Ein „Failed State“ und Teherans Marionetten in seinem Hinterhof

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Während der Libanon zunehmend im Chaos versinkt, beschießt die Hisbollah den Norden Israels mit Raketen und beschwört damit die schwerste Eskalation in der Region seit dem Krieg von 2006. Doch der Schlagabtausch zwischen Israel und der schiitischen Terrororganisation kennt noch einen weiteren Akteur, und der heißt Iran…

Von Ralf Balke

Die vergangenen Tage waren für die Bewohner des Nordens Israels alles andere als ruhig. Immer wieder mussten sie die Schutzräume aufsuchen, weil im Süden des Libanons Raketen abgeschossen wurden. Anfänglich wurden radikale Palästinensergruppen, die auf dem Territorium des nördlichen Nachbarstaates aktiv sind, als Urheber genannt. Auch fielen die Reaktionen Israels erst einmal sehr verhalten aus, weil kein größerer Schaden entstanden war. Deshalb feuerte die Armee einige Artilleriesalven ab, und das war es auch schon. Doch die Situation änderte sich schlagartig, als am Mittwoch vergangener Woche zwei Geschosse unweit der Stadt Kiryat Shmona einschlugen und mehrere Brände verursachten. Daraufhin reagierte die israelische Luftwaffe mit dem Beschuss der Orte, von denen aus die Raketen abgefeuert wurden – dem ersten Einsatz dieser Art seit rund sieben Jahren. Am Freitag erfolgte die nächste Eskalationsstufe, indem sich die Hisbollah einmischte. Sie attackierte Israel mit gleich 19 Raketen, was seit dem Libanonkrieg von 2006 der wohl schwerste Angriff der Schiiten-Miliz auf israelisches Territorium war.

Am Sonntag dann machte Naftali Bennett die Regierung in Beirut dafür verantwortlich, was „in ihrem Hinterhof“, so gemeint ist der Süden des Landes, geschieht. „Es interessiert uns nicht, ob es sich nun um Palästinensergruppen oder eine Terrororganisation handelt“, so Israels Ministerpräsident zu Beginn der wöchentlichen Kabinettssitzung. „Der Staat Israel wird nicht akzeptieren, dass sein Territorium beschossen wird.“ Ferner nannte Bennett die Hisbollah und den Iran als Urheber dieser neuen Eskalation. Sie würden mitten in der existentiellen wirtschaftlichen und politischen Krise, in der sich der Libanon derzeit befindet, die Stimmung weiter anheizen und die Libanesen, die das nicht wollen, in einen Konflikt hineinziehen. Wie sehr der Ministerpräsident damit Recht hat, zeigt unter anderem ein Video, das unmittelbar nach den Attacken der Hisbollah viral ging. Zu sehen sind libanesische Drusen, wie sie verzweifelt versuchen, die Schiiten-Miliz daran zu hindern, einen mobilen Raketenwerfer in ihrem Dorf zu positionieren. Auch der maronitische Patriarch Bechara Boutros al-Rahi meldete sich zu Wort und appellierte an die Regierung, endlich dafür zu sorgen, dass die libanesische Armee die Kontrolle über den Süden zurückgewinnt, damit die Hisbollah das Land nicht schon wieder in einen völlig sinnlosen Krieg zerrt. Weitere libanesische Politiker schlossen sich dieser  Forderung an.

Am Samstag bereits hatte Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah erklärt, dass seine Miliz zwar keinen Krieg mit Israel anstrebe. „Wir wollen unserem israelischen Feind aber signalisieren, dass jeder Luftangriff auf den Libanon immer eine Antwort zur Folge hat, und zwar in einer angemessenen und verhältnismäßigen Weise.“ Was darunter zu verstehen ist, zeigt ein neues Propagandavideo der Hisbollah. Mobile Raketenwerfer werden in Position gebracht und feuern Salven in Richtung Israel ab. Ziel ist die Gegend rund um Har Dov, auch bekannt unter der Bezeichnung Shebaa-Farmen, die die Libanesen als von Israel besetztes Gebiet betrachten. Einige dieser Geschosse landeten israelischen Militärberichten zufolge auf libanesischem Territorium, die meisten anderen wurden von dem Abfangsystem Iron Dome vom Himmel geholt. Doch unabhängig davon ist die neue Entwicklung besorgniserregend. Zum einen ist es das erste Mal, dass die Hisbollah seit dem Libanonkrieg 2006 öffentlich Verantwortung für den Abschuss von Raketen auf Israel übernommen hat. Zum anderen gab es seit 2014 keine israelischen Luftangriffe auf Ziele im Libanon – auch wenn die Jets immer wieder über libanesisches Territorium kreuzten.

Für den Libanon selbst käme eine Konfrontation zwischen der Hisbollah und Israel zur Unzeit. Der Zedernstaat steht wirtschaftlich und politisch ohnehin am Abgrund, weshalb jeder weitere Konflikt, egal mit wem, zu seinem Sargnagel werden könnte. Jahrzehnte der Misswirtschaft und die Tatsache, dass sich das Land im Griff von Clans, korrupten Eliten und einer Terrormiliz wie der Hisbollah befindet, haben dazu geführt, dass die Inflation kürzlich die 100-Prozent-Marke knackte und mehr als 60 Prozent der Bevölkerung mittlerweile in Armut leben. Die Coronavirus-Krise hat die Situation weiter verschärft. Angefangen von der Müllabfuhr bis hin zur Versorgung mit Strom oder Medikament – kaum etwas funktioniert noch. Im wahrsten Sinne des Wortes flog den Verantwortlichen all das um die Ohren, als am 4. August 2020 hunderte Tonnen unsachgemäß im Hafen von Beirut gelagertes Ammoniumnitrat explodierten, wobei mehr als 200 Libanesen den Tod fanden und große Teile der Stadt in Schutt und Asche gelegt wurden.

Der libanesische Staat ist sprichwörtlich pleite und muss betteln gehen. Zwar versprachen die Vereinigten Staaten, Frankreich und Deutschland auf einer Geberkonferenz dieser Tage Finanzhilfen in Höhe von rund 220 Millionen Euro. Aber selbst das Auswärtige Amt in Berlin gab zu, dass keine wirkliche Verbesserung eintreten werde, so lange nicht grundlegenden Reformen in Angriff genommen werden, womit wohl kaum zu rechnen ist. Und was die Untersuchungen der Ursachen für die verheerende Katastrophe von vor einem Jahr angeht, so liegt immer noch kein Ergebnis vor. Nur eines weiß man mittlerweile: Es war wohl nur rund ein Fünftel der im November 2013 von einem Frachter unter moldawischer Flagge gelöschten Menge Ammoniumnitrat, die da explodiert war. Über den Verbleib des Löwenanteils dieses Materials, das nicht nur für die Herstellung von Düngemitteln, sondern auch für die Produktion von Sprengstoffen zum Einsatz kommen kann, wird viel spekuliert. Sehr wahrscheinlich befinden sich rund weitere 2.200 Tonnen im Besitz der Hisbollah, die wiederum mitverantwortlich dafür ist, dass es mit der Aufklärung des Unglücks nicht so richtig klappen soll.

Obwohl im Libanon Mangel an allem Nötigen herrscht, hat die Hisbollah ein Arsenal von bis zu 150.000 Raketen und anderen Flugkörpern aufgebaut – selbstverständlich nicht aus eigener Kraft, sondern mit tatkräftiger Unterstützung des Irans. Denn letztendlich haben die Mullahs in Teheran das Sagen darüber, was die Schiiten-Miliz alles machen darf oder eben nicht, weshalb auch die jüngste Eskalation an der Nordgrenze Israels im Kontext der iranischen Expansionspolitik in der gesamten Region zu verstehen ist: Der Iran selbst hat mit Ebrahim Raisi – bekannt auch als „Schlächter von Teheran, weil er in den 1980er Jahren Tausende Regimekritiker hinrichten ließ – einen neuen Staatspräsidenten, der die ebenfalls erst wenige Wochen amtierende israelische Regierung, aber auch die noch recht junge US-Administration von Präsident Joe Biden herausfordern will, also ausloten möchte, was außenpolitisch so alles möglich sein kann. Zugleich laufen in Wien die Verhandlungen über eine Neuauflage des Atomabkommens. Washington zeigt daran ein großes Interesse, für Ebrahim Raisi dagegen hat der Deal eine geringere Priorität. Er scheint eher die Konfrontation zu suchen.

Daher hat auch der iranisch-israelische Schattenkrieg eine neue Dimension gewonnen. Vorläufiger Höhepunkt war der Drohnenangriff auf ein Frachtschiff, das einem israelischen Reeder gehört, am 30. Juli vor der Küste des Omans. Dabei wurden ein britisches sowie ein rumänisches Besatzungsmitglied getötet. Zwar kündigte US-Außenminister Antony Blinken eine „kollektive Antwort“ auf diesen terroristischen Überfall an, doch wie diese aussehen soll, darüber machte er keine Angaben. „Eine neue internationale Koalition gegen den Iran ist gewiss nicht in Sicht“, lautet dazu die Einschätzung von Henry Rome, leitender Analyst bei dem Thinktank Eurasia Group. „Vielleicht werden die Vereinigten Staaten und Großbritannien ihre Seestreitkräfte, die in der Region patrouillieren, im Rahmen des International Maritime Security Construct (IMSC) verstärken. Oder London könnte als Reaktion auf den Vorfall eine Cyber-Operation durchführen, wie britische Medien berichten.“ Doch auch diese hat allenfalls begrenzte Auswirkungen. Womöglich verhängt Washington zusätzliche Sanktionen gegen den Iran. „Für Israel dürfte all das letztendlich zu wenig sein, weshalb man im Alleingang Wege suchen wird, um Vergeltung zu üben.“

Offensichtlich testet die Hisbollah im Auftrag des Irans gerade aus, inwieweit sich die neue Regierung unter Bennett und Yair Lapid auf die Probe stellen lässt. „Sie könnten die Raketenangriffe auch jederzeit wieder einstellen“, so Eran Lerman, Vizepräsident des Jerusalemer Institutes for Strategy and Security und ehemaliger Vize-Direktor des Nationalen Sicherheitsrates Israels. Der Experte sieht in dem Ganzen ein hochriskante Angelegenheit – schließlich hatte die Hisbollah schon einmal eine israelische Regierung auf diese Weise herausgefordert. Das war 2006, als Angehörige der Schiiten-Miliz israelische Soldaten an der Grenze als Geiseln nehmen wollten, sie dann töteten. Ein Krieg stand damals nicht auf der Agenda der Hisbollah. Doch es sollte einer werden. „Solange die Iraner nicht zur Vernunft kommen, nähern wir uns genau dem Punkt, an dem die militärische Option eine sehr reale werden könnte“, warnt Lerman.

Selbst Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah sollte klar sein, dass Israel nach den Erfahrungen des Krieges von 2006, bei dem zahlreiche Mängel bei der Ausbildung der Soldaten und der Logistik zu hohen israelischen Verlusten führten, keine Wiederholung der Ereignisse von vor fünfzehn Jahren zulassen würde. Immer wieder hatten die Verantwortlichen in der Politik erklärt, dass jeder größere Angriff auf israelisches Territorium eine massive Vergeltung mit sich bringen wird. Der frühere Transportminister Yisrael Katz sprach sogar davon, den Libanon dann „zurück in die Steinzeit“ bombardieren zu wollen. Und genau das könnte passieren. Denn es geht nicht nur um die Sicherheit der israelischen Bürger im Norden, sondern ebenfalls um die Glaubwürdigkeit von Israels Abschreckungspotenzial. Sowohl die Hisbollah als auch der Iran spielen also mit dem Feuer. Und der Regierung in Beirut bleibt nichts anderes übrig, als hilflos dabei zuzuschauen.