Heiße Luft

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Vor genau zehn Jahren gingen die Israelis gegen hohe Mieten und astronomische Lebenshaltungskosten auf die Straße. Wochenlang kampierten hunderte in Zelten auf dem Rothschild Boulevard in Tel Aviv und anderswo. Viel wurde damals von der Politik versprochen. Doch wie sieht es heute aus?

Von Ralf Balke

Am Anfang war der Hüttenkäse. Weil das Unternehmen Tnuva, das rund 70 Prozent des Marktes für Milchprodukte kontrolliert, dem in Israel überaus beliebten „Cottage“ im Juni 2011 einen saftigen Preisaufschlag verpasst hatte, platzte vielen Konsumenten der Kragen. Innerhalb weniger Tage fanden sich auf Facebook über 100.000 Israelis, die erklärten, das Unternehmen fortan boykottieren zu wollen. In den damals noch recht jungen sozialen Medien wurden zudem Einkaufsbons aus dem Ausland, vor allem aus Berlin, mit denen israelischer Supermärkte verglichen. Das öffnete manchem die Augen, man fühlte sich angesichts absurder Preise für ganz banale Produkte des Alltags schlichtweg über den Tisch gezogen. Auch die Tatsache, dass beispielsweise in Israel hergestellte Süßwaren in New York für fast ein Drittel weniger zu haben waren als im eigenen Land, sorgte für Verärgerung.

Doch Hüttenkäse, Schoko-Pudding oder Erdnussflips waren nicht die einzigen Probleme, die den Israelis damals zunehmend Kopfzerbrechen bereiteten. Im Sommer errichteten junge Menschen überall im Land sogenannte Zeltstädte, wo sie über Wochen hinweg für alle sichtbar auch lebten. Auf diese Weise wollten sie gegen die horrenden Mieten und explodierenden Wohnungspreise protestieren. Aber auch die astronomisch hohen Lebenshaltungskosten sollten fortan ein Thema sein. Dabei waren es nicht immer nur die Marginalisierten oder in prekären Verhältnissen lebenden Israelis, die auf die Straße gingen. Die Ängste vor dem sozialen Abstieg hatte längst auch die israelische Mittelschicht erreicht.Sie wurde zum Motor der Bewegung.

Am 6. August 2011 war denn auch der erste Höhepunkt dieser Sozialproteste. Hunderttausende gingen auf die Straßen. Allein in Tel Aviv wurden über 200.000 Teilnehmer gezählt, aber auch in Jerusalem, Kiryat Shmona, Ashkelon oder Eilat und Dimona kam es zu Kundgebungen. Bei dem „Marsch der Million“ am 3. September 2011 waren es noch einmal schätzungsweise 460.000 Personen, die sich daran beteiligten – die größte Demonstration in der israelischen Geschichte. Dann flauten die Proteste langsam aber sicher wieder ab. Denn die Regierung hatte Reformen versprochen und das sogenannte Trajtenberg-Komitee eingesetzt, das entsprechende Vorschläge ausarbeiten sollte.

All das ist nun genau zehn Jahre her. Grund genug zu fragen, was sich seither verändert hat. „Die Mieten sind seitdem weiter gestiegen“, lautete dazu kürzlich die Einschätzung von Stav Shaffir, einer der Protagonisten der Protestbewegung. „Vor allem der soziale Wohnungsbau, den man in den 1960er und 1970er Jahren noch als wichtig betrachtete, wurde weiter zurückgefahren. Heute ist fast jeder vom privaten Markt abhängig“, so die Aktivistin von einst, die erst bei der nicht sonderlich erfolgreichen Grünen Partei ihre politische Karriere begann, um dann 2013 für die Arbeitspartei in die Knesset zu ziehen, die sie aber im Juni 2019 wieder verlassen sollte, weil sie in einer Abstimmung um die Führung gegen das Histadruth-Urgestein und Ex-Verteidigungsminister Amir Peretz verlieren sollte. „Und der private Wohnungsmarkt ist weitestgehend unreguliert.“ Stav Shaffir selbst hatte 2017 eine Gesetzesinitiative auf den Weg gebracht, und zwar das sogenannte „Faire Mietgesetz“. Demnach müssen Wohnungen in einem „guten Zustand“ sein – was immer auch darunter zu verstehen ist. Reparaturen und Instandhaltungsarbeiten soll allein der Besitzer tragen. Auch dürfen Vermieter ihre Mieter nicht mehr so schnell rausschmeißen. Damit hoffte man, den rund zwei Millionen Israelis helfen zu können, die sich den Kauf einer Immobilie nicht leisten können und auf Mietwohnungen angewiesen sind.

Die Tatsache, dass es sechs Jahre brauchte, um so ein zahnloses Gesetz zu beschließen, sagt bereits einiges darüber aus, wie wenig die Sozialproteste eigentlich bewirkt hatten. Denn das Kernproblem, nämlich die unbezahlbar gewordenen Mieten, berührt es so gut wie gar nicht. Einen Mieterschutz, der diesen Namen verdient, existiert auch weiterhin kaum. Mietverträge werden fast immer auf Jahresbasis abgeschlossen. Das bedeutet, dass man im Regelfall nach zwölf Monaten bei Vertragsverlängerung mit einem ordentlichen Aufschlag rechnen muss. Zudem bleiben die Kündigungsfristen extrem knapp bemessen, oftmals lassen sich Mieter zum Ende eines Monats bereits vor die Tür setzen. Kurzum, das von Stav Shaffir initiierte „Faire Mietgesetz“ hat weder die Preisentwicklung bremsen können, noch den Mieterschutz wesentlich verbessert.

Mieten und Kaufpreise ziehen seit Jahren weiter munter an. Israel hat eine vergleichsweise junge Bevölkerung, die Geburtenrate ist hoch und es gibt Zuwanderung aus aller Welt. Auch das hat einen spürbaren Einfluss auf die Preisentwicklung. Nur hat diese in Israel eine ganz besondere Dynamik angenommen. Laut einem aktuellen Ranking des Magazins „The Economist“ ist Tel Aviv heute die fünftteuerste Stadt der Welt, und zwar noch vor New York oder Genf. Der Durchschnittspreis für eine familientaugliche Drei-Zimmer-Wohnung in der „Stadt, die niemals schläft“ liegt bei knapp 800.000 Euro, im übrigen Land bewegt sich dieser bei 440.000 Euro. Auch die durchschnittliche Miete für ein sogenanntes Studio, meist ein Euphemismus für ein heruntergekommenes Ein-Zimmer-Apartment, liegt laut Tal Kopel, Vizepräsident von Madlan, einer Online-Plattform für Immobilienangebote, bei rund 850 Dollar. Doch auch diese Preise sind mit Vorsicht zu geniessen. Ein Journalist der Nachrichtenagentur AFP, der kürzlich auf Wohnungssuche in Tel Aviv war, berichtete davon, dass sich die allermeisten Angebote für solche „Studios“ mittlerweile bei 1.550 Euro im Monat bewegten. Die Coronavirus-Krise hat daran kaum etwas geändert. Nur wollen jetzt noch mehr Singles in der Stadt wohnen, während es Familien eher in die Peripherie zieht.

Bei der Entwicklung der Preise für Lebensmittel sieht das Bild dagegen etwas differenzierter aus. Das jedenfalls behauptet Chen Herzog, Chefökonom bei der Consulting-Firma BDO Israel. Demnach wären diese seit 2011 insgesamt um lediglich 1,8 Prozent nach oben gegangen. Zum Vergleich: Im OECD-Durchschnitt betrug die Steigerung im Durchschnitt in diesem Zeitraum mehr als 16 Prozent. Auch seien die Gehälter in Israel seither um 30 Prozent gestiegen, was man berücksichtigen müsse. „Die Sozialproteste haben den Wettbewerb auf dem Markt für Lebensmittel in Israel beeinflusst“, lautet das Fazit von Herzog. „So wurde in den vergangenen zehn Jahren der Konzentrationsprozess in der Industrie verlangsamt. Zudem konnten wir den Eintritt neuer Anbieter sowie das Aufkommen von Handelsmarken beobachten. Der Druck der Verbraucher hatte ebenfalls einen Einfluss.“ Das mag alles stimmen. Nur hat Herzog nicht erwähnt, dass die Preise sich bereits 2011 auf einem extrem hohen Niveau bewegten, was diese auf den ersten Blick geringe Steigerung in einem anderen Licht erscheinen lässt. Auch ist die Einkommensentwicklung ebenfalls ein Durchschnittswert und spiegelt die Realität allenfalls bedingt wider.

Die seit 2005 bestehende Verbraucherschutzbehörde würde die Angaben von Chen Herzog ebenfalls so nicht unterschreiben. 2017 hatte sie bereits festgestellt, dass die Preise für Lebensmittel und nichtalkoholische Getränke gemessen an der Kaufkraft in Israel 37 Prozent höher als der OECD-Durchschnitt seien. Verglichen mit den Preisen in der EU sind es sogar 51 Prozent. Dafür nennt man landesspezifische Gründe: So ist die Konzentration im Bereich Lebensmittel und Konsumgüter im internationalen Vergleich ausgesprochen hoch. Die zehn größten Unternehmen beherrschen zusammen 54 Prozent des Marktes. Vier davon haben in den Segmenten Fleisch, Milch oder Fisch mehr als zehn Prozent Marktanteil. Allerdings wurde seit über 20 Jahren kein Anbieter mehr zum Monopolisten erklärt und deshalb belangt. .

Auch bei den Gehältern sieht das nicht so rosig aus, wie der BDO-Mann es darstellt. Nur wer im Hightech-Bereich oder anderen ohnehin gut bezahlten Jobs arbeitet, konnte einen realen Zuwachs verzeichnen. Bei der Mehrheit der Israelis dagegen dürfte dieser Trend jedoch spurlos vorbeigegangen sein, weil sie im Niedriglohnsektor beschäftigt sind. Und die Pandemie hat diese Kluft nur weiter vergrößert. So meldete das Statistikbüro dieser Tage für den April ein Minus von 6,9 Prozent bei den Durchschnittsgehältern, und zwar im Vergleich zum Vormonat. Wer ohnehin prekär auf dem Arbeitsmarkt unterwegs war, bekommt den Abschwung also noch deutlicher zu spüren als andere. Bei den Immobilienpreisen erkennt der BDO-Chefökonom dagegen die problematische Situation durchaus. So hätten sich diese in den vergangenen zehn Jahren um 52 Prozent nach oben bewegt, ohne dass ein Ende in Sicht sei. Das wäre im Vergleich zu Europa, wo diese um 22 Prozent zulegten, eine mehr als doppelt so hohe Steigerungsrate. Der Anstieg ist sogar noch auffälliger, wenn man bedenkt, dass die Immobilienpreise in Israel während der Finanzkrise 2008 eben nicht wie es anderswo in Europa oder den Vereinigten Staaten heruntergegangen waren.

Zehn Jahre nach den Sozialprotesten von 2011 sieht die Bilanz also eher finster aus. Die Situation ließe sich auf die Formel bringen, dass die Israelis im Durchschnitt Gehälter wie die Spanier verdienen, sich aber mit Lebenshaltungskosten wie in der Schweiz herumärgern müssen. Und die Empfehlungen des damals eigens eingesetzten Trajtenberg Komitees haben sich als heiße Luft erwiesen. Zwar hatte man Maßnahmen wie den Verkauf von Land im Besitz des Staates zu günstigeren Konditionen vorgeschlagen, um so den Neubau von Wohnungen günstiger zu machen, oder die Entflechtung von Monopolen wie in der Zementindustrie, die das Bauen ebenfalls teuer gestalteten. Auch sollte im Energiesektor mehr Wettbewerb geschaffen werden, um so die Ausgaben für Strom oder Gas zu reduzieren. Doch wirklich umgesetzt wurde kaum etwas davon. Die Coronavirus-Pandemie hat sich zudem als ein Verstärker der Probleme entwickelt, weil Lieferketten unterbrochen wurden, was die Preise weiter antrieb, oder viele Menschen arbeitslos wurden. Es dürfte wohl nur eine Frage der Zeit sein, bis sich erneut eine Protestbewegung formieren könnte. Inwieweit diese dann nachhaltige Erfolge hat, das steht natürlich auf einem anderen Blatt.

Bild oben: Zeltprotest am Rothschild Boulevard, 21. Juli 2011, Foto: Itzuvit, CC BY-SA 3.0