Bibis nächster Bettvorleger?

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Gute Freunde waren Benjamin Netanyahu und Gideon Sa’ar schon lange nicht mehr. Doch nun verlässt er den Likud und gründet unter dem Namen „Neue Hoffnung“ seine eigene Partei. Damit reiht sich Sa’ar in die Phalanx der Ex-Weggefährten des Ministerpräsidenten, die ihm nun den Thron streitig machen wollen…

Von Ralf Balke

Dienstag war es so weit. Likud-Urgestein Gideon Sa’ar verkündete seinen Austritt aus der Partei und erklärte zugleich, dass er in den kommenden Wahlen mit einer eigenen Gruppierung an den Start gehen will. „Neue Hoffnung“ soll seine Neugründung heißen. Programmatisch lässt sie sich irgendwo in dem Spektrum von Mitte bis Mitte-Rechts verorten, und das genau dürfte bereits ein Problem sein. Denn als weiterer Likud-Klon, der sich in zentralen Punkten wie der Zwei-Staaten-Lösung oder der Siedlungspolitik überhaupt nicht vom Original unterscheidet und außer den üblichen Versprechungen auch wenig Neues zu den brennenden sozialen und wirtschaftlichen Problemen im Angebot hat, kann man nur mit einem einzigen Argument punkten, und zwar nicht Netanyahu zu sein. „Der Likud war meine politische, und bis zu einem gewissen Grad auch meine emotionale Heimat“, hatte Sa’ar am Dienstagabend gegenüber der Presse in einem ersten Statement verlauten lassen. „Aber in den vergangenen Jahren hat der Likud zunehmend und in dramatischer Weise seine Richtung verändert. Die ganze Partei ist zu einem Werkzeug geworden, das allein den Interessen des Ministerpräsidenten zu dienen hat, und das betrifft ebenfalls das Gerichtsverfahren gegen ihn.“

Damit reiht sich Sa’ar in die Phalanx ehemaliger politischer Weggefährten und Verbündeter des Ministerpräsidenten ein, die ihn vom Thron stoßen wollen, darunter Avigdor Lieberman, Naftali Bennett oder Yair Lapid, um nur einige zu nennen. Zudem wird es im zentristisch-nationalistischen Lager langsam eng, wenn eine weitere Partei um die Wählergunst in genau diesem Segment buhlt. Denn mittlerweile tummeln sich rechts von der Arbeiterpartei, Meretz und der Vereinten Arabischen Liste neben der Neuen Hoffnung als Newcomer auch noch Blau-Weiß, Yesh Atid-Telem, Israel-Beitenu, Yamina und HaBeit-HaYehudi, die alle mehr oder weniger die gleiche Klientel im Auge haben. Die politischen Vertreter der Orthodoxie in dieser Auflistung bleiben außen vor, sie haben ganz eigene Interessen und der Rechtsaußenableger Otzma Yehudit ist bereits als kahanistische Gruppierung bereits extremistisch zu nennen.

Gute Chancen, in die Knesset zu kommen, hat Gideon Sa’ar auf jeden Fall. Im Likud zählte er ohne Zweifel stets zu den Schwergewichten. Auch hatte der frühere Erziehungs- und Innenminister bereits im Herbst 2019 zum innerparteilichen Putsch aufgerufen. Er selbst wollte den Likud-Vorsitz übernehmen, twitterte damals „Ich bin bereit dazu“. Als Argumente führte er die Probleme an, die dem Amtsinhaber Netanyahu aufgrund der gegen ihn laufenden Prozesse im Amt drohen würden, sowie die Tatsache, dass man schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr im Likud darüber abgestimmt hätte, wer die Partei eigentlich führen sollte. Das sei zutiefst undemokratisch, so Gideon Sa’ar. Bei der von ihm initiierten Abstimmung am 26. Dezember 2019 unterlag er aber deutlich. Nicht einmal ein Viertel stimmte für ihn. Es blieb also bei Netanyahu als neuen und alten Vorsitzenden. Gideon Sa’ar ist jedoch weiterhin populär und sein Abgang könnte den Likud einige Stimmen kosten. Das zeigen bereits die ersten Meinungsumfragen, die unmittelbar nach der Bekanntgabe am Dienstag erstellt wurden. Demnach käme Neue Hoffnung aus dem Stand heraus auf 15 bis 21 Sitze in der Knesset. Der Likud müsste ordentlich Federn lassen und könnte aktuell nur noch 25 bis 28 Abgeordnete entsenden.

Während Oppositionsführer und Yesh Atid-Telem-Vorsitzender Yair Lapid den Schritt des Likud-Abtrünnigen begrüßte und erklärte, dass man „zwar zu vielen Themen unterschiedlicher Auffassung ist, aber die israelische Politik vernünftige und mutige Akteure braucht, die sich nicht vor der Autorität und Korruption klein beigeben“, kam aus den Reihen seiner alten Partei nur Spott und Häme. „Auch unser Freund Moshe Kahlon hat den Likud schon mal verlassen, nur um hinterher einer Likud-Regierung anzugehören und zur Partei zurückzukehren“, so Knesset-Sprecher Yariv Levin. „Andere haben den Likud ebenfalls schon mal den Rücken gekehrt, so wie Tzipi Livni. Sie haben das Vertrauen der Öffentlichkeit schnell verloren und fanden sich außerhalb der Knesset wieder.“

Damit trifft der Knesset-Sprecher einen wunden Punkt. In der Tat ist Gideon Sa’ar nicht der erste Politiker, der es mit Netanyahu aufnehmen wollte, anfänglich mit reichlich Vorschusslorbeeren bedacht wurde und in allen Meinungsumfragen hoch gehandelt wurde. Der letzte hieß Benny Gantz. Der ehemalige Generalstabschef erklärte anfänglich, niemals unter einem Ministerpräsidenten ein Amt übernehmen zu wollen, knickte dann ein und musste erleben, dass sich Netanyahu an keine einzige Absprache mit ihm halten sollte, sondern ihn quasi am Nasenring durch die politische Arena zog. Gantz gilt seither bei den Israelis als wortbrüchig und ohne Rückgrat. Seine Aussichten, jemals Ministerpräsident zu werden, dürften nach dem Abenteuer große Koalition daher gleich Null sein. Gideon Sa’ar läuft in Gefahr, ein ähnliches Schicksal ereilen. Auch er startet wie einst Gantz als Tiger und könnte in einigen Monaten ebenso als Bibis Bettvorleger enden, wenn er nicht aufpasst.

Und wie so üblich, beginnt nun erst einmal das „Wer wechselt zu wem-Spiel?“ der israelischen Politik, das immer sofort einsetzt, sobald Neuwahlen vor der Tür stehen. Langsam aber sicher formieren sich die ersten Listenbündnisse. Die beiden Ex-Telem-Abgeordneten Zvi Hauser und Yoaz Hendel, die seit März 2020 als Derech Eretz-Minipartei in der Knesset sitzen, haben Gideon Sa’ar bereits ihre Unterstützung signalisiert. Auch die Likud-Abgeordnete Yifat Shasha-Biton, die sich mit Netanyahu aufgrund seines katastrophalen Coronavirus-Krisenmanagements überworfen hatte, könnte ihnen bald folgen. Zudem sind alle Augen auf Gadi Eisenkot gerichtet – ebenfalls ein ehemaliger Generalstabschef wie Gantz, Gabi Ashkenasi oder Moshe Ya’alon. Er liebäugelt gleichfalls mit einer zweiten Karriere, diesmal in der Politik. Es bleiben nur die Fragen: Macht Eisenkot seinen eigenen Laden auf, beispielsweise gemeinsam mit Tel Avivs beliebten Bürgermeister Ron Huldai, der nun auch Ambitionen signalisierte, in die große Politik einzusteigen und der bereits allein laut Umfragen womöglich zehn Knesset-Sitze erobern könnte, oder schließt er sich einer anderen Liste an? Und wenn ja, welcher? Wirft er sein politisches Gewicht in die Waage der Bibi-Gegner? Vor allem Yair Lapid scheint ihn gerade sehr zu umgarnen. Ohne Zweifel, eine Person wie Eisenkot, der in der Bevölkerung ein recht hohes Ansehen geniesst, wäre für jede Partei ein nicht zu unterschätzender Zugewinn im kommenden Kampf um die Wählerstimmen.

Termin für den Urnengang dürfte aller Wahrscheinlichkeit der 16. März 2021 werden, ein Datum, das Netanyahu weniger gefallen könnte, je länger die Coronavirus-Krise sich hinzieht. Denn die Politik zur Bewältigung der Pandemie wird von den meisten Israelis aus den unterschiedlichsten Gründen als desaströs beurteilt. Laut der sozialen Hilfsorganisation Latet stieg der Anteil der israelischen Haushalte, die sich wirtschaftlich in der Schieflage befinden, von 24,1 auf 38,6 Prozent. Die Zahl der Familien, die jetzt unterhalb der Armutsgrenze leben, legte um 29,3 Prozent zu, und zwar von 582.000 auf 850.000. Die Wirtschaftskrise, die sich rapide vergrößernde soziale Kluft und die Unfähigkeit der Verantwortlichen, die versprochene Hilfe all denen zukommen zu lassen, die sie brauchen, dürften nun wohl eher die dominanten Themen im Wahlkampf werden als der Frieden mit den Vereinten Arabischen Emiraten, Bahrain und dem Sudan oder jetzt auch mit Marokko, wie es Netanyahu gerne hätte.

Wähler, die von Netanyahus Pandemie-Krisenmanagement enttäuscht sind, werden wohl eher dazu neigen, weiterhin für eine Mitte-Rechts-Partei zu stimmen statt für eine Mitte-Links-Gruppierung. Genau diesen Trend spiegeln die jüngsten Meinungsumfragen auch alle wider. Demnach wären Ex-Verteidigungsminister Naftali Bennett und Ex-Justizministerin Ayelet Shaked die großen Profiteure einer solchen Wanderungsbewegung. Statt aktuell mit fünf Abgeordneten, würde ihre Yamina-Partei auf zwölf bis 19 Sitze kommen. Interessanterweise mussten sie ein wenig Federn lassen, nachdem Gideon Sa’ar seinen Ausstieg aus dem Likud verkündet hatte. Davor lagen sie bei sogar bis zu 25 Sitzen. Avigdor Liebermans Israel-Beitenu-Partei konnte dagegen nur minimale Zugewinne verzeichnen. In den jüngsten Umfragen lag er bei bis zu acht Sitzen, nicht viel mehr als die sieben, die er in der aktuellen Knesset hat. Yair Lapid mit seiner zentristischen Yesh-Atid-Telem-Liste käme statt derzeit 17 Abgeordneten auf nur noch zwölf bis 16. Großer Verlierer in diesem Wettbewerb der zentristischen und rechten Parteien wäre aber Benny Gantz mit seiner Blau-Weiß-Partei, die sich mehr als halbieren würde: zwischen sechs und sieben Sitzen statt derzeit 14.

Den ewigen Ministerpräsidenten Netanyahu könnten sie nur dann beerben, wenn sich alle von ihnen zu einer Koalition zusammenraufen würden und gegebenenfalls noch eine orthodoxe Partei oder eine aus dem Spektrum Mitte-Links mit an Bord holen. Und wer dann die Rolle des neuen Regierungschef übernehmen soll, das stände gleichfalls noch in den Sternen. Nur so viel ließe sich bereits heute sagen: Eine stabile Koalition wäre diese Zweckbündnis aus sechs Parteien und mehr wohl kaum. Dafür ist das Ego aller Protagonisten zu ausgeprägt, als dass sie sich ohne größere Konflikte auf Kompromisse einlassen und sich auf einen Kandidaten einigen würden. Und da ist noch der gewiefte Taktiker Netanyahu, der dem einen oder anderen aus dieser Riege womöglich ein verlockendes Angebot machen könnte, um dieses Bündnis bereits im Vorfeld zu Fall zu bringen. Denn wenn die vergangenen drei Wahlen eines gezeigt haben: Immer wenn es für ihn besonders eng wird, ist Netanyahu für eine Überraschung gut. Das sollte auch ein Gideon Sa’ar wissen. 

Foto: Gideon Sa’ar, 2018, (c) Ziv Koren (זיו קורן), Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International license