So kocht man in Wien

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Die Geschichte eines „arisierten“ Bestsellers…

Von Monika Halbinger

1935 erschien im Münchner Ernst Reinhardt Verlag das Buch „So kocht man in Wien“, das schnell zu einem beliebten Bestseller avancierte. Eine Karriere als Kochbuchautorin war der 1886 geborenen Wienerin Alice Urbach aber nicht unbedingt biographisch vorbestimmt. Ihr Vater Sigmund Mayer war noch im Pressburger Ghetto geboren, dessen Armut, mangelnde Hygiene und Beengtheit ihn zeitlebens prägte. Der jüdischen Familie Mayer gelang der soziale Aufstieg; mit seinen Geschwistern war Sigmund schließlich erfolgreich im Textilgeschäft tätig. Zudem engagierte er sich als Gegenspieler des antisemitischen Wiener Bürgermeisters Karl Lueger im Gemeinderat und publizierte in der liberalen Neuen Freien Presse.

Das Leben von Tochter Alice hingegen war nicht frei von Schicksalsschlägen. Der Vater drängte sie in eine unglückliche Ehe mit einem spielsüchtigen Arzt. Als ihr Mann früh verstarb und nahezu nichts hinterließ, war sie plötzlich mit den zwei Söhnen Otto und Karl – die beiden Namen belegen eine Affinität zu den Habsburgern, die in jüdischen Familien damals nicht ungewöhnlich war – auf sich allein gestellt. Auch ihr Vater hatte ihr nichts vermacht, wähnte er seine Tochter doch gut versorgt. In ihrer Not gründete Alice unweit des Belvedere eine Kochschule, die bald florierte und mit innovativen Ideen aufhorchen ließ. Alice Urbach war die erste in Wien, die einen Lieferservice für fertig zubereitetes Essen etablierte.

Mit dem Zusammenbruch Österreichs 1938 gelang ihr in letzter Minute die Flucht nach Großbritannien. Karl hatte zwar mit Hilfe seines Bruders Otto, der bereits länger in den USA lebte und später für den amerikanischen Geheimdienst tätig sein wird, gültige Ausreisepapiere, wurde aber im Zuge der Novemberpogrome ins KZ Dachau verschleppt und erst nach einigen Monaten, nachdem er Folter und andere Qualen durchlitten hatte, völlig abgemagert und entkräftet entlassen. 1939 konnte auch er endlich in die USA ausreisen. Alice arbeitete anfangs in England kurz als Köchin und leitete bald darauf ohne jegliche pädagogische Ausbildung – ein Heim für minderjährige Mädchen aus den bekannten Kindertransporten. Die Sorge um ihre Söhne begleitete sie während dieser herausfordernden Tätigkeit ständig.

Die Historikerin Karina Urbach, eine Enkelin von Alice, hat sich näher mit der Lebensgeschichte ihrer Großmutter beschäftigt. Obgleich sie eingangs noch die fachinternen Zweifel äußert, ob sich Historiker*innen mit der eigenen Familiengeschichte befassen sollten, war es in ihrem Fall die völlig richtige Entscheidung. Gerade das wissenschaftliche Handwerkszeug ermöglicht einen tiefergehenden und kontextualisierenden Ansatz. Urbach gelingt es, die Biographie atmosphärisch dicht auch in die größeren historischen Zusammenhänge einzubetten, z.B. in der Beschreibung des Austrofaschismus, aber auch in der Darlegung der problematischen Umstände der Exilzeit in Großbritannien, so z.B. der für jüdische, männliche Flüchtlinge erniedrigenden Internierung sowie der Traumatisierung der jüdischen Kinder. Diese waren zwar gerettet und machten zu einem überwältigenden Teil im späteren Leben eindrucksvolle Karrieren, doch die seelischen Verletzungen waren enorm. Einige Kinder entwickelten zeitweise schwere psychische Probleme.

Wäre die Familiengeschichte vor dem historischen Hintergrund des 20. Jahrhunderts nicht schon erzählenswert genug, kommt im Falle von Alice Urbach noch ein Kriminalfall hinzu, und zwar der Raub geistigen Eigentums. Die „Arisierung“ von materiellem Eigentum ist weitgehend bekannt, völlig unbeachtet bislang blieb jedoch dieser Aspekt.

Die Autorenschaft am eingangs erwähnten Kochbuch „So kocht man in Wien“ wurde Alice nämlich gestohlen. Während diese um ihr Leben bangen musste und sich glücklicherweise ins Exil retten konnte, bekam das Buch einfach 1938 ohne ihr Wissen einen neuen Verfasser. Erst Jahre später während eines Wien-Aufenthalts im Sommer 1949 entdeckte sie ihr eigenes Buch mit einem ihr völlig unbekannten Autorennamen im Schaufenster eines Buchladens. Auf Nachfragen blockte der Verlag ab, verwies auf angeblich in den Kriegswirren verlorenes Archivmaterial, stilisierte sich selbst zum Opfer des Nationalsozialismus und machte keine Anstalten, den Raub wiedergutzumachen, versuchte das Geschehen vielmehr zu bagatellisieren. Karina Urbach hat diese Geschichte akribisch recherchiert und kann den Verlag in vielen seiner Behauptungen widerlegen. Für Zitate in Verlagschroniken der Nachkriegszeit z.B. war Archivmaterial wieder verfügbar, ebenso für die Bespielung einer Ausstellung im Münchner Literaturhaus im Jahre 1999. Der Schließungsbefehl durch die Nationalsozialisten im Jahr 1944, der die Verfolgung belegen sollte, galt für alle Verlage, um Papier zu sparen, das für kriegswichtige Zwecke eingesetzt werden sollte. Ferner behauptete der Verlag, dass das Kochbuch nicht nur völlig neu überarbeitet worden sei, sondern auch modernisiert werden musste. Mit „Modernisierung“ war hier die Anpassung an die NS-Ideologie gemeint. Die wichtigste Streichung betraf das Vorwort, das den multikulturellen Charakter der Wiener Küche betonte, was nun nicht mehr opportun war und durch die Rede von „deutschen Gauen“ ersetzt wurde. Inhaltlich überarbeitet musste das Buch ohnehin nicht werden, da es erst drei Jahre alt war, und viele Passagen dem damaligen Wissensstand entsprechend zu gesunder Ernährung enthielt. Allerdings wurden Absätze gestrichen, die als zu „feminin“ wahrgenommen werden konnten, weil Alice Urbach z.B. auf einen einfühlsamen Umgang mit den Haushaltshilfen pochte.

Generell wurden Sachbücher jüdischer Autor*innen in der NS-Zeit nicht vom Markt genommen, da dies ein zu großes Verlustgeschäft gewesen wäre. Sie bekamen einfach eine*n neue*n Autor*in.[1] Im Falle von Alice war das ein gewisser Rudolf Rösch, dessen Identität bis heute nicht geklärt werden konnte und der vielleicht auch gar nicht existiert hat. Die Arisierung von Büchern, also der Raub geistigen Eigentums, stellt ein Forschungsdesiderat dar. Es gibt für diesen Vorgang nicht einmal eine einheitliche Bezeichnung, wie die Autorin aus gutem Grund moniert. Der Begriff „arisierte Bücher“ bezeichnet bislang ein anderes Unrecht, nämlich den Raub der Bibliotheken jüdischer Besitzer. Dieser Forschungslücke sollten sich Wissenschafter*innen dringend annehmen.

1946 zog Alice Urbach zu ihrem Sohn Karl, der in Chicago in Chemie promovierte und schließlich noch Medizin studierte. Alice selbst arbeitete in dieser Zeit als Diätberaterin. Später, in den 1950er/1960er Jahren, wohnte sie in Washington Heights, einem damals von jüdischen Emigranten geprägten Viertel New Yorks. Einige Bewohner*innen kannten sogar ihren Kochbuchklassiker. Die Hoffnung, ihr Werk ins Amerikanische übersetzen zu lassen, zerschlug sich. Das Konkurrenzprojekt „Viennese Cooking“ der nichtjüdischen Österreicherin Olga Hess wurde 1952 veröffentlicht, was Alice tief enttäuschte.

1969 folgte sie Karl nach San Francisco. Während er mit der Leitung eines Krankenhauses betraut war, übersiedelte Alice in ein Altersheim, kochte einmal in der Woche für eine karitative Einrichtung und heuerte bei einer örtlichen Kochschule, die sie sofort engagierte. In der Folge wurde Alice mehrmals von Journalisten interviewt und erwähnte dabei immer auch ihr Kochbuch. Am Ende ihres Lebens schaffte sie es sogar in eine Fernsehshow. Dies war eine gewisse späte Genugtuung. Vor zwei Jahren hat sich eine sehr ambitionierte Ausstellung im Wiener Literaturhaus den unterschiedlichsten Aspekten von Essen und Exil gewidmet.[2] Es liegt auf der Hand, dass gerade für Emigranten die heimische Küche eine nicht zu unterschätzende identitätsstiftende Funktion aufweist, gleichzeitig aber auch Erwerbsmöglichkeiten und berufliche (Neu-)Orientierung im Zielland bietet und damit auch die Sicherung der eigenen, in der Regel fragilen Existenz ermöglicht. Vor diesem Hintergrund ist auch die Lebensgeschichte der Alice Urbach zu sehen. In Wien war sie eine angesehene Köchin, deren Talent und Können nun im englischen Exil eine Möglichkeit der Existenz bot, wenn auch auf einem weit niedrigeren Level, als sie es gewohnt war. Gerade österreichische Emigrant*innen, die mit der einzigartigen kulinarischen Vielfalt des Habsburgerreiches aufgewachsen waren, hielten die britische Kost für „anerkannt ungenießbar“- wie schon Friedrich Torberg in seiner „Tante Jolesch“ befand – , konnten hier aber mit einem kulinarischen Kulturtransfer für Bereicherung sorgen, die von englischer Seite auch durchaus willkommen war. Später in den USA brachte Alice das Kochen noch ein gewisses Maß an Ankommen, Sinnstiftung und Heimatgefühl, gerade weil ihr die Vereinigten Staaten letztlich fremd blieben und sie ihre Wiener Herkunft nicht einfach abschütteln konnte.

Gleichzeitig erinnerte sie das Kochen aber eben auch stets an eine große Enttäuschung und emotionale Belastung im Leben, nämlich das gestohlene Kochbuch. Ein Exemplar hatte sie in die Emigration retten können. Alice wollte wenigstens wieder die Urheberschaft für ihr Kochbuch zugesprochen haben, welches stellvertretend für ihre unbegreifbaren Verluste, die unzähligen Erniedrigungen und das gesamte erlittene Unrecht stand. Der Schutz geistigen Eigentums genießt in der jüdischen Tradition einen hohen Stellenwert und ist nach der Halacha unantastbar. Jüdische Rechtsgelehrte beschäftigten sich seit der Erfindung des Buchdrucks verstärkt mit dieser Thematik.[3] Zudem hatten Bildung und intellektuelles Schaffen in jüdischen Familien auch deshalb immer schon einen hohen Stellenwert, weil es als geschützt im Zuge von Verfolgung galt. Jetzt aber musste Alice erkennen, dass sogar geistiges Eigentum, das ja gewissermaßen auch einen Teil ihrer Identität ausmachte, nicht vor Diebstahl sicher war. Man kann die Geschichte aber auch ein wenig vor dem Hintergrund heutiger Plagiatsdiskussionen betrachten. Hier ist häufig entschuldigend zu hören, dass man es „früher“ eben mit vielem nicht so genau genommen hätte. Es ist anzunehmen, dass diese Argumentation auch in diesem Fall von einigen Apologeten als Ausrede herangezogen werden wird.

Wie so viele Betroffene versuchte Alice Themen wie Shoah und Emigration zu verdrängen, doch am Ende ihres Lebens holten sie die Erinnerungen wieder ein, vor allem das Schicksal ihrer Schwestern quälte sie. Sidonie und Karoline wurden am 21. September 1942 von Theresienstadt nach Treblinka deportiert. Als letzter Aufenthaltsort der jüngeren Schwester Helene ist das Ghetto Lodz bekannt. Mit 97 Jahren starb Alice Urbach am 26. Juli 1983 an Atherosklerose. In der Sterbeurkunde wurden auch Depressionen als nicht todesursächliche Begleiterkrankung genannt.

Vielleicht mag es den einen oder anderen Vorwurf geben, die Autorin sei nicht unbefangen an die Sache, sondern zu emotional herangegangen. Doch Empathie schadet der historisch präzisen Arbeit hier auf keinen Fall. Der große Verdienst von Karina Urbach liegt eben auch darin, das Unrecht auch als solches zu benennen. Nicht zuletzt zeigt das Buch deutlich, dass es immer noch völlig unerforschte Aspekte des Nationalsozialismus gibt. Und es liefert für den konkreten Fall der Verlagsbranche die Erkenntnis, dass es hier bis heute völlig unbehelligte Profiteure von NS-Verbrechen gibt.

Für die Recherchen zum Buch wurde die Autorin auch im Jahre 2018 nicht vom Ernst Reinhardt Verlag unterstützt und so lautet ihr Appell am Ende des Buches: „Der Ernst Reinhardt Verlag wurde von Alice` Kindern und Enkeln nie um eine Zahlung gebeten. Das einzige, was wir noch immer erhoffen ist, dass Alice nach über 80 Jahren von ihrem Verlag wieder zur alleinigen Autorin ihres Werkes gemacht wird. Es wäre ganz einfach: So kocht man in Wien! ist ein Buch von Alice Urbach.“[4]

Erst nach Erscheinen von „Das Buch Alice“ und medialer Berichterstattung meldete sich der Verlag und übertrug die Rechte an die Erb*innen von Alice Urbach. Es ist nun geplant, „So kocht man in Wien“ als Open-Access-E-Book zu veröffentlichen.[5] Insofern hat die Geschichte doch noch so etwas wie einen guten Ausgang genommen, wobei man sich schon fragen darf, weshalb solch eine Reaktion, die aus Gründen des Anstands selbstverständlich sein sollte, erst eines gewissen öffentlichen Drucks bedurfte.

Karina Urbach, Das Buch Alice. Wie die Nazis das Kochbuch meiner Großmutter raubten, Propyläen Verlag 2020, 432 S., Euro 25,00, Bestellen?

[1]Ein weiterer, der wenigen Plagiatsfälle, der bislang öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zog, war das 1944 im C. H. Beck Verlag veröffentlichte Buch „Deutsche Stilkunst“ von Ludwig Reiners. Es beruhe in großen Teilen auf dem Werk des jüdischen Autors Eduard Engel, so der Schweizer Altphilologe Stefan Stirnemann, der diese Vorwürfe als erster äußerte. Stefan Stirnemann, Diese Stilfibel stand in der Tradition Hitlers, in: Die Welt (Online) vom 29.8.2016, https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article157896960/Diese-Stilfibel-stand-in-der-Tradition-Hitlers.html
[2] Die Ausstellung „Küche der Erinnerung. Essen und Exil“ war vom 1.10.2018 bis 10.1.2019 im Literaturhaus Wien zu sehen. Siehe auch den Ausstellungsband: Veronika Zwerger/Ursula Seeber (Hg.): Küche der Erinnerung. Essen und Exil, Wien/Hamburg 2018.
[3] Boris Ronis, Geistiges Eigentum. Selbst denken – so viel Zeit muss sein, in: Jüdische Allgemeine (Online) vom 14.7.2014, https://www.juedische-allgemeine.de/religion/selbst-denken-so-viel-zeit-muss-sein/
[4] S. 322.
[5] Leonie Feuerbach, Wie die Nazis ein Kochbuch stahlen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (Online) vom 14.11.2020, https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/wie-die-nazis-ein-kochbuch-stahlen-17035767.html?GEPC=s3&fbclid=IwAR0e5xNYIUNxdPv8v9HHL922hIWGanDkyguqlok8GCcvjVlZ9ZcuBAFvi9Q

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