Zerreißproben

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Ihre autobiografischen Erinnerungen, 1992 unter dem Titel „weiter leben“ erschienen, haben Ruth Klüger berühmt gemacht. Hierin schreibt die 1931 in Wien geborene amerikanische Literaturwissenschaftlerin über ihre Jahre in Theresienstadt, Auschwitz und Christianstadt. 1942 war sie mit ihrer Mutter nach Theresienstadt verschleppt worden, da war sie elf. 1945 gelang ihr mit ihrer Mutter und zwei Mithäftlingen die Flucht, 1947 emigrierte sie in die USA…

Von Roland Kaufhold

Als Ruth Klüger am 27.1.2016 im Deutschen Bundestag die Gedenkrede an die Opfer des Nationalsozialismus hielt war dies eindrücklich. Abschließend lobte sie Angela Merkel für deren Mut und Menschlichkeit als Reaktion auf die Flüchtlingskrise.

Im Alter begann Ruth Kläger, auch Gedichte zu schreiben. Nun hat sie einige hiervon, versehen mit eigenen Kommentaren, veröffentlicht. Das Buch lag länger bei mir herum, ich bin vom Schreiben hierüber zurückgeschreckt. Mittlerweile ist es als Taschenbuch erhältlich. Sie schreibe über innerlich Verdrängtes, bemerkt Klüger im Vorwort, vieles in ihren Gedichten habe sie erst später verstanden, „manches blieb undeutlich“.

Die ausgewählten Gedichte kreisen um sechs Themenblöcke, die mit Klügers Biografie verbunden sind: Um die Sprache, Wiener Geschichten, Jüdische Gedichte, Träume, Kindergedichte und um englische Gedichte. Nach ihrer Emigration nach New York sprach Ruth Klüger, wie die meisten Emigranten, so wenig Deutsch wie möglich. Auch mit ihrem Mann, einem gebürtigen Berliner und Historiker, habe sie nie deutsch gesprochen. Auch ihre eigenen Kinder lernten kein deutsch – das Zerstörerische war ihr noch zu nahe. Von dieser inneren Unsicherheit spricht sie auch, in ihren Kindergedichten, die ihre Kinder nicht im Original zu lesen vermögen. Auch dies bringt Ambivalenzen und Unverträglichkeiten mit sich, wie sie in einem Spiegel-Interview mitgeteilt hat.

Im Gedicht Ist das Heimweh? beschreibt sie ihre nicht auflösbare Ambivalenz zwischen dem Gefühl einer Zugehörigkeit und einer Ablehnung. Wien-Besuche weckten diese Ambivalenz wieder:

„Am Akzent erkennbar als Einheimische / aber am Ausdruck häufig als Fremde, / (…) finden sie das Kopfsteinpflaster der Innenstadt / zu hart für ihre Damenschuhe von drüben.“

Auch beim Besuch des legendären Wiener Heldenplatzes bleibt die Verstörung, aber vielleicht auch der „Triumph, der Vernichtung knapp entgangen zu sein?“, wie sie in ihrem Kommentar vermerkt:

„Ich bin im Hause des Henkers geboren. / Naturgemäß kehr ich wieder. / In krummen Verstecken / such ich den Strick. / Mir blieb eine Faser davon im Genick. / Meine Hartnäckigkeit war mein Glück.“ Und am Ende heißt es doch „Auf dem Galgenplatz blüht jetzt der Flieder.“

Ruth Klüger hat früh Gedichte gelesen. Sie gaben ihr einen inneren Halt. Als sie zwölfjährig, wegen der Kälte erfror sie in Auschwitz beinahe, arbeiten musste erzählte sie sich innerlich diese Gedichte, variierte deren Sprachklang. 1944 entwirft sie das Gedicht Auschwitz. Sie knüpft am harten Arbeitsalltag der Männer an, spricht dann von der verlorenen „herrlichen Heimat“, was für die Zionistin das noch nicht gegründete Israel ist:

„Hinter den Baracken brennt / Feuer, Feuer Tag und Nacht. / Jeder Jude es hier kennt, / jeder weiß, wofür es brennt, / und kein Aug´, das uns bewacht?“

Trotz der alltäglichen Angst spricht sie auch von der Hoffnung:

„Fressen unsre Leichen Raben? / Müssen wir vernichtet sein? / Sag, wo wird´ ich einst begraben? / Herr, ich will nur Freiheit haben / und der Heimat Sonnenschein.“ In der letzten Zeile heißt es: „Zieht die Heimat still empor?“

1945, als sie 13-jährig Auschwitz verlassen hat und ins Frauenarbeitslager Christianstadt verschleppt worden ist, notiert Ruth innerlich das unzweideutige Gedicht Der Kamin. Aufzuschreiben vermochte sie es erst nach ihrer Flucht. Es beginnt in dieser Weise:
„Täglich hinter den Baracken / seh ich Rauch und Feuer stehn. / Jude, beuge deinen Nacken, / keiner hier kann dem entgehn. / Siehst du in dem Rauche nicht / ein verzerrtes Angesicht? / Ruft es nicht voll Spott und Hohn: / Fünf Millionen berg´ ich schon! / Auschwitz liegt in meiner Hand, / alles, alles wird verbrannt.“

Dieses Gedicht, das sie an eine Zeitung schickte, habe, so schreibt sie in ihrem Kommentar, „viele Jahre später in mein Leben“ eingegriffen. Später sei es durch verschiedenen Anthologien gegeistert und habe sie so auf Umwegen zu ihrem Germanistikstudium geführt – und zu „meiner lebenslangen Auseinandersetzung mit einer Kultur und Sprache, von der ich einmal glaubte, ich müsse sie abschütteln.“

Ruth Klüger: Zerreißproben, Paul Zsolnay Verlag, Wien 120 S.,; als dtv Taschenbuch: 9,90 Euro, Bestellen?