Das Wühlen in den Gedärmen

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Minka Pradelskis Roman Es wird wieder Tag trägt (zu) dick auf…

Rezension von Karl-Josef Müller

Wie Wasser sucht sich die Erinnerung ihren Weg. Wir sind, was wir in der Zeit und durch die Zeit geworden sind; in unserer Lebenszeit, aber auch in all den Jahren, Jahrzehnten und selbst Jahrhunderten vor unserer Geburt.

Erinnerungen können sich derart aufdrängen, dass sie einen dauerhafteren Platz einfordern als bloß in unserem Gedächtnis. Denn dieses wird mit uns sterben, und damit unsere Erinnerungen.

Unterschieden werden muss zwischen persönlichen Erinnerungen wie solche an die eigene Kindheit, die erste Liebe, oder den Tod der Eltern. Schön oder schmerzhaft sind solcherart Erinnerungen, doch unterscheiden sie sich fundamental von Ereignissen, die einen Menschen aufgrund ihrer unvorstellbaren Gewalt und Brutalität aus jeder noch so sicher scheinenden Bahn werfen.  

„Meine Mutter hatte mir gesagt, als die Judenverfolgungen in Polen begannen, habe sie das Gefühl gehabt, als hätte sich die Nacht herabgesenkt. Mein neues Buch handelt von der Zeit unmittelbar nach der Befreiung. Deswegen habe ich es Es wird wieder Tag genannt – weil es wieder der Neubeginn des Lebens war.“ (https://www.juedische-allgemeine.de/

Minka Pradelski hat nach eigenen Angaben mehrere Jahre für ihren Roman über das Schicksal einer jungen jüdischen Familie im Frankfurt der frühen Nachkriegsjahre recherchiert. In einem Radiointerview erläutert die Autorin die Absichten ihres Romans. Nach dem Pogrom im polnischen Kielce im Jahr 1946 kam es zu einer „gigantischen Fluchtbewegung aus Polen“, Ziel war der Westen. Die meisten der ehemaligen KZ-Häftlinge kamen in DP-Lagern unter, so auch die Eltern von Minka Pradelski in Frankfurt-Zeilsheim.

Deutschland wurde „ zum Wartesaal der Überlebenden“, doch kam es in Frankfurt-Zeilsheim auch zu einem kleinen „Aufblühen der jüdischen Kultur.“ Pradelski selbst wurde 1947 in diesem Lager geboren, ihr Roman geht allerdings über eine autobiografische Nacherzählung ihrer eigenen Herkunft hinaus. Offen muss bleiben, welche Romanteile unmittelbar auf ihre Recherchen zurückgehen und welche sie frei erfunden hat.

Tatsache ist, dass die Lagerinsassen auf Schritt und Tritt sowohl früheren Mitläufern wie auch Tätern des NS-Regimes über den Weg laufen konnten. Klara, verheiratet mit Leon und vor wenigen Monaten Mutter eines Sohnes geworden, erkennt bei einem Spaziergang Liliput, die sie im Lager als Aufseherin gequält hat. Die Begegnung wirft die junge Frau aus der Bahn, sie vernachlässigt ihr Kind und ist nicht mehr dazu in der Lage, den Alltag zu bewältigen. Doch Leon, ihr Mann, weist ihr den Weg, das Trauma zu überwinden: „‘Schreibe, Klara, schreibe. Bann das Böse auf das Papier! Fessele es mit deinen Worten! Verpass Liliput den Todesstoß!‘“ Einige Seiten vorher hatte Leon eine radikalere Lösung in Aussicht gestellt: „‘Ich organisiere ein Paar Jungens, wir lauern ihr auf und schlagen sie tot!‘“

Die beiden Zitate verweisen auf das Grundproblem dieses Romans. Drei Ausrufezeichen im ersten, eines am Ende des zweiten Zitats – die Autorin mag es expressiv, die leisen Töne und zarte Schattierungen sind ihre Sache nicht. Und das, so müssen wir leider sagen, verleidet dem Leser die Lektüre. Klara erklärt sich schließlich bereit, ihr Schicksal aufzuschreiben, doch Bärel, der Säugling, soll beim Schreiben in seiner Wiege neben ihr liegen, womit Leon zunächst nicht einverstanden ist. Doch Klara setzt sich durch: „‘Das Kind schläft bei mir, während ich schreibe. Ich muss wissen, für wen ich mir die Gedärme aufreiße.‘“

weiter leben lautet der Titel, den die kürzlich verstorbene Ruth Klüger ihren Erinnerungen gegeben hat. Ohne sich die Gedärme aufzureißen gelingt es Klüger, das Leben und Überleben in Auschwitz zu schildern – soweit ein literarischer Text dies überhaupt vermag. Gleiches ließe sich über Primo Levis Erinnerungen Ist das ein Mensch? sagen. Minka Pradelski hingegen bevorzugt die große Emotion. Das wirkt, so müssen wir leider sagen, eher plump als wahrhaftig.

Und auch die Konstruktion des allwissenden Säuglings Bärel will uns nicht einleuchten. Er wirkt auf uns wie ein verunglückter Oskar Matzerath, der Deutung der Rezensentin Rita Obermann können wir uns nicht anschließen:

„Klaras und Leons Sohn ist der dritte Protagonist und zweifelsohne die literarische Hauptfigur des Romans. Die besondere Gestaltung des dritten Protagonisten ist dem Thema des Romans geschuldet. Trotzdem ist der Sohn mehr als nur ein künstlerisches Stilmittel. Vor allem der Wahrheit wird ein großer Tribut gezollt. Der Sohn ist ein richtiger kleiner Mensch, nicht, wie häufig in der älteren Literatur, ein ahnungsloses Übergangsglied zwischen Engel und Mensch. Weder ist er entwicklungslos noch total infantil wie z. B. der physisch abstoßende Oskar Matzerath. Das Gegenteil ist der Fall: Der Bromberger-Sohn ist ein Individuum. Er etabliert seine sinnstiftende Biographie als Stütze und Begleiter seiner Mutter.“ (https://faustkultur.de/)

„Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe sich kein Gedicht mehr schreiben. Nicht falsch aber ist die minder kulturelle Frage, ob nach Auschwitz noch sich leben lasse, ob vollends es dürfe, wer zufällig entrann und rechtens hätte umgebracht werden müssen.“

Auf den ersten Blicke scheint Adorno radikale Frage Minka Pradelski Recht zu geben in dem Sinne, dass die Autorin sich darum bemüht, dem Leid und dem Trauma ihrer Hauptfigur Klara Ausdruck zu verleihen. Und es mag Leser geben, die genau dies von einem Buch erwarten, das sich die Aufgabe stellt an das zu erinnern, vor dem es einem eigentlich die Sprache verschlagen müsste. Laut muss ein solches Buch sein ob seines Anspruchs, die Dinge beim Namen zu nennen. Doch wenn es stimmt, dass es Celans Todesfuge war, die Adorno dazu veranlasste, sein ursprüngliches Verdikt gegen Gedichte nach Auschwitz zu revidieren, dann stellt sich die Frage, ob der so expressive wie klischeehafte Stil von Minka Pradelski dem Anspruch gerecht werden kann, dem Leiden der Gemarterten eine Stimme zu geben.

Mit unserer Kritik an diesem Roman stehen wir wohl ziemlich allein auf weiter Flur. Und deshalb wollen wir an dieser Stelle nochmals auf die Quelle verweisen, die dem Buch große Sympathien entgegenbringt, eben das oben bereits erwähnte Gespräch mit der Autorin, das der Hessische Rundfunk unmittelbar vor dem Erscheinen des Romans geführt hat.

Minka Pradelski: Es wird wieder Tag. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2020, 384 Seiten, Hardcover, ISBN 9783627002770, 24 €, als Hörbuch ISBN 9783627022877, 15,99 €, Bestellen?