Abseits der Fleischtöpfe

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In der neuen Acht-Parteien-Koalition, die in Israel die Amtsgeschäfte übernehmen soll, sind erstmals seit Jahren keine Parteien der Ultraorthodoxen vertreten. Ihre Spitzenpolitiker reagieren darauf sehr ungehalten…

Von Ralf Balke

An dramatischer Rhetorik fehlte es ihnen nicht. Die Rede ist von Aryeh Deri, Moshe Gafni sowie Yaakov Litzman, den drei Spitzenkräften von Vereintes Torah-Judentum und Shass. Den Anfang machte Deri, der angesichts der Tatsache, dass am Sonntag aller Wahrscheinlichkeit nach die Acht-Parteien-Koalition die Amtsgeschäfte von Benjamin Netanyahu übernehmen wird, in einer gemeinsamen Pressekonferenz am Dienstag mit Tränen in den Augen erklärte: „Der jüdische Staat ist in Gefahr. Die Religion wird aus dem Staat herausgerissen“, so der Shass-Frontmann. „Die neue Regierung ist dabei, die jüdische Identität und den Charakter des Staates, der unser Zusammenleben ermöglicht, zu zerstören.“

Gafni, Vorsitzender der Partei Vereintes Torah-Judentum, legte noch eine Schippe drauf, in dem er verkündete, dass „der Name des Bösartigen verrotten“ soll. Gemeint war damit Naftali Bennett, der gemäß des in der „Wechsel-Koalition“ ausgehandelten Rotationsverfahrens als erster Ministerpräsident werden wird. „Wir werden zum Himmel und zur Erde schreien….gegen das Verhalten dieses Mannes, der angeblich eine Kippa trägt.“ Dritter im Bunde war Litzman, gegen den gerade ein Verfahren eingeleitet wurde, weil er die Ermittlungen gegen eine Schulleiterin, der sexueller Missbrauch von Kindern vorgeworfen wird, behindert haben soll. Auch er wetterte gegen Bennett: „Was ist der Unterschied zwischen ihm und einem Goy? Er trägt zwar eine Kippa, aber ich fordere ihn auf, sie abzunehmen. Es ist schon eine große Chuzpe, dass er eine Kippa trägt. Jeder soll verstehen, dass er ein Reformjude ist.“

Dabei ist es nicht das erste Mal, dass die Parteien der Haredim nicht in einer Regierung sitzen. Das geschah breits einmal zwischen 2001 und 2006, als der Ministerpräsident Ariel Sharon hiess. Und sogar zwischen 2013 und 2015 im dritten Kabinett von Netanyahu brauchte man sie nicht. Trotzdem ging die ultraorthodoxe Welt nicht unter. Warum also jetzt diese geradezu hysterischen Ausfälle? „Vielleicht, weil dieses Mal die Abwesenheit von Vereintem Torah-Judentum und Shass von der Koalition die Schuld von Deri, Gafni und Litzman selbst ist“, lautet dazu die Einschätzung von Nahum Barnea in Yedioth Ahraronot. „Bennett, Tikva Hadasha-Chef Gideon Sa’ar und auch ihr Knesset-Abgeordneter Zeev Elkin, sie alle hatten sie geradezu angebettelt, der Regierung beizutreten. Aber man weigerte sich beharrlich und glaubte lieber Netanyahu, als er ihnen sagte, dass er Überläufer aus der neuen Koalition in der Tasche habe und die neue Regierung niemals zustande kommen würde.“ Sie hatten also schlichtweg auf das falsche Pferd gesetzt und keinen Plan B für den Fall entwickelt, dass der Ministerpräsident eben nicht Netanyahu heißt.

Es gibt aber auch weitere Gründe, warum Vereintes Torah-Judentum und Shass gerade so ungehalten reagieren. Da sind an allererster Stelle die Untersuchungen zu nennen, die im Zusammenhang mit dem Unglück am Mount Meron stehen, bei dem Ende April 45 Menschen zu Tode kamen – das größte zivile Unglück in der Geschichte Israels. Eine Untersuchungskommission ist bis heute noch nicht ins Leben gerufen worden, weil man sich nicht auf die Modalitäten einigen konnte. Also verschleppte man das Ganze lieber. Denn eine genaue Analyse der Ursachen für die Katastrophe würde sehr wahrscheinlich Ergebnisse hervorbringen, die den politischen Vertretern der Haredim überhaupt nicht gefallen – schließlich war Mount Meron, immerhin nach der Klagemauer der am zweithäufigsten besuchte religiöse Ort in Israel, längst zu einer Art exterritorialer Zone mutiert, in der ultraorthodoxe Sekten über Jahre hinweg Veranstaltungen nach ihren ganz eigenen Spiegelregeln organisiert hatten. Und sobald die Polizei Sicherheitsbedenken zur Sprache brachte, wurden sie von Vertretern von Vereintem Torah-Judentum sowie Shass zum Schweigen verdonnert oder ihre Warnungen schlichtweg ignoriert. Genau das funktioniert nun nicht mehr.

Auch der neue Mann an der Spitze des Finanzministeriums ist den Haredim ein Dorn im Auge, nämlich Avigdor Lieberman. Seit Jahren bereits positioniert sich der Vorsitzende von Israel-Beitenu als Verteidiger eines säkularen Israels, um abseits seiner überwiegend russisch-stämmigen Anhängerschaft neue Wählerschichten zu erschließen. In den Koalitionsverhandlungen schon hatte er deshalb angekündigt, Sozialleistungen für Ultraorthodoxe zusammenzustreichen und ihren Schulen die Mittel zu kürzen, wenn nicht auch „weltliche“ Fächer wie Mathematik oder Englisch auf dem Lehrplan stehen. Sogar der Vorsitz des wichtigen Finanzausschuss in der Knesset geht nach über zehn Jahren in der Hand eines haredischen Parlamentariers jetzt an einen Israel-Beitenu-Mann. Da sehen Gafni, Deri und Litzman ihre Felle wegschwimmen. Und anders als Bennett oder Yair Lapid, die immer wieder betont hatten, dass Shass oder Vereintes Torah-Judentum als Koalitionspartner durchaus willkommen seien und die Türen weiterhin offen blieben, schloss Lieberman jegliche Zusammenarbeit mit diesen Parteien kategorisch aus. „Es ist nicht möglich, dass die Ultraorthodoxen der Regierung beitreten können“ erklärte er am Donnerstag auf einer Fraktionssitzung von Israel-Beitenu. „Jeder, der behauptet, dass sie mit an Bord geholt werden können, täuscht sich selbst und andere.“ Und schon am Dienstag hatte Lieberman angekündigt, nicht nur die Gründung einer Mount-Meron-Untersuchungskommission voranzutreiben, sondern ebenfalls die Öffnung des Bereichs vor der Klagemauer für andere jüdische Strömungen außer denjenigen der Haredim zu unterstützen.

Kurzum, die Ultraorthodoxen sehen ihr Monopol in Fragen des Personenstands, der Vorschriften zu Schabbat oder der Kaschrut, das sie über Jahre hinweg auch mit Hilfe von Netanyahu ausbauen konnten, nun in Gefahr. Dabei mussten sie nicht einmal mit einem Regierungswechsel konfrontiert werden, damit dies alles nun zur Disposition gestellt wird. Schon lange herrschte in Israel großer Unmut über die Gängelungen der von ihnen dominierten Instanzen, angefangen vom Oberrabbinat bis hin zu dem von Shass über Jahre hinweg dominierten Innenministerium. Vor allem aber das Verhalten ihrer rabbinischen Autoritäten in Zeiten von Corona, die Ignoranz gegenüber allen Vorschriften – sogar Gesundheitsminister Yaakov Litzman von der Partei Vereintes Torah-Judentum missachtete sie in aller Öffentlichkeit – hat selbst unter vielen traditionell oder religiös eingestellten Israelis zu einer Entfremdung geführt. Und die Verbalinjurien gegen Bennett werden Yamina und andere Parteien eher darin bestärken, Veränderungen, die auf einen Machtverlust der Haredim hinauslaufen, in Angriff zu nehmen und durchzuwinken. „Nun, nachdem Gafni, Deri und Litzman alle Brücken ohnehin zerstört haben, scheint es möglich, dass die Liberalisierung des religiösen Lebens in Israel einen Schritt näher gerückt ist“, bringt es der Kommentator Jeremy Sharon in der Jerusalem Post auf den Punkt. In Yedioth Aharanoth ergänzt Yuval Karni: „Mit ihren Angriffen auf Bennett haben die politischen Führer der Haredim einmal mehr gezeigt, wie weit sie sich von der israelischen Gesellschaft abgekoppelt haben. Den Vorwürfen, sich als einige Autoritäten in allen Fragen der Religion aufzuspielen, wurden sie damit ein Stück weit gerecht.“

Es sind aber nicht nur die Haredim, die Schwierigkeiten mit einem Wechsel an der Spitze in der Politik haben. Auch Noch-Ministerpräsident Netanyahu sorgte für reichlich Irritationen, weil er plötzlich vom „tiefen Staat“ schwadroniert und vom „Betrug des Jahrhunderts“ spricht. „Sie entwurzeln das Gute und ersetzen es durch das Schlechte und Gefährliche“, sagte er diese Woche dem TV-Kanal 20. „Ich fürchte um das Schicksal der Nation.“ Bennett hätte die Stimmen der Rechten quasi gekapert und sie den Linken nun zur Verfügung gestellt. Offensichtlich hat sich Netanyahu „noch nicht mit dem Gedanken anfreunden“ können, dass er die Macht nun abgeben müsse, glaubt Yaron Avraham, politischer Kommentator von TV-Kanal 12. Die Abgeordneten seiner Partei wäre da schon deutlich weiter. „Netanyahu kämpft immer noch. Er hofft weiterhin, dass im letzten Moment doch noch etwas schief gehen wird, bevor die Acht-Parteien-Koalition endgültig am Sonntag vereidigt wird. Er setzt darauf, dass es einen weiteren Avichai Chikli geben könnte.“ Gemeint ist damit der Abgeordnete von Yamina, der gesagt hat, dass er gegen die neue Regierung stimmen werde. „Er hat einfach noch nicht aufgegeben.“ Ferner glaubt Avraham, dass Netanyahu keinerlei Absicht habe, der Politik den Rücken zuzukehren, wenn die neue Regierung erst einmal im Amt sein sollte. „Er wird in die Opposition gehen. Und ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich eine feierliche Zeremonie geben wird, wenn er die Macht an den designierten Premierminister Naftali Bennett übergibt.“

Sogar Likud-Urgestein Limor Livnat ist von dem Verhalten des Ministerpräsidenten mehr als nur irritiert. „Selbst in dem Moment, in dem das Ende seiner Amtszeit näher rückt, lässt der Likud-Vorsitzende keine Sekunde ungenutzt und lässt weiter seine letzten Getreuen und Speichellecker von der Leine, damit sie auf seine Gegner verbal einprügeln und dem vergifteten Diskurs, den er geschaffen hat, neue Nahrung zu geben.“ Der Mann, der in der Vergangenheit betonte, dass kein Ministerpräsident mehr als zwei Amtszeiten die Regierungsgeschäfte leiten sollte, kann jetzt nicht die Zügel loslassen. Aber zugleich ist sie optimistisch: „Israel hat es vor Benjamin Netanyahus Aufstieg gegeben und das Land wird auch weiter existieren, wenn er endgültig von der politischen Bühne verschwunden ist.“

Foto: Vertreter des Vereintes Torah-Judentum bei den Konsultationen zur neuen Regierungsbildung bei Präsident Rivlin. Die Partei empfahl Netanyahu als Premierminister , 5. April 2021, (c): Mark Neyman / GPO. CC BY-SA 3.0