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Rudolf Ekstein (1912 - 2005):
"Wiener mit amerikanischem Pass"

Vor 70 Jahren, am 22.12.1938, floh der Wiener Psychoanalytiker und Pädagoge Rudolf Ekstein in die USA

Von Roland Kaufhold

 "I am very glad that the application of psychoanalysis to education has such a good friend in you.”
Anna Freud in einem Brief an Rudolf Ekstein (29.12.1969)[1]

 "Eine Vorbedingung eines guten Erziehers ist, dass er genügend über sich weiß, genügend über die Gesellschaft weiß und über das Kind weiß, dass er aber trotzdem in sich eine Art Kindlichkeit bewahrt hat.”
Rudolf Ekstein, 1978 (in: Kaufhold 2001, S. 135)

"Als es mir im Sommer 1938 gelang zu flüchten und ein neues Leben im Ausland zu beginnen, war ich voller Angst und Wut. Aller Widerstand war vergebens gewesen. Der Kampf gegen den Faschismus, seit 1934 sogenannter illegaler Widerstand, war verloren. Ich mußte weg, aber nicht nur als Jude, sondern auch als Illegaler, als Widerstandskämpfer. Ich war ein junger Mann und versprach mir, ich würde nie wieder zurückkommen, ich würde nie wieder Deutsch sprechen. Deutsch war für mich die Sprache der Unterdrücker, der Hakenkreuzler."


© Daniel Benveniste

Diese Erinnerungen an seine 50 Jahre zurückliegende Vertreibung aus Wien stammen von Rudolf Ekstein, einem der bedeutendsten Pioniere der Psychoanalytischen Pädagogik (s. Kaufhold 1993, 2001, Wagner 2002). Vorgetragen hat er sie 1987 auf dem großen Wiener Kongress "Vertriebene Vernunft" (Ekstein 1987, S. 472), an welchem Ekstein gemeinsam mit seinen aus Wien vertriebenen Berufskollegen und Freunden Bruno Bettelheim, Ernst Federn und Else Pappenheim teilnahm. Bei seiner Emigration aus Wien war der junge, von Sigmund Freud und Siegfried Bernfeld psychoanalytisch geprägte Intellektuelle 26 Jahre alt. Alles musste er hinter sich lassen: Seine Sprache, seine Heimat, seine Freunde, seine politischen Überzeugungen, seine Familie – der größte Teil seiner Familie wurde von den Nationalsozialisten ermordet. 1936 hatte Rudolf Ekstein seine Promotion zum Thema "Zur Philosophie der Psychologie" an der Wiener Universität noch abzuschließen vermocht, am 6.3.1937 machte er sein Rigorosum. Ein Jahr später, im Sommer oder Herbst 1938, floh er aus Wien, zuerst nach England, dann in die USA, wo er am 22. Dezember 1938 ankam - und die seine zweite Heimat werden sollte.

Der 70. Jahrestag seiner Ankunft in den USA: ein Anlass, sich an das Leben und Wirken dieses charmant-kreativen "Wieners mit amerikanischem Pass", so seine ironische Selbstbeschreibung, zu erinnern. Rudi Ekstein verstarb vor gut drei Jahren in Los Angeles (s. Kaufhold 2005).

Der Rudi aus Los Angeles

"Ich bin´s, der Rudi aus Los Angeles." Eine typische Bemerkung für Rudolf Ekstein, den liebenswert-optimistischen Pionier der Psychoanalytischen Pädagogik. Mit diesen Worten stellte sich Rudolf Ekstein dem damaligen österreichischen Bundeskanzler Franz Vranizky vor, als er 1992 anlässlich des Ottokringer 1. Mai-Zugs auf der Ehrentribüne Platz nahm. Damals war er bereits 80 Jahre alt, und immer noch reiste er regelmäßig, für gut zwei Monate, als Gastprofessor und Supervisor von Los Angeles nach Wien und Salzburg, gelegentlich auch in die Bundesrepublik. 1961 war er erstmals wieder privat nach Wien gereist, und 1970 wurde er offiziell als Gastredner der Freud-Vorlesung der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (WPV) eingeladen.

Seitdem ist er, gemeinsam mit seiner griechischstämmigen Frau Ruth, nahezu jährlich nach Wien gereist, im Oktober 1995 erhielt er von der Wiener Universität ein Ehrendoktorat – anlässlich dessen Verleihung an der Wiener Universität antisemitische Töne zu vernehmen waren. Jeweils rechtzeitig zum 1. Mai kam er an, und kehrte dann wieder vor dem 4. Juli, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag, nach Los Angeles zurück. Diesen Festtag verbrachte er im Kreis seiner amerikanischen Freunde, darunter zahlreiche jüdischen Emigranten aus Österreich, in seinem Haus in Los Angeles, Santa Monica. In der 10-Millionen-Stadt leben etwa 400.000 Juden.

Jugend und Studium der Freudschen Psychologie

Geboren wurde Rudolf Ekstein am 9.2.1912 als Kind jüdischer Eltern im Wien Sigmund Freuds, das ihn prägte, und zwar in der im 9. Bezirk gelegenen Nußgasse. Der Vater war Buchhalter, die Mutter starb bald nach seiner Geburt. Als Kleinkind wurde er daher der Obhut einer katholischen Frau übergeben, die er als liebevolle "Ersatzmutter" in Erinnerung hatte. Und doch vermittelte sie ihm früh das Bewusstsein seiner "Andersartigkeit": "Rudi, a so schena Bua bist. Möcht ma gar nett glaubn, dass d’ a Jud bist", bemerkte sie gelegentlich.

In einem Gespräch mit Herlinde Koelbl (1989, S. 57) kennzeichnete Ekstein seine Einstellung zum Judentum später so: "Mein Vater hatte eine gewisse Beziehung zum Judentum. Er hat als kleiner Bub im Tempel im Chor gesungen. Meine eigene Beziehung zum Judentum war schon recht abstrakt. (...) In der Schule hatten wir dann jüdischen Religionsunterricht. Als Siebzehnjähriger habe ich eine Matura-Arbeit über "Soziale Probleme bei den Propheten" geschrieben. Dabei habe ich versucht, eine marxistische Erklärung des Wirkens der Propheten zu geben. In Wien waren wir damals alle Sozialisten und haben uns nicht um die Religion des einen oder anderen gekümmert."

60 Jahre nach dieser Abiturarbeit fügte er hinzu: "Ich glaube, die Sorgen, die wir heute haben, werden auch die Sorgen der nächsten jüdischen Generation sein. In dieser Hinsicht sehe ich keine wirkliche Veränderung. Jeder von uns weiß, dass wir in einer gefährlichen Welt leben. Jeder Tag belehrt uns, dass immer noch Aggression und Gewalt regieren, daran wird sich noch lange Zeit nichts ändern. (...) Als ich sechzehn Jahre alt und Sozialist war, hatte ich einen zionistischen Freund. Wir beide stritten uns unaufhörlich. In einem Schulaufsatz schrieb ich, dass sich weder Zionismus noch Sozialismus in ihrer reinen Form jemals verwirklichen lassen werden. Aber ich fügte hinzu, dass etwas anderes viel wichtiger sei. Wenn man ein anständiger Mensch ist, müsse man eine Utopie haben. Man brauche Zielvorstellungen, auch wenn in der Zeitung nur Schreckensnachrichten stünden. In diesem Sinne bin ich Utopist geblieben. Alles, was Sie in meinem Haus sehen, sind aufgelesene Bruchstücke von Utopie." (in: Koelbl 1989, S. 59, Kaufhold 2001, S. 99)

Eksteins Interesse für eine Verbindung zwischen Pädagogik und Psychoanalyse wurde durch ein frühes Erlebnis geprägt: Nach einem mehrmonatigen Krankenhausaufenthalt musste er als 13-jähriger aufgrund der Vorstellung eines Lehrers die Schule verlassen. Sein Vater stand jedoch hinter ihm und ließ ihn weiter zur Schule gehen. Diese Erfahrung, dass sich auch schwierige Aufgaben bewältigen lassen, wenn man Unterstützung erhält, begleitete ihn nun auf seinem weiteren Lebensweg: Er hatte sich aufgelehnt, wegen einer Erkrankung ungerecht behandelt zu werden, und wurde in kurzer Zeit der beste Schüler der Klasse. Er gab schwächeren Kindern Nachhilfe und engagierte sich für benachteiligte Kinder. Sein Berufswunsch stand fest: Er wollte Lehrer werden – ein besserer Lehrer als derjenige, der ihn die Klasse hatte wiederholen lassen.

Zeitgleich begeisterte er sich für den Sozialismus, ein Engagement, dem er bis ins hohe Alter treu blieb. Ekstein engagierte sich in der sozialdemokratischen Falken-, Mittelschüler- und Studentenbewegung. Er identifizierte sich mit Max Adler wie mit Siegfried Bernfeld, der der jungen psychoanalytisch-pädagogischen Reformbewegung entscheidende Impulse geliefert hatte. Bereits als junger Psychoanalytiker hatte Bernfeld (1892-1953) in Wien und später auch in Berlin große Wertschätzung gefunden. Er war im Mai 1918 Assistent von Martin Buber beim österreichischen Jugendtag und wurde im gleichen Jahr Präsident der jüdischen Jugend Österreichs sowie Herausgeber der Zeitschrift Jerubbaal. 1919 hatte er gemeinsam mit dem Psychoanalytiker Wilhelm Hoffer – der ebenfalls in der zionistischen Bewegung engagiert war – das Kinderheim Baumgarten gegründet, ein pädagogisches Modellprojekt, in dem 240 jüdische Kriegswaisen betreut wurden. Für Bernfeld war dies der Mikrokosmos einer modernen jüdische Erziehung, ein "erstes Experiment, psychoanalytische Prinzipien auf die Erziehung anzuwenden", wie Anna Freud bemerkte (vgl. Kaufhold 2008a).

Eine der bereits von Bernfeld formulierten grundlegenden Ideen der durch den Faschismus ins Exil vertriebenen, somit historisch-kulturell entwurzelten Psychoanalytischen Pädagogik formulierte Ekstein folgendermaßen:

"Bernfeld spricht davon, daß der Erzieher gegen zwei Grenzen der Erziehung ankämpfen muß, die kaum zu meistern sind. Da ist nun die Grenze der Gesellschaftsordnung, die es dem Erzieher unmöglich macht, sein Ziel zu erreichen. Dann spricht Bernfeld über die zweite Grenze, das Unbewußte des Kindes, ein Hindernis, das der Erzieher nicht überwinden kann. Es ist, als ob der Erzieher gegen zwei Feinde ankämpfen müsse: die ungünstige Ordnung oder gar Unordnung der Gesellschaft und die Hindernisse des Unbewußten im Kinderleben." (Ekstein 1973, in Kaufhold 2001, S. 122)

Oder, mit anderen Worten formuliert: Nur der Pädagoge, der sowohl die gesellschaftlich vorgegebenen als auch die durch seine eigene Biographie, sein eigenes Unbewusstes gesetzten Grenzen nüchtern anzuerkennen vermag, der seine eigenen Ideale immer wieder mit den konkreten Rahmenbedingungen seines sozialen Feldes zu verbinden vermag, kann auf Dauer seelisch gesund und kreativ im pädagogischen Feld arbeiten.

Wie für viele jüdische Reformpädagogen, die damals nach Palästina emigrierten, blieb  Bernfeld auch für Ekstein ein Vorbild, an dem er sich zeitlebens orientierte und an dessen Wirken er in zahlreichen englisch- und deutschsprachigen Publikationen erinnerte (s. Kaufhold 2001, S. 120-124, S. 295-298, Kaufhold 2008): "Der Siegfried Bernfeld war, was soll ich sagen, eine Art frecher Revolutionär", so Ekstein in einem Interview im Jahre 1992 (Kaufhold 2001, S. 274). Und: "Der eindrucksvollste psychoanalytische Schriftsteller war für mich Siegfried Bernfeld" (Oberläuter 1985, S. 244).

Ekstein hatte in Wien Psychologie studiert und begeistert die Schriften von Sigmund Freud, Siegfried Bernfeld, August Aichhorn, Wilhelm Hoffer und Anna Freud gelesen. Er besuchte den neugegründeten Ausbildungskurs für Psychoanalytische Pädagogik und begann seine analytische Ausbildung bei Eduard Kronengold. Zugleich nahm er Kontakt zu konkreten pädagogisch-psychoanalytischen Projekten auf.

Politischer Widerstand und Kampf im Untergrund

Der Jude Rudolf Ekstein war intensiv im antifaschistischen Widerstand gegen die Nationalsozialisten engagiert gewesen, zuerst bei den sozialistischen Mittelschülern, den  "Roten Falken" und den Kinderfreunden, dann bei der Arbeiterpartei. Nach den Februarkämpfen 1934 trat der 22-jährige aus Protest gegen die zögerlich-unentschlossene Haltung der Mehrheitssozialdemokraten aus der Arbeiterpartei aus und dem illegal operierenden Kommunistischen Jugendverband (KJV) bei: "Man hat mit der Phantasie gelebt, man müsste siegen und dann die andere Partei vernichten. (...) Wir glaubten an volle Macht" (Oberläuter 1985, S. 85, Kaufhold 2001, S. 101) beschrieb Ekstein 50 Jahre später die damalige Situation. Der psychoanalytisch geschulte Rudolf Ekstein war an der Verteilung von Flugblättern und der theoretischen Schulung der Mitglieder engagiert, hielt Vorträge über die "Grundlagen des Marxismus" und nahm an "illegalen" Wehrübungen im Wienerwald teil.

Einer seiner engen Freunde war damals Christian Broda, der spätere österreichische Justizminister. Dieser bat ihn in den 1960er Jahren vergeblich, er möge doch nach Wien zurückzukehren. Eksteins Familie war nicht zu diesem Schritt bereit. Aus dem Kreis der Wiener Psychoanalytischen Pädagogik ist später einzig Ernst Federn nach Wien remigriert.

1937 veröffentlichte Ekstein in einer Untergrundzeitung einen von Wilhelm Reichs Gedankengut beeinflussten Aufsatz zur "Sexualpolitik des Faschismus", in welchem er sich für eine sexuelle Aufklärung und Befreiung einsetzte. Ekstein wurde – vergleichbar dem tragischen Schicksal Wilhelm Reichs (s. Fallend/Nitzschke, 1997) – 1937 (!) aus dem Kommunistischen Jugendverband ausgeschlossen. Er erlebte diesen Ausschluss als "ein merkwürdiges Schicksal, daß man mehr von den eigenen (Leuten) rausgeschmissen wird, als von den anderen." (Oberläuter 1985, S. 37) Nach einer anfänglich optimistischen Phase wurde ihm die Gefährdung Österreichs zunehmend bewusster: "Es war Leuten wie mir ziemlich klar, daß wir gegen eine Verlustsituation ankämpften. Aber man hat ja nicht aufgeben können, nicht?" (Oberläuter 1985, S. 33). Und: "Damals lebten wir schon in einer Zeit, in der man nicht recht wußte, wie lange man noch in Österreich leben kann, bis man flüchten muß. Werde ich mit dem Doktorat fertig werden?" (Ekstein 1992, S. 127).

Nach mehrmaligen Festnahmen und einem mehrwöchigen Gefängnisaufenthalt floh Ekstein im Sommer oder Herbst 1938 über Belgien und England – wo er am 27.10.1938 noch einmal Anna Freud traf – in die USA. Er nahm zwei Koffer voller Bücher mit, darunter elf Bände der "Zeitschrift für Psychoanalytische Pädagogik", Bernfelds "Sisyphos" und Thomas Manns "Über den kommenden Sieg der Demokratie", ein "kleines, aber unvergeßliches Büchlein" (Ekstein). Diese Bücher hat Ekstein zeitlebens aufbewahrt. Er zeigte sie voller Stolz seinen zahlreichen europäischen Besuchern, denn sie waren für ihn der geistige Besitz seiner ersten Heimat, ein Symbol des Widerstands, der inneren Ungebrochenheit und der psychischen Kontinuität.

Das Glück seiner Emigration sollte die Tiefe seines (auch privaten) Verlustes jedoch nicht verdecken. Gegenüber Koelbl (1989, S. 57) hob er hervor: "Die einzige Person, die ich retten konnte, war mein Vater. Mein Onkel und seine katholische Frau sind in Wien krank und ohne Verpflegung zugrunde gegangen. Alle anderen mir bekannten Verwandten – mit Ausnahme von zwei älteren Damen, die ich noch getroffen habe – sind umgekommen. Ich weiß nicht, wo."

New York, Boston und Los Angeles

Eksteins weiterer beruflicher Weg in den USA sei hier (s. Kaufhold 2001) nur kurz skizziert: Er ließ sich zunächst in New York nieder und erlangte, durch Vermittlung einer Flüchtlingshilfeorganisation, bei New Hampshire eine Stelle als Lehrer. In dieser Flüchtlingsorganisation waren amerikanische Kollegen tätig, die einige Jahre zuvor nach Wien gekommen waren, um die junge psychoanalytisch-pädagogische Aufbruchbewegung vor Ort kennen zu lernen (vgl. Kaufhold 2003). Zwei Jahre lang arbeitete er dort, weitgehend unentgeltlich, und vermochte in der Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen seine Englischkenntnisse zu verbessern. Schrittweise vermochte er sich so in seine ihm noch sehr fremde, neue Heimat einzuleben, sich seelisch neu zu orientieren. In dieser Anfangszeit wurde der jüdische Flüchtling und Widerständler, der selbst nur mit großem Glück der Schoah entronnen war, von starken Schuldgefühlen gepeinigt: "Man lebte in den ersten Monaten immer mit dem entsetzlichen Schuldgefühl, dass man selbst gerettet ist und andere Leute umkommen lässt", erinnerte er sich Jahrzehnte später in einem Interview mit dem Wiener Dokumentationsarchiv für Widerstand DÖW.

Wenige Wochen nach seiner Ankunft veröffentlichte Rudolf Ekstein in einer amerikanischen Fachzeitschrift seinen ersten englischsprachigen Aufsatz, in welchem sich sein ungebrochenes pädagogisch-politisches Engagement sowie seine Hoffnung auf das demokratische Amerika widerspiegelte: "A refugee Teacher Looks on Democratic and Fascist Education". Der Emigrant Ekstein bemerkt:

"So sehr wir uns auch bemühten, in meinem kleinen Land in Mitteleuropa den Faschismus zu verhindern und die Demokratie wiederherzustellen – wir hatten keinen Erfolg. Es mag daher abwegig erscheinen, wenn ein Flüchtling nach dem Untergang der Freiheit in Österreich über demokratische und faschistische Erziehung in Amerika schreibt, dieser Hochburg der persönlichen Freiheit und der Hoffnung der gesamten fortschrittlichen Welt. Wir wenigen Glücklichen aus einer unüberschaubaren Anzahl von Flüchtlingen und Gefangenen müssen unser Versagen eingestehen. Es ist uns nicht gelungen, in unserer Heimat die Kultur, die Glaubensfreiheit, die Freiheit der politischen Meinung (...) zu verteidigen." (Ekstein 1994, S. 138) Und er endet mit den Worten: "Ich bin sehr glücklich darüber, an einer amerikanischen Schule zu arbeiten, und ich bin besonders froh darüber, dass diese Schule ein Interesse an fortschrittlicher Erziehung hat. (...) Ich werde mein Bestes geben, um den Weg der Demokratie zu gehen. (...) Meine Hoffnung ist Amerika!" (in: Kaufhold 2001, S. 107f.)

Ekstein absolvierte dann in Boston eine Ausbildung als social worker und beendete bei dem Wiener Emigranten Eduard Hitschmann seine Lehranalyse. Von 1947 bis 1957 leitete er an der legendären psychoanalytischen Menninger Foundation ein Forschungsprojekt für psychotische und sogenannte Grenzfallkinder. Durch diese wissenschaftliche und pädagogisch-therapeutische Tätigkeit erlangte er in der internationalen Fachöffentlichkeit hohes Ansehen. Seine Forschungsergebnisse fasste Ekstein (gemeinsam mit R. Wallerstein) in dem Buch "The teaching and learning of Psychotherapy" (1958) zusammen. Als seine zehnjährige Tätigkeit bei der Menninger Foundation beendet war, berichtete sogar die lokale Tageszeitung darüber: "Ekstein to Leave Menningers Soon". Von 1958-1978 setzte Ekstein dann an der Reiss-Davis Klinik in Los Angeles seine psychoanalytisch-pädagogische Tätigkeit sowie die Zusammenarbeit mit Lehrern und Sozialarbeitern fort. Ekstein wurde von einer Vielzahl amerikanischer psychoanalytischer Institute ausgezeichnet.

Seine aus der klinischen Praxis erwachsene Produktivität war enorm. Sie umfasst ca. 500 Studien und Rezensionen. 1963 erschien der Beitrag "Psychoanalyse und Erziehung - Vergangenheit und Zukunft", die Publikation, in welcher erstmals nach dem Krieg in deutscher Sprache an die Vernichtung der Psychoanalytischen Pädagogik durch den Nationalsozialismus erinnert wurde; 1966 publizierte Ekstein in den USA seine Forschungen zur kindlichen Psychose in dem Buch "Children of Time and Space, of Action and Impulse: Clinical Studies on the Psychoanalytic Treatment of Severely Disturbed Children"; 1969 erschien der psychoanalytisch-pädagogische Sammelband "From Learning for Love to Love of Learning"; 1973 kam auf deutsch endlich das Buch "Grenzfallkinder" heraus, eine Sammlung von Arbeiten zur Milieutherapie mit psychisch schwerkranken Kindern. 1976 folgte auf englisch "In Search of Love and Competence"; 1994 in deutscher Sprache eine Auswahl der klinischen und pädagogischen Studien Eksteins (Wiesse 1994). 1985 (Oberläuter) und 2001 (Kaufhold) wurden umfangreiche biografisch-werktheoretische Studien über sein Wirken publiziert.

Freundschaft mit Bruno Bettelheim

In jenen Jahren wurde Bruno Bettelheim der engste Freund und Kollege Eksteins, mit dem er nach einem Forschungsaufenthalt in Israel Mitte der 1960er Jahre dessen legendäre Kibbuzstudie "Die Kinder der Zukunft" (Bettelheim 1969) liebevoll-kritisch diskutierte. Ihre enge Freundschaft und Zusammenarbeit ist in ihrem Briefwechsel dokumentiert (in: Kaufhold 1994; s. Kaufhold 2001, 2003a).


Rudi Ekstein (li), seine Frau Ruth, Bruno Bettelheim
@
Roland Kaufhold, Psychosozial-Verlag

Dem alten und kranken Bettelheim bot er 1989 an, in seinem Haus zu wohnen. Bettelheim, dem posthum in vielfacher Hinsicht sehr viel Unrecht angetan worden ist (s. Ekstein 1994, Kaufhold 1993, 2001, 2003a, Fisher 2003), zog dieses Angebot nicht ernsthaft in Erwägung. Er nahm sich im Januar 1990 das Leben, eine Tat, die auch als späte Reaktion auf seine elfmonatige Gefangenschaft in Dachau und Buchenwald verstanden werden kann. Kurz zuvor hatten Ekstein und Bettelheim noch ein letztes dokumentiertes Gespräch über ihr Leben sowie die Geschichte der Psychoanalyse geführt (Bettelheim/Ekstein 1994). Eksteins Erinnerungsbeitrag "Mein Freund Bruno (1903-1990). Wie ich mich an ihn erinnere" an  Bettelheim (Ekstein 1994), sein gemeinsames Interview mit Ernst Federn über Bettelheim (Kaufhold 1993a) wie auch der publizierte Briefwechsel zwischen beiden (in Kaufhold, 1994) gehören für mich zu Eksteins anrührendsten Beiträgen.

Ein Besuch in seinem Haus in Los Angeles hinterlässt tiefe Erinnerungen, die auch 13 Jahre später in mir nicht verblassen: Es war ein beeindruckendes österreichisch-amerikanisches Museum zur Geschichte der Psychoanalyse, ein Zeugnis der vertriebenen europäischen Kultur. Eine Begegnung mit Rudi Ekstein bildete immer einen Anlass für köstliche, anrührende Anekdoten. Daniel Benveniste, ein früher in San Francisco und heute in Caracas, Venezuela tätiger Psychoanalytiker, hat mir nach Rudi Eksteins Tod eine für Eksteins Persönlichkeit kennzeichnende Episode erzählt:

"In 1995 I brought Rudi and his wife to San Francisco where he delivered a public lecture on his reminiscences of psychoanalysis in Vienna. There were three other speakers in the symposium, which I had organized, and I prepared signs in the parking lot to reserve spaces for their cars. At the end of the event I asked my friend and colleague, Dr. Jeff Sandler, if he could give the Ekstein’s a ride to their hotel. He readily agreed and afterward told me that on their way out of the parking lot Rudi saw the sign again that read 'This Space Reserved for Rudolf Ekstein' and he asked Jeff to stop and take the sign for him. Rudi’s wife, exasperated with him, cried out, 'Rudi! Where are you going to put a thing like that?' (Remember his house is full of diplomas and honorary degrees.) Rudi paused a moment and said, 'Over my bed!'"[2]

Am 18. März 2005 ist Rudi Ekstein von uns gegangen. Zehn Tage später, am 1.4.2005, verstarb seine Ehefrau Ruth, mit der er seit 1942 verheiratet war. Sie hinterlassen zwei Kinder, Jean und Rudolf, die beide in den USA als Lehrer arbeiten, sowie ein Enkelkind. In der Los Angeles Times erschien am 23. März ein Nachruf, in welchem unter anderem eine Aussage Eksteins über die enge Freundschaft mit Bettelheim zitiert wird: "We always had a wonderful time together. I treasure every hour. (...) Neither of us was a ‘yes’ man. If you have a friend who always agrees, for what do you have the friendship?"

Wir haben Rudi Ekstein, der aus einer untergegangenen, märchenhaft-nostalgisch verklärten Ära stammte, sehr viel zu verdanken. Unsere Erinnerung an diesen lieben, charmanten, kreativen, wienerisch-nostalgischen, unverbesserlich optimistischen Mann wird in uns lebendig bleiben.

In Wien, dies bleibt noch nachzutragen, erinnert heute das psychoanalytisch-pädagogische Rudolf Ekstein Zentrum an sein jahrzehntelanges unermüdliches Wirken. Sein umfangreicher Nachlass wird in einer am Institut für Bildungswissenschaft, NIG (Universitätsstraße 7, 1010 Wien) angeschlossenen Bibliothek aufbewahrt und – hoffentlich - auch aufgearbeitet.

Dieser Nachruf wurde der TRIBÜNE. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums, 44. Jahrgang, Heft 174, Nr. 2/2005, S. 92-96 entnommen und für diese Publikation überarbeitet und erweitert. Wir danken dem Tribüne-Verlag herzlich für die Nachdruckrechte.


© Daniel Benveniste

Literatur

Benveniste, D. (1992): Siegfried Bernfeld in San Francisco. Ein Gespräch mit Nathan Adler. In: Fallend/ Reichmayr (Hg.) (1992), a.a.O., S. 300-315.

Benveniste, D. (1998): A bridge between psychoanalytic worlds: a dialog with Rudolf Ekstein, Psychoanalytic Review, 85 (5), October 1998, S. 675–96.

Bettelheim, B. & Ekstein, R. (1994): Grenzgänge zwischen den Kulturen. Das letzte Gespräch zwischen Bruno Bettelheim und Rudolf Ekstein. In: Kaufhold, R. (Hg.) (1994), S. 49-60.

Ekstein, R. (1936): Zur Philosophie der Psychologie. Eine philosophische Untersuchung in Anschluß an Th. Ziehens "Die Grundlagen der Psychologie". Dissertation, Wien.

Ekstein, R. (1939/1994): Demokratische und faschistische Erziehung aus der Sicht eines Lehrers und Flüchtlings – Oktober 1939. In: Wiesse, J. (Hg.) (1994): S. 138–151.

Ekstein, R., & Motto, E. L. (1963): Psychoanalyse und Erziehung – Vergangenheit und Zukunft. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 12 (6), S. 213–233.

Ekstein, R. (1966): Children of Time and Space, of Action and Impulse: Clinical Studies on the Psychoanalytic Treatment of Severely Disturbed Children. New York.

Ekstein, R., & Motto, R. L. (1969): From learning of love to love of learning. New York.

Ekstein, R. (1973): Grenzfallkinder. München.

Ekstein, R., & Cooper, B. (1973a): Der Einfluß der Psychoanalyse auf Erziehung und Unterricht. In: Ammon, G. (Hg.) (1973): Psychoanalytische Pädagogik. Hamburg, S. 35–55.

Ekstein, R. (1973b): Dialog über Sexualität: Distanz gegen Intimität. In: Ammon, G. (Hg.) (1973): Psychoanalytische Pädagogik. Hamburg, S. 124–137.

Ekstein, R. (1976): In Search of Love and Competence. New York.

Ekstein, R. (1987): Die Vertreibung der Vernunft und ihre Rückkehr. In: Stadler, F. (Hg.) (1987): Vertriebene Vernunft I. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft 1930–40. München-Wien, S. 472–477.

Ekstein, R., Fallend, K., & Reichmayr, J. (1988): "Too late to start life afresh". Siegfried Bernfeld auf dem Weg ins Exil. In: Stadler, F. (Hg.) (1988): Vertriebene Vernunft II. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft 1930–40. Wien-München, S. 230-241.

Ekstein, R. (1989): Grußwort anläßlich des 10jährigen Bestehens des Vereins für psychoanalytische Sozialarbeit e.V., psychosozial 12, Heft 37, S. 13–17.

Ekstein, R. (1992): Philosophiestudieren in den dreißiger Jahren. In: Fischer, K. R., & Wimmer , F. M. (Hg.) (1992): Der geistige Anschluß. Philosophie und Politik an der Universität Wien 1930–1950, Wien.

Ekstein, R. (1994): Mein Freund Bruno (1903-1990). Wie ich mich an ihn erinnere. In: Kaufhold, R. (Hg.) (1994): Annäherung an Bruno Bettelheim, S. 87-94 (Beim Autor für 12 € erhältlich).

Ekstein, R., & Fisher, D. J. (1994a): Offener Brief an »Newsweek«. In: Kaufhold (Hg.) (1994): S. 300–302.

Fallend, K./Nitzschke, B. (Hg.) (2002): Der 'Fall' Wilhelm Reich. Beiträge zum Verhältnis von Psychoanalyse und Politik. Giessen.

Fisher, D. J. (2003): Psychoanalytische Kulturkritik und die Seele des Menschen. Essays über Bruno Bettelheim unter Mitarbeit von Roland Kaufhold et. al. Gießen (Psychosozial-Verlag).

Kaufhold, R. (Hg.) (1993): Pioniere der Psychoanalytischen Pädagogik: Bruno Bettelheim, Rudolf Ekstein, Ernst Federn und Siegfried Bernfeld. psychosozial Heft 53 (I/1993), 16. Jg.

Kaufhold, R. (1993a): Zur Geschichte und Aktualität der Psychoanalytischen Pädagogik: Fragen an Rudolf Ekstein und Ernst Federn. In: Kaufhold (Hg) (1993), S. 9–19.

Kaufhold, R. (1994): Material zur Geschichte der Psychoanalytischen Pädagogik: Zum Briefwechsel zwischen Bruno Bettelheim und Rudolf Ekstein. In: Kaufhold (Hg.) (1994): Annäherung an Bruno Bettelheim. Mainz (Beim Autor für 12 € erhältlich).

Kaufhold, R. (Hg.) (1999): Ernst Federn: Versuche zur Psychologie des Terrors. Material zum Leben und Werk von Ernst Federn. Gießen (Psychosozial-Verlag).

Kaufhold, R. (2001): Bettelheim, Ekstein, Federn: Impulse für die psychoanalytisch-pädagogische Bewegung, Gießen (Psychosozial-Verlag).

Kaufhold, R. /Lieberz-Groß, T. (Hg. 2001a): Deutsch-israelische Begegnungen, psychosozial Nr. 83,  Heft 1/2001.

Kaufhold, R. (2003): Spurensuche zur Geschichte der die USA emigrierten Wiener Psychoanalytischen Pädagogen, in: Aichhorn, T. (Hg.) (2003): Geschichte der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung I. 1938 - 1949, Luzifer-Amor, 16.  Jg., Heft 31, 2003, S. 37-69.

Kaufhold, R. (Mthg.) (2003a): "So können sie nicht leben" - Bruno Bettelheim (1903 – 1990). Zeitschrift für Politische Psychologie 1-3/2003.

Kaufhold, R. (2005): "... denn es ist ja die Beziehung, die heilt." Erinnerungen an den psychoanalytischen Pädagogen Rudolf Ekstein (9.2.1912 - 18.3.2005), Kinderanalyse, 13. Jg., Heft 3/2005, S. 341-347.

Kaufhold, R. (2008a): Siegfried Bernfeld - Psychoanalytiker, Zionist, Pädagoge. Vor 55 Jahren starb Siegfried Bernfeld, in: TRIBÜNE, Nr.  185 (H. 1/2008), S.178-188.

Kaufhold, R. (2008b): "Das Leben geht weiter". Hans Keilson, ein jüdischer Psychoanalytiker, Schriftsteller, Pädagoge und Musiker, in: Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis (ZPTP), Heft 1/2-2008, S. 142-167.

Koelbl, H. (1989): Rudolf Ekstein. In: Koelbl, H. (1989): Jüdische Porträts. Frankfurt/M., S. 57-60.

Oberläuter, D. (1985): Rudolf Ekstein - Leben und Werk. Kontinuität und Wandel in der Lebensgeschichte eines Psychoanalytikers. Wien-Salzburg.

Pelinka, P. (1992): Der rote Rudi. In: Falter, 27/1992, S. 10f.

Wagner, R. (2002): Psychoanalytische Pädagogik – ein Gespräch zwischen Roland Kaufhold und Rolf Wagner. In: "Fragen und Versuche" Nr. 100, Juli 2002 (Zeitschrift der Freinet-Pädagogen).

Wiesse, J. (Hg.) (1994): Rudolf Ekstein und die Psychoanalyse. Göttingen.

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Anmerkungen:
[1] Privatarchiv von Roland Kaufhold, s. Kaufhold 2001, S. 274.
[2] Persönliche Mitteilung von Daniel Benveniste per e-mail, 31.3.2005.

haGalil.com 17-12-2008

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