Vereinigten Staaten nach „Nine-Eleven“ in den Irak einmarschiert waren. Auch die amerikanische Unterstützung im Krieg Israels gegen die Hisbollah geht auf diese angeblich so einflußreiche Gruppe zurück, die Washington dazu überreden würde, sogar immer wieder gegen die strategischen Interessen der Vereinigten Staaten zu handeln. Oder wie es Hollywoodstar Mel Gibson 2006 formulierte: „Die Juden tragen für alle Kriege in der Welt die Verantwortung.“ Ohne „Nine-Eleven“ hätten diese antisemitisch grundierten Bilder von einer amerikanischen Administration, die nach der Pfeife Jerusalems tanzt, keinesfalls eine solche Konjunktur erlebt.

Für Israel hatten die Ereignisse vom 11. September ebenfalls gravierende Folgen. Vor Ort selbst war man zwar schon länger mit dem suizidalen Terrorismus islamistischer Gruppierungen konfrontiert worden, der durch den Ausbruch der Zweiten Intifada rund zwölf Monate vor „Nine-Eleven“ noch an Intensität gewinnen sollte. In den Vereinigten Staaten und Europa dagegen hatte man sich all die Jahre als entfernter Beobachter dieser blutigen Selbstmordattentate zumeist palästinensischer Gruppen gewähnt, weshalb die westlichen Demokratien eine permanente Bedrohung durch den islamistisch motivierten Terror eher undenkbar schien. Doch auf den 11. September in New York folgten am 11. März 2004 die viele hundert Opfer fordernden Anschläge auf Vorortzüge in Madrid sowie am 7. Juli 2005 eine ganze Serie von Attacken auf U-Bahnen und Busse in London. Bis in die Gegenwart reißt diese Kette der Gewalt nicht ab.

Doch all diese Ereignisse hatten nicht etwa zur Folge, dass man sich in Europa mit Israel in irgendeiner Form solidarisch wähnte. „Fast ein Jahr lang waren wir wegen unserer Aktionen gegen einen gemeinen Terror der internationalen Kritik ausgesetzt“, schrieb unmittelbar nach den Anschlägen exemplarisch der israelische Kolumnist Sever Plotzker in der Tageszeitung Yediot Achronoth voller Hoffnung. „Nun gehen vielen endlich die Augen auf.“ Doch genau das Gegenteil schien der Fall zu sein. Die Sympathiewerte Israels sanken ins Bodenlose und der jüdische Staat wurde zur größten Bedrohung des Weltfriedens erklärt. Zum einen sollte der israelischen Regierung unter Ministerpräsident Ariel Scharon, aber auch seinen Nachfolgern immer wieder attestiert werden, dass sie den „Krieg gegen den Terror“ als Vorwand instrumentalisieren würden, die Palästinenser zu unterdrücken. Zum anderen gab es eine Deutung der Ereignisse vom 11. September, die Israel eine Art Mitschuld zusprachen, weil man bereits 1967 die Araber gedemütigt hätte und vor allem an seiner Besatzungspolitik festhalte. Auf diese Weise würde Jerusalem seinen Beitrag dazu leisten, dass sich Terrornetzwerke wie al-Quaida bilden konnten, die es nun den „Feinden Allahs“ einfach nur in gleicher Münze heimzahlen. Durchwirkt war diese Argumentation ebenfalls von einem mal unterschwelligen, mal offenen Antiamerikanismus, in dem „Nine-Eleven“ zu einem symbolischen Denkzettel für all die Ungerechtigkeiten erklärt wird, die auf die Kappe der „arroganten“ Supermacht USA gingen. Ob diese Deutungen und Verschwörungserzählungen in den nächsten 20 Jahren an Wirkungsmacht verlieren oder sogar noch gewinnen werden, das ist eine Frage, die derzeit wohl niemand beantworten kann.

Foto: Ein Feuerwehrmann bittet um Verstärkung für die Suche in den Trümmern, 15.09.2001, (c) United States Navy, ID 010914-N-3995K-015