Im freien Fall

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Die Coronavirus-Pandemie hat die israelische Wirtschaft auf eine beispiellose Talfahrt geschickt. Zugleich verschärft die aktuelle Situation auf dramatische Weise ökonomische und soziale Verwerfungen, die bereits vor der Krise vorhanden waren…

Von Ralf Balke

Zum Jahreswechsel – nach dem gregorianischen Kalender – war die Welt noch in Ordnung. Israels Wirtschaft hatte 2019 ein solides Wachstum von 3,4 Prozent verzeichnen können, die Arbeitslosenquote lag bei rekordverdächtigen 3,8 Prozent so niedrig wie nie und mit einer Staatsverschuldung von 66 Prozent des Bruttoinlandsproduktes stand das Land im direkten Vergleich mit vielen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union eigentlich recht ordentlich da. Doch mittlerweile wirken diese Zahlen wie aus einer anderen Welt. Denn die Coronavirus-Pandemie und die damit verbundenen Lockdown-Maßnahmen haben dafür gesorgt, dass die Wirtschaft einen Absturz erlebt, der in der Geschichte Israels wohl einmalig sein dürfte.

So rechnet die Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) in seiner jüngsten Konjunkturanalyse zu Israel damit, dass 2020 das Bruttoinlandsprodukt um sechs Prozent schrumpfen wird. Die Arbeitslosenquote veranschlagen sie über das laufende Jahr auf durchschnittlich 6,1 Prozent und die Staatsverschuldung dürfte wohl auf die 77 Prozent-Marke hochschnellen. Erst für 2021 könne man dann wieder ein Wirtschaftswachstum von vielleicht 2,9 Prozent erwarten. Aber auch diese Zahlen dürften bereits Makulatur sein, weil sie am 23. September veröffentlicht wurden. Denn die Folgen des zweiten Lockdowns, der kurz vor den Hohen Feiertagen im vergangenen Monat einsetzte, sind in diesen Untersuchungen noch gar nicht berücksichtigt worden. Was jedoch Gültigkeit besitzen sollte, ist das Fazit der OECD, das die Situation auf den Punkt bringt und bereits für die Zeit vor der Pandemie zutraf: „Wie auch immer, die Krise droht die Probleme Israels weiter zu verschlimmern, und zwar die hohe Armutsrate, das enorme Gefälle bei den Einkommen sowie die gewaltige Disparität in der Produktivität zwischen dem boomenden Hightech-Sektor und anderen, oftmals durch protektionistische Maßnahmen geschützte Sektoren der Wirtschaft.“

Und die jüngsten, aktualisierten Daten, die die Statistikbehörde am 18. Oktober veröffentlichte, lassen weitaus Schlimmeres erwarten. Nachdem das Bruttoinlandsprodukt im ersten Quartal 2020 annualisiert um 8,1 Prozent sank, befand es sich im zweiten Quartal quasi im freien Fall: ein Minus von 28,7 Prozent. „Die Zahl für das zweite Quartal steht für den dramatischsten Absturz des Bruttoinlandsproduktes seit der Gründung des Staates im Jahr 1948 und spiegelt die Folgen des ersten Lockdowns vom 17. März bis zum 20. April wider“, hieß es dazu in der Wirtschaftszeitung Globes. Aber es gibt noch weitere Hiobsbotschaften. Bis zum August hinein ging der private Konsum um 43,4 Prozent zurück, die Importe um 41,7 Prozent und die Geschäfte der Unternehmen generell um 33,4 Prozent. Gleichzeitig stiegen die Ausgaben des Staates in diesem Zeitraum um 25,2 Prozent, allein das Finanzministerium stellte über 200 Milliarden Schekel, knapp 50 Milliarden Euro, zur Verfügung, um der Wirtschaft wieder neuen Schwung zu verleihen. Inwieweit der zweite Lockdown all das noch weiter negativ beeinflusst, darüber ließe sich jetzt lediglich spekulieren. Gewissheit bekommt man erst gegen Ende des Jahres, wenn die Daten für das dritte Quartal vorliegen. Und sprach die Zentralbank von Israel im Frühjahr noch von einem V-förmigen Verlauf der Krise, also einem abrupten Absturz auf den unmittelbar danach eine stürmische Wachstumsphase folgt, so geht man jetzt wohl eher von einer längerfristigen Belastung aus, deren Ende kaum absehbar ist.

Zu den wirtschaftlichen Ungewissheiten gesellen sich auch die politischen, und dafür trägt die israelische Regierung die Alleinschuld. Kaum hundert Tage im Amt, wird ständig über Neuwahlen spekuliert. Erst gab es zwischen Ministerpräsident Benjamin Netanyahu und seinem alternierenden Kollegen, dem jetzigen Verteidigungsminister Benny Gantz, einen völlig unnötigen Streit um den Haushalt, was angesichts der Probleme im Gesundheitswesen und der Wirtschaft schwer zu vermitteln war. Denn mit dem ersten Lockdown schoßen zugleich die Arbeitslosenzahlen in die Höhe. Der wirtschaftliche Absturz und ein Wirrwarr an neuen Regeln, die kaum beschlossen, schon wieder obsolet wurden, sorgte mit dafür, dass vielen Israelis mittlerweile das Wasser bis zum Hals steht. Und so darf es auch nicht verwundern, dass laut Umfragen gerade mal rund ein Viertel von ihnen den politisch Verantwortlichen attestiert, ein halbwegs solides Krisenmanagement zu betreiben. „Der zweite Lockdown signalisierte Investoren und Konsumenten zugleich, dass das alles eine völlig neue Dimension darstellt und die Gesundheitskrise schlimmer als gedacht“, bringt es Momi Dahan, ein Wirtschaftswissenschaftler der Hebräischen Universität in Jerusalem auf den Punkt. „Zugleich wird allen deutlich vor Augen geführt, wie schlecht und amateurhaft das Krisenmanagement ist.“ Selbst der Direktor der Zentralbank, Amir Yaron, erklärte im Armee-Radio, dass die Entscheidungsprozesse der politisch Verantwortlichen „sicherlich durchdachter hätten sein können.“

So erreichte im April die Zahl der Personen, die Anspruch auf Arbeitslosengeld haben, sprunghaft einen Rekordwert von 895.000. Als dann die Maßnahmen wieder zurückgefahren wurden, sank diese im Juli und August und ungefähr 445.000. Mit dem zweiten Lockdown stieg sie wieder auf 513.000, mit weiteren 200.000 Personen, die seither kurzfristig ihre Jobs verloren hatten, wird gerechnet. Bituah Leumi, das staatliche Versicherungsinstitut, zahlte allein in den Monaten März bis September weit über 16 Milliarden Schekel, also rund vier Milliarden Euro, aus – auch das eine Summe, die bis dato noch nie in einer Rezession angefallen war. Erstmals wurden ebenfalls die Arbeitnehmer unterstützt, die nicht offiziell arbeitslos gemeldet waren, sondern von ihren Arbeitgebern in den unbezahlten Zwangsurlaub geschickt wurden. Zudem wurden die Zeiträume, in denen man Anspruch auf Leistungen dieser Art hat, verlängert. Bis dato galt in Israel die Regel, dass das Arbeitslosengeld, abhängig von der Beschäftigungsdauer, nur zwischen 50 und 175 Tagen nach der Kündigung ausgezahlt wurde. Aber wer die hohen Lebenshaltungskosten in Israel kennt, weiss, dass trotz dieser Zahlungen vor allem Familien schnell in die Schieflage geraten. Denn wenn beide Geldverdiener ihren Job verlieren, was derzeit alles andere als eine Seltenheit ist, beispielsweise Hypotheken abbezahlt werden müssen oder Arztrechnungen anfallen, wird es für viele Israelis finanziell schnell eng.

Freiberufler oder Kleinunternehmer haben es derzeit noch deutlich schwieriger. Obwohl die Regierung auch ihnen Hilfen versprach, trafen diese entweder gar nicht oder erst nach Monaten ein. Auch reichten diese vorne und hinten nicht, um laufende Kosten wie Büro- oder Ladenmieten zu bezahlen oder Angestellten ihre Löhne. Der Wirtschaftsdienst Dun & Bradstreet schätzt daher, dass in Israel bis zu 85.000 Unternehmen dieses Jahr Pleite gehen werden. Oder anders ausgedrückt: Zwischen sieben und acht Prozent aller israelischen Firmen werden das Jahr 2020 nicht überstehen. Und es tat sich so etwas wie eine digitale Kluft auf, die symptomatisch für die israelische Volkswirtschaft und ihre starken Abhängigkeit von dem Hightech-Sektor ist: Wer beispielsweise ein Restaurant oder einen kleines Geschäft betreibt, hat ungleich mehr Schwierigkeiten, sein Business in Zeiten von Lockdown aufrecht zu erhalten als ein Entwickler von Software oder Online-Dienstleistungen. Ganz im Gegenteil, der Hightech-Sektor verzeichnete mit wenigen Ausnahmen weiterhin sogar ein starkes Wachstum.

Nach Angaben von Start-Up Nation Central, einer Plattform, die israelischen Gründern hilft, sich mit Investoren auf der ganzen Welt zu vernetzen, hatten israelische Firmen trotz der Coronavirus-Krise relativ wenig Probleme, Interessenten zu finden. „Israelische Technologieunternehmen haben in diesem Jahr bisher 7,24 Milliarden Dollar mobilisieren können, was einem Anstieg von 30 Prozent gegenüber dem gleichen Zeitraum des Vorjahres entspricht“, berichtet Uri Gabai, der Co-Geschäftsführer des Konzerns. Und Jon Medved, Gründer und Vorstandsvorsitzender der israelischen Venture Capital-Firma OurCrowd, betont, dass die starke israelische Hightech-Szene im Gegensatz zum Rest der Wirtschaft einen globalen Trend widerspiegelt: „Was wir weltweit generell beobachten konnten, ist die Tatsache, dass das Virus die Herausbildung einer Art Zwei-Klassen-Wirtschaft beschleunigt hat.“ Nur geschieht das in Israel in einem deutlich dramatischeren Ausmaß. Denn laut Medved ist in Relation zu den anderen Wirtschaftsbereichen der Hightech-Sektor so dominant wie an kaum einem zweiten Ort. Es gibt überdurchschnittlich viele Unternehmen, die aktuell einen enormen Schub erleben, vor allem in den Bereichen digitale Gesundheitsfürsorge und Telemedizin, künstliche Intelligenz, Cybersicherheit und Technologien für Banken und Online-Händler, also all das, was in Pandemie-Zeiten besonders nachgefragt wird. Darüber hinaus versprechen die neu geknüpften Beziehungen zwischen Israels und den Vereinigten Arabischen Emiraten diese Entwicklung noch zu beschleunigen, weil man nun Zugang zu einem weiteren Kreis von sehr liquiden Investoren gewonnen habe.

Zugleich zeigt sich damit ein Problem: Eine Volkswirtschaft kann nicht konfliktfrei funktionieren, wenn es nur einen einzigen Bereich gibt, der boomt und dessen Akteure Spitzengehälter einfahren, der Rest der Bevölkerung aber irgendwie sukzessiv abgehängt wird. Genau das aber offenbart sich nun in Zeiten von Corona auf drastische Weise. Und genau deshalb werden die Proteste in der Bevölkerung immer lauter. Sie richten sich nicht nur gegen Netanyahu und seine Regierung, sie sind zugleich Ausdruck einer generellen Unzufriedenheit mit den Verhältnissen und den Sorgen um den sozialen Abstieg. Die Tatsache, dass viele Strukturreformen oftmals versprochen, aber nie eingelöst wurden, kann sich für die Verantwortlichen bitter rächen.

Bild oben: Netanyahu kündigt im Juni weitere finanzielle Hilfen an, Screenshot GPO