Im Berliner Lichtig-Verlag der in vielerlei Hinsicht allein kämpfenden Nea Weissberg ist ein bemerkenswertes und – durch Gestaltung und Fotografien zugleich ästhetisch sehr ansprechendes – Buch herausgekommen. Das Thema freilich ist eher erschreckend: 20 jüdische Frauen beschreiben, was sie denken und empfinden, seit der schlimme Angriff an Jom Kippur in Halle „passierte“…
Rezension von Karsten Troyke
Der Anschlag, der ja nur zufällig nicht in dem ganz großen Massaker endete, das der Täter geplant und angekündigt hatte – auf einem dieser ominösen Internetportale. Eine typische Verschwörungserzählung unterfütterte seine Menschen verachtende Einstellung, die wir so gut kennen: an allem, wirklich allem seien „die Juden“ schuld. Möge der Name dieses Menschen ungenannt bleiben – außer vor Gericht.
Angesichts des derzeitigen Wandels im alltäglichen Leben, der alles bestimmenden Maßnahmen gegen die Pandemie könnte es passieren, dass das Buch kaum wahrgenommen wird. Doch es ist ein Zeitdokument, mehr als nur eine Standortbestimmung, eine Dokumentation des Schocks, der Schlaflosigkeit, vieler Ängste und ein vorsichtiger Ausblick: wohin geht es? Es sind auch Geschichten, immer wieder Geschichten von Familien, vom Überleben und auch vom Leben in einem demokratischen Land.
Von der Selbstverständlichkeit deutsch zu sein und dem zugleich wieder entstandenen Schreck, heute in Deutschland zu leben. Also all die „mixed feelings“, die immer im Hintergrund lauern, wenn man aus einer Familie kommt, die es in der deutschen Geschichte ja schon erlebt hat: nur aufgrund der Herkunft ermordet zu werden.
„An keinem anderen Feiertag sind so viele Beter in einer Synagoge. Man hat sich kundig gemacht, zu welcher Gelegenheit man Juden am meisten treffen kann…“ stellt z.B. Rebekka Nieten in ihrem Beitrag fest. Elvira Grözinger schreibt: „Es war nicht leicht, in das Land der Täter einzuwandern. Ich bin 1947 in Polen geboren, meine Eltern waren Ärzte und die einzigen Überlebenden in ihren Familien. Weil sie auch Deutsche unter ihren Helfern hatten, haben sie mich nicht im Hass gegen Deutsche erzogen.“ Dennoch hatte sie von Anfang an ihre „Fäuste ballen“ müssen, um den vielen kleineren und auch größeren Ablehnungen begegnen zu können – bis heute, wo wieder, wie im Mittelalter, Stimmen lauter werden, die unterstellen: die aktuelle Pandemie hätten Juden gebracht.
Die Titel der Beiträge sind Programm, z.B. „Auf schwankendem Boden“ (Alexandra Jacobson); „Ich sang die HaTikva, da waren meine israelischen Freunde noch nicht geboren“ (Renate Aris); „Brief an einen Freund“ (Daphna Rosenthal); „Denk ich an Halle in der Nacht“ (Sharon Adler); „Ich habe keine Angst. Sollte ich?“ (Annie Karolinski-Doning) und mehr. Ich kann hier nicht alle zitieren, aber ich kann sagen, alle Protagonistinnen im Buch zeigen viel Privates, beschreiben ihre Familien, sagen ihre Gedanken frei heraus. Jede hat etwas fotografieren lassen oder Familienfotos beigegeben: Ja, so war es! Ja, wir haben überlebt! Ja, wir leben hier und heute. Namen werden geehrt, Geschwister, Eltern, Großeltern werden genannt. Ich spüre grundsätzlich die ewige Hoffnung: seht die Menschen, seht die Gesichter, glaubt doch nicht dem Geschwafel über „die“ Juden. Vielleicht ist es aber auch eher ein Sich-Gegenseitig-Festhalten, denn wer liest so ein Buch? Die, die auch Mut brauchen. Annie Karolinski-Doning: „Halle hat die Gefühlslage aller Juden in Deutschland erschüttert. Sie fühlen sich bedroht und schauen in eine unsichere Zukunft. Wie früher.“ Eva Diamantstein schreibt: „Bin ich schockiert? Ja…“ und „Bin ich überrascht? Nein…“.
Halina Birenbaum, geboren 1929, Shoa-Überlebende, heute israelische Autorin, grüßte aus Herzliya die Veröffentlichung mit zwei Gedichten. Trotzdem ist auch ein fast wissenschaftliches, sogar mit Fußnoten und viel Recherche von Nea Weissberg angefertigtes, Kapitel im Buch, das die noch immer vergleichsweise kleine jüdische Gemeinschaft in Deutschland beschreibt, es bleibt – wie fast alles vom Lichtig-Verlag – der Aufklärung verpflichtet und könnte somit auch in Schulen, auf Fachtagungen oder Lesungen genutzt werden. Ein Absatz aus dem Resümee darin: „Politische Zeitgeschichte setzt sich fort, nicht nur in historisch dokumentiertem Material, auch in den Seelen, in den Vorstellungen und Bildern der Menschen von sich selbst.“
Und dann die Frage an die Gesellschaft, die der Täter von Halle, wie so viele andere heute wieder, glaubte zu vertreten: „Was haben jene Urgroßeltern, Großeltern und Eltern von ihrem Juden- und Menschenhass – trotz Schweigegeboten aus Angst vor Enthüllung – bewusst oder unbewusst an die Nachkriegskinder non-verbal weitergegeben und wieviel davon ist ein ahnungsloser, doppelbödiger Teil der eigenen Identität? Und wieviele Kunstgegenstände, Schmuckstücke, Haushaltsgegenstände, Bücher, Fayencen, Wohnungseinrichtungen, Silber, Kinderkleidung, Spielsachen, Kapitalien, Immobilien aus jüdischem Eigentum haben ganz gewöhnliche deutsche Bürger ihren Kindern, Enkeln und Urenkeln vermacht?“
Und es ist ein Blick in die Zukunft, die Herausgeberin schreibt: „Meiner Tochter Janina in Liebe gewidmet, der ich ein Leben in Sicherheit wünsche.“
Nea Weissberg (Hrsg.): Halle ist überall – Stimmen jüdischer Frauen. Mit Fotos von Sharon Adler und anderen. Lichtig-Verlag, Berlin 2020, 162 S., Euro 20,00, Bestellen?