„Manche seiner späteren Auftritte im hohen Alter waren herzzerreißend“

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Dorothea Steinlechner-Oberläuters Biografie über den Psychoanalytischen Pädagogen Rudolf Ekstein

Von Roland Kaufhold

Rudolf Ekstein, 1912 in Wien als Kind einer jüdischen Familie geboren, ist hierzulande nahezu unbekannt. Das könnte verwundern. Immerhin hat der amerikanische Psychoanalytiker weit über 400 größtenteils englischsprachige Studien vorgelegt. Die Salzburger Ekstein-Biografin Dorothea Steinlechner-Oberläuter legte 1985 eine biografisch-werktheoretische Studie über diesen linken, von Bernfeld und Anna Freud geprägten Psychoanalytischen Pädagogik vor, mit Schwerpunkt auf sein sozialistisch-antifaschistisches Engagement im Wien der 1930er Jahre. Kennengelernt hatte sie Ekstein als Studentin in Wien und Salzburg, beeindruckt war sie von seiner Kreativität und seiner Persönlichkeit. Nun ist das umfassende, gründlich erarbeitete Werk in einer aktualisierten, erweiterten Version neu aufgelegt worden. Eine spannende, lehrreiche Lektüre!

© Daniel Benveniste

Die Wiener Pädagogen Datler und Gstach steuern eine Einführung – überschrieben mit „Stationen eines Lebens zwischen den Welten“ – bei. Ekstein habe mittels seiner zahlreichen Vorträge „eine Atmosphäre des Nachdenkens und Nachspürens, die von einem tiefen Verstehen komplexer Theorien, historischer Zusammenhänge und menschlicher Schicksale“ geprägt war, geschaffen. Auch Steinlechner-Oberläuter beschreibt Eksteins sehr aus dem Rahmen fallende Fähigkeit, seine eigenen Verfolgungs- und Emigrationserfahrungen mit seiner in den USA weiter entwickelten psychoanalytischen und pädagogischen Kompetenz zu verknüpfen. Auch heute noch sei der 2005 in Los Angeles Verstorbene„in vielen Erinnerungen als Mensch präsent“. Eksteins breitgefächerten psychoanalytischen, pädagogischen, kindertherapeutischen und philosophischen Theorien seien hingegen „nicht in gleichem Maße in Erinnerung geblieben.“

Ekstein schlug durch seine zahlreichen Vorträge in Österreich und Deutschland als Gastprofessor – in den Jahren von 1970 – 1996 – immer wieder wissenschaftliche und biografische Brücken zu seiner Wiener Vergangenheit in den 1920er und 1930er Jahren. Seine auch von der Fachliteratur zur Emigrationsforschung nur unzureichend gewürdigte Position als Widerständler, Pädagoge und Philosoph in Wien und dann ab 1938 in den USA, wohin er als Jude und Untergrundaktivist geflohen war, wird eindrücklich und detailgetreu beschrieben. Es gelang Ekstein als Nicht-Mediziner, sich in seiner neuen amerikanischen Heimat – anfangs bei der Menninger Foundation und später in Los Angeles –als bald hoch angesehener Psychoanalytiker zu etablieren.

Insbesondere das Vorbild der zionistisch-sozialistischen Wiener Psychoanalytischen Pädagogen Siegfried Bernfeld und Willi Hoffer inspirierte Ekstein. Er besuchte ab 1935 den psychoanalytischen „Pädagogenkurs“: „Da war eine Reihe von unglaublichen Lehrern!“ Ekstein engagierte sich anfangs in der sozialistischen Jugendbewegung, später dann bei den Roten Falken und beim kommunistischen Jugendverband – der ihn 1937 wegen eines an Wilhelm Reichs Theorien orientierten Untergrundflugblattes ausschloss.

Einen weiteren Schwerpunkt seiner vielfältigen Interessen bildete seine Leidenschaft für philosophische Fragen, worüber Ekstein 1937 unter dem Titel „Zur Philosophie der Psychologie“ promovierte.

Eksteins Neuanfang in den USA war von einem, im Rückblick betrachtet, kometenhaft anmutenden beruflichen Aufstieg begleitet, was im Buch ausführlich rekonstruiert wird. Von 1947 – 1958 arbeitete er an der renommierten Menninger Clinic in Topeka, legte mehrere Hundert psychoanalytische und klinische Studien vor.

Von 1958 bis 1978 folgte am Reiss-Davis Child Study Center in Los Angeles eine intensive Forschungs- und Behandlungsphase mit dem Schwerpunkt autistisch-psychotischer Kinder, für die er den Begriff „Grenzfallkinder“ wählte. Ekstein entfaltete hierbei eine eigene, leidenschaftliche Sprache. Steinlechner-Oberläuter verweist zutreffend darauf, dass bis heute eine Studie „zur Rezeption und Wirkungsgeschichte von Eksteins Autismus- und Borderlinetheorien“ noch ausstehe.

Ekstein arbeitete über Jahrzehnte in den USA und Österreich eng mit Sozialarbeitern und Lehrern zusammen, in Fortführung der von ihm besuchten Lehrgänge für Psychoanalytische Pädagogen in Wien.

In der Studie nur am Rande erwähnt wird Eksteins enger Austausch mit seinem gleichfalls in Los Angeles lebenden Analysanden, dem Psychoanalytiker David James Fisher. Intensiviert wurde dieser Austausch durch Fishers tiefgründige Studien über Bruno Bettelheim in dessen letzten Lebensjahren. Bettelheim wusste von Fishers Beziehung zu Ekstein. Fishers aus seiner Beziehung zu Ekstein erwachsenen Bettelheim-Studien erschienen 2003 auf deutsch (Fisher 2003) sowie 2008 auch auf englisch (Fisher 2008). Leider im Buch nicht erwähnt wird das Tiefeninterview zwischen dem amerikanischen Psychoanalytiker Daniel Benveniste mit Rudolf Ekstein (Benveniste 1998), in dem sich der seinerzeit 86-jährige Ekstein an seiner Wiener Jahre und seine Prägung durch die Wiener Psychoanalyse, durch Bernfeld, Hoffer, Aichhorn, Edith Buxbaum, Eduard Kronengold und Anna Freud erinnert („I came to psychoanalytic training with this mixture of socialist ideas and ideas about the soul of the person and I discovered that I wanted to be a teacher but a teacher who understands the psychology of the child, a teacher who can think psychoanalytically.“ (Benveniste 1998); aber auch an seine eigene Flucht („So I escaped as a philosopher and a psychologist“) und an seinen Neuanfang in den USA.

Die Autorin hat ein von eigenen Begegnungen mit diesem außergewöhnlich kreativen und produktiven Psychoanalytiker, Pädagogen und Widerständler geprägtes Werk vorgelegt, das gut zu lesen ist: „Im Zuge der Beschäftigung mit dem Buchprojekt sind meine eigenen Erinnerungen an Ekstein wieder lebendig geworden“, bemerkt die Autorin. Und fügt hinzu: „Ich möchte sie gerne zur Verfügung stellen, da nun auch ich – so stelle ich mit einem gewissen Erstaunen fest – Zeitzeugin geworden bin.“

Dorothea Steinlechner-Oberläuter: Rudolf Ekstein. Psychoanalytiker – Pädagoge – Philosoph. Biografische Einblicke und theoretische Grundkonzepte. Edition Tandem, Salzburg-Wien 2021, 340 S., 22 Euro, Bestellen?