Ponary war das Tor zur Hölle

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Eingang zur Gedenkstätte Ponary (lit. Panerių memorialas), Foto: Jim G. Tobias

Vor 80 Jahren begann der Massenmord an den Juden von Wilna – der polnische Journalist Kasimierz Sakowiczs war Augenzeuge und Chronist dieser schrecklichen Bluttaten.

Von Jim G. Tobias
Zuerst erschienen in: Tachles, 16. Juli 2021

«Dem 11. Juli, s’is a schojner Somertog, mir hern as fun der sejt, fun Wald schist man, wos ken dos sejn?», übersetzt Rachel Margolis in ihrem warmen und weichem Jiddisch aus den in polnischer Sprache verfassten Aufzeichnungen Kasimierz Sakowiczs, der sich seine Frage selbst beantwortet: «S’is drej a zejger, Nochmitog, mir wejsen schojn, as dos hot man geschosn Jidn.» Der polnische Journalist war Augenzeuge und Chronist der Massenexekutionen im litauischen Ponary. In dieser kleinen Ortschaft, unweit von Wilna, wurden vom Juli 1941 bis zum Juli 1944 circa 100 000 Menschen ermordet – die Mehrheit von ihnen waren jüdische Frauen, Männer und Kinder. Rachel Margolis, eine Widerstandskämpferin aus dem Ghetto Wilna, ist es zu verdanken, dass Sakowicz’ einzigartige Aufzeichnungen publiziert wurden und den NS-Massenmord ans Licht der Öffentlichkeit gebracht haben.

Akribische Beobachtungen des Grauens

Kazimierz Sakowicz war Besitzer einer Druckerei und Herausgeber der polnischen Wochenzeitung «Przeglad Gospadarczy» (Wirtschaftsrundschau); er wohnte unweit der Massenexekutionsstätte in einem Häuschen mit Garten im Wald von Ponary. Instinktiv erkannte er, dass er Zeuge unfassbarer Ereignisse wurde: der beginnenden Vernichtung der litauischen Juden. Fortan notierte Sakowicz mehr als zwei Jahre – anfänglich eher emotionslos und distanziert – akribisch seine Beobachtungen. «Es wurden über 200 Frauen und Kinder hergebracht. Sie nahmen den Frauen ihre Babys weg und erschlugen sie mit Gewehrkolben. Sie machten sich nicht die Mühe, jeden Bengel einzeln zu erschiessen, sie warfen sie einfach in die Gruben.»

«Rettet uns!»

Auf unzähligen Papierschnipseln notierte der Journalist seine grausigen Beobachtungen, wie die Menschen in den Wald getrieben wurden und nicht mehr zurückkehrten. Unter dem Titel «Das jüngste Gericht» schildert er detailliert ein Massaker an mehreren Tausend Juden, die am 5. April 1943 mit einem Zug ankamen: «Während knapp vier Stunden wurden also etwa 2500 Menschen getötet oder sogar mehr», schrieb Sakowicz. «Von 7 Uhr morgens bis 11 Uhr vormittags 49 Wagen voller Menschen erschossen, dieser Güterzug bestand nämlich aus so vielen Waggons.» Um weitere Informationen zu erhalten, sprach Sakowicz auch mit den Tätern und den einheimischen Hilfswilligen, die sich die letzten Habseligkeiten der Ermordeten aneigneten.

Sakowicz steckte alle seine Notizen in Flaschen, die er mit einem Stöpsel luftdicht verschloss und in seinem Garten sowie im Wald vergrub. Kurz vor der Befreiung Litauens wurde Sakowicz im Juli 1944 ermordet. In seiner vorletzten überlieferten Niederschrift vom 4. November 1943 notierte er: «Ich konnte das nicht mehr lange beobachten, weil ich fürchte, verdächtigt zu werden. Sie gucken mich sowieso misstrauisch an.» Ein Grossteil seiner Aufzeichnungen wurden von jüdischen Überlebenden gefunden. Jahrzehnte lagen diese mit dem Stempelaufdruck «unleserlich» versehenen Papiere unbeachtet im Zentralarchiv Litauens. Erst der engagierte Einsatz von Rachel Margolis, die 1998 die vergilbten, verschimmelten und nur schwer zu entziffernden Notizen entschlüsselte, entriss diese unvergleichliche Dokumentation des Grauens dem Vergessen.

Die 1921 geborene Arzttochter Rachel Margolis hat als einzige ihrer Familie die zahlreichen «Aktionen» im Ghetto überlebt. Am 1. September 1941 wurden Tausende von Wilnaer Juden in der Stadt zusammengetrieben. «Aus dem Fenster einer Wohnung sah ich in der Nacht eine endlose Kolonne von Menschen», erinnerte sie sich, «Kinder, Greise, Frauen mit Babys auf dem Arm, mit Bündeln, Töpfen, Eimern, Kissen, eine schreckliche Masse, die kein Ende nahm. Niemand wusste, was mit ihnen geschehen sollte.» Erst die Aufzeichnungen von Sakowicz brachten die schreckliche Wahrheit ans Licht. Er hatte am 2. September beobachtet, wie in Ponary eine zwei Kilometer lange Kolonne zur Hinrichtungsstelle zog und notierte: «Es wurden bis 2000 Juden hergebracht. Wie es sich später erwies, waren es 4000 Personen, andere behaupteten, es waren 4875 – lauter Frauen, viele Babys. Als sie von der Landstrasse in den Wald einbogen, begriffen sie, was sie erwartete, und schrien: ‹Rettet uns!›»

Widerstand durch Kultur

Rachel wollte Widerstand gegen die Mörder leisten. Sie schloss sich den Ghettokämpfern, der Farejnigte Partisaner Organisatije des charismatischen Zionisten und Dichters Abba Kovner, an, der in seinem berühmten Aufruf vom Januar 1942 die Wilnaer Juden zum Kampf aufforderte: «Lasst uns nicht wie Schafe zur Schlachtbank gehen! Brüder, es ist besser, als freie Kämpfer zu sterben, als von der Gnade der Mörder zu leben.» Doch nicht nur mit der Waffe in der Hand wollte man sich wehren, der Widerstand wurde auch im politischen, sozialen und kulturellen Bereich organisiert. Im Wilnaer Ghetto entstanden Schulen, Kindergärten, ein Sportklub, ein Theater und sogar eine Bibliothek. In dieser von Herman Kruk aufgebauten und geleiteten Ghetto-Bücherei erhielt Rachel Margolis einen Arbeitsplatz. Schon damals wusste die junge Frau, wie wichtig es war, die Gewohnheiten einer zivilisierten Existenz beizubehalten: «Mithilfe der Kultur haben die Menschen versucht, sich psychisch zu retten und Widerstand zu leisten.» Schon ein Jahr nach Gründung der Bibliothek feierte man 100 000 Buchausleihen im Saal des Ghettotheaters. Zudem waren die Räume der Bücherei ein idealer Ort für konspirative Treffen der Untergrundbewegung. Im Keller des Hauses fanden sogar Ausbildungskurse an der Waffe statt.

Doch schon bald erkannten die Ghettokämpfer, dass ihr Kampf gegen die deutschen Mörderbanden und ihre litauischen Helfer aussichtslos war. Mit einer der letzten Gruppen verliess Rachel Margolis Anfang September 1943, kurz vor der endgültigen Liquidierung des jüdischen Wohngebiets, das Ghetto und schloss sich einer sowjetischen Partisaneneinheit an. Mit ihren Kameraden kämpften sie gegen die deutschen Truppen und führten Sabotageaktionen durch. Im Frühjahr 1944 sammelte ihre Einheit einige erschöpfte und traumatisierte jüdische Männer auf. Sie waren von der Massenexekutionsstätte in Ponary geflohen, wo sie gezwungen worden waren, die Leiber von Zehntausenden Ermordeten zu verbrennen. «Einige mussten die Leichen ausgraben, ein Zahnarzt hatte ihnen die goldenen Zähne auszureissen, ein anderer ihnen die Ringe abzunehmen. Andere schleppten Holzscheite heran und bauten aus dem Holz und den Leichen eine Pyramide. Diese Pyramiden brannten eine Woche lang. Der Rauch war in der ganzen Umgebung sichtbar. Dann siebten sie die Asche», berichtete Rachel Margolis. «Man roch förmlich den Tod, die Körper der Überlebenden waren durchdrungen vom Gestank der verwesten Leichen.» Unter den in Ponary ermordeten Menschen waren auch Rachels Eltern, Emma und Samuel, und ihr kleiner Bruder Josef.

Erschütterndes Zeugnis

Nach der Befreiung Wilnas durch die Rote Armee blieb Rachel Margolis in ihrer Heimatstadt, studierte Biologie und wurde Professorin an der Universität Wilna. Doch erst mit der Unabhängigkeit Litauens im März 1990 war eine Wiedergeburt der jüdischen Kultur möglich. Bereits im Oktober 1989 wurde das Jüdische Museum Wilna eröffnet. Rachel Margolis engagierte sich dort vom ersten Tag an; sie sammelte Dokumente und Berichte und initiierte eine der ersten Ausstellungen, die sich der Vernichtung des litauischen Judentums widmete. Dabei entdeckte sie auch die Aufzeichnungen von Kazimierz Sakowicz. In jahrelanger, mühevoller Kleinarbeit erstellte Rachel Margolis eine Reinschrift des Tagebuchs, das 1999 erstmals in der Originalsprache in einem polnischen Kleinverlag veröffentlicht wurde. Erst durch eine Übersetzung ins Deutsche, vier Jahre später, nahm eine breite Öffentlichkeit Notiz von einem «der erschütterndsten Dokumente des Holocaust», wie die Wochenzeitung «Die Zeit» schrieb. «Ohne Zweifel handelt es sich um eines der wichtigsten und zugleich entsetzlichsten Zeugnisse des Holocaust.» 2005 erschien eine englischsprachige Ausgabe, ob und wann eine Übersetzung ins Litauische erfolgt, ist nicht bekannt.

Rachel Margolis vor dem Jüdische Museum Wilna. In diesem kleinen Holzhaus wird der Überlebenskampf der litauischen Juden dokumentiert. Foto: Jim G. Tobias

Obwohl Rachel Margolis schon 1994 nach Israel emigrierte, reiste sie jedes Jahr im Sommer für einige Monate nach Wilna, um im Jüdischen Museum unentgeltlich zu arbeiten und Besucher aus aller Welt über das Schicksal der litauischen Juden zu informieren. Bis zum Jahre 2008: Zu dieser Zeit ermittelte die litauische Staatsanwaltschaft gegen Mitglieder einer sowjetischen Partisaneneinheit, die im Januar 1944 angeblich litauische Zivilisten ermordet haben sollen. Wegen dieses «Kriegsverbrechens» sollten neben Jitzak Arad, ehemaliger Leiter von Yad Vashem, auch Rachel Margolis als «Zeugen» vernommen werden. Erst aufgrund von massiven internationalen Protesten ruderte die litauische Strafverfolgungsbehörde zurück und stellte die Ermittlungen ein. Doch Rachel Margolis’ Vertrauen in die Justiz war erschüttert. Sie verliess ihre neue Heimat in der israelischen Stadt Rehovot nie mehr. Dort verstarb sie hochbetagt am 6. Juli 2015. Am 28. Oktober dieses Jahres wäre sie 100 Jahre alt geworden. Mit der Entschlüsselung der Sakowicz-Notizen hat sie allen in Ponary ermordeten Menschen ein Erinnerungszeichen gesetzt. Aber Rachel Margolis war auch schon zu ihren Lebzeiten so etwas wie ein Denkmal. Sie war eine der letzten aus der Generation der jüdischen Kämpfer gegen den Nationalsozialismus, eine der letzten Gefährten von Abba Kovner, Abraham Suzkewer und den rund 15 000 jüdischen Partisanen und Ghettokämpfern in Litauen, der westlichen Sowjetunion und in Polen, die den heldenhaften Kampf gegen die Nazi-Barbaren aufgenommen hatten.

Bild oben: Eingang zur Gedenkstätte Ponary (lit. Panerių memorialas), Foto: Jim G. Tobias