„… Lieder aus dem KZ, Schlager aus dem DP-Lager“

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Der Jiddisch Sänger Karsten Troyke…

Von Roland Kaufhold

„Alles, wirklich alles war abgesagt“, erzählte mir der Berliner Sänger Karsten Troyke kurz vor seinem gemeinsamen Balagan-Auftritt mit Sharon Brauner in Düsseldorf. „Wir haben aber im Moment keine echten Pläne für die Zukunft.“ 

Dennoch, das Leben geht weiter, trotz Corona, trotz aller massiven Einschnitte bei öffentlichen Auftritten. Krisen sind eine Herausforderung, um Altes, mühsam Erworbenes kreativ weiterzuentwickeln – oder sich etwas Neues auszudenken. Ein Anlass, auf die musikalische Entwicklung des 1960 als Sohn eines Jazzmusikers in der DDR geborenen jiddischen Sängers und Musikers zurück zu blicken.

1992, so erinnert sich Karsten Troyke in einem Buchbeitrag (2015), habe er „ein Lied geschrieben, nach einer Vorlage der kanadischen Liedermacherin Buffy Sainte-Marie: Willkommen Immigranten. In Zeitungen gab es Aufmacher wie „Das Boot ist voll“, es wurde von „Asylantenflut“ gesprochen und den Kosten der Einheit Deutschlands.“

Es gab Überfälle auf Ausländerheime, auch gegen Roma aus Rumänien, „die am Bahnhof Berlin-Lichtenberg ankamen“. Von deren Kassetten, die Karsten Troyke sich bei ihnen besorgte, „kam die schönste Musik, die ich bis dahin kannte, herrliche Gesänge mit wildem Akkordeon. Ich war entsetzt über soviel Hass.“

Jeder Mensch sollte das Recht haben, dort zu leben wo er wollte – das war seine Schlussfolgerung, „nachdem mir bis zum 29. Lebensjahr vorgeschrieben war, welche Länder ich bereisen durfte.“ So durfte er bis zum Mauerfall nahezu nur Ost-Europa besuchen, selbst für Moldawien reichte sein Geld nicht. „Also DDR-Bürger, dies ist vielleicht meine erste Identität“, schreibt der talentierte Autodidakt und musikalische Spurensucher.

Urgroßeltern Liddy und Götz Kilian

Eine seelische und politische Orientierung findet Karsten Troyke in seiner eigenen Familiengeschichte. Vor 100 Jahren war sie kommunistisch geprägt. Seine Großeltern mütterlicherseits waren in Berlin-Köpenick exponierte KPD-Abgeordnete: „Meine Urgroßeltern Liddy und Götz Kilian waren in der KPD, heute sagt es sich so leicht: gläubige Kommunisten – aber in den 1920er Jahren wurde dringend ein Ausweg aus dem Elend von Armut und Krieg gebraucht. „Wer Hitler wählt, wählt Krieg“ war die Parole. Liddy hat sogar Versammlungen von Nazis aufgesucht, um öffentlich Gegenrede zu leisten. Die Arbeiter und auch andere Leute schwankten zwischen den Ideologien, denn alle Seiten versprachen soziale Verbesserungen. Liddy und Götz waren sehr optimistisch, versteckten den bulgarischen Genossen Georgi Dimitroff in ihrem Haus, publizierten Aufrufe und hofften sehr, noch genug Menschen bei der Wahl 1933 zu gewinnen. Sie standen in Berlin-Köpenick weit vorne auf den Listenplätzen. Man weiß ja, wie das ausging und die „Köpenicker Blutwoche“ war der erste breitangelegte brutale Übergriff der neuen nationalsozialistischen Staatsmacht. Gegen Kommunisten, Sozialdemokraten, Liberale und Juden. Meine Großmutter, damals 8 Jahre alt, schrie dermaßen herzzerreißend, als ihre Eltern auf einen Lastwagen geprügelt wurden, so daß wenigstens die Mutter nicht mitgenommen wurde. Dennoch war das erst der Beginn und die 12 schrecklichen Jahre haben unsere Familie sehr geprägt. Liddy und Götz sind von Berlin noch bis Hamburg gekommen, mussten sich jede Woche bei der Gestapo vorstellen oder wurden „heimgesucht“. 1940 starb mein Urgroßvater Götz an den Folgen.“

Liddy arbeitete nun illegal, war immer noch optimistisch. Nach der Befreiung kam sie nach Berlin-Köpenick (im Ostsektor Berlins) zurück, übernahm weitere Funktionen im Umfeld der Partei, kümmerte sich um Benachteiligte und unterstützte Menschen, die aus der Emigration zurückgekommen waren. Das Ringen um „Wiedergutmachungsgelder“ und die hiermit einhergehenden, erneuten Entwertungserfahrungen prägte sie. 1949 gehörte ihre Tochter Isot Kilian, Troykes Großmutter, zu den Gründungsmitgliedern von  Brechts „Berliner Ensemble“.

Das „Nein“ und das „Nie wieder!“ war die Haltung „all der Antifaschisten, unter denen ich praktisch aufwuchs. Ich bin davon geprägt und habe eine tiefe Abneigung gegen elitäres Denken, Rassismus und Antisemitismus.“

Der junge Karsten Troyke wurde durch diese Atmosphäre, diese Grundüberzeugungen geprägt: Seine Großmutter Liddy „lebte mit uns in einem Haus und hat mir, ich bin 1960 geboren, alle Einzelheiten ihrer Verfolgung unter den Nazis erzählt. In meiner Erinnerung tat sie das schon, als ich noch in den Kindergarten ging, denn ich wollte wissen, wo Opa Götz eigentlich hin.“

Nationalismus wurde in seinem politischen Elternhaus „zutiefst abgelehnt. Das ist mir auch zur Identität geworden, jedenfalls zu einer Art Gegenidentität. Es wäre mir nichtmal in den Sinn gekommen, mich „Deutscher“ zu nennen, was eigentlich widersinnig ist, denn das bin ich doch faktisch.“

Ihm sei schon im Kindergarten klar gewesen, „daß ich Sänger oder Schauspieler oder beides werden würde.“

Sein Optimismus, seine Leidenschaft wuchs

Bereits als Jugendlicher sang er mit Freunden selbst verfasste Lieder, spielte nun nicht mehr Klavier sondern Gitarre. Sein Rhythmusgefühl wurde sicher, mehr wollte er mit der Gitarre nicht. Seine Stimme erkannte er als sein wichtigstes Instrument. Seine Auftritte kamen im Freundeskreis gut an. Sein Optimismus, seine Leidenschaft wuchs.

Bald machte er Jacques-Brel-Abende und trat mit jiddischen Liedern auf. In der „antifaschistischen“ DDR ein großes Risiko, das Nachfragen auslöste, ob er selbst jüdisch sei und ihn zum Projektionsobjekt vielfältiger Fantasien machte. Karsten Troyke merkt hierzu an:

„Ich denke, bei einem Jacques-Brel-Abend wäre das nicht so. Bald wurde mir klar, daß es auch gar nicht die eigentliche Frage war, die Leute hätten lieber gesagt: „Ich hoffe, Sie sind doch Jude?“ Und genau diese Frage hörte ich später einmal in München von zwei begeisterten Frauen – mit dem Zusatz: „Nein? Dann haben Sie uns ja etwas vorgemacht!“ Ich hatte, zusammen mit dem Übersetzer Jost Blum, Lieder und Texte von Abraham Sutzkever vorgetragen.“

1982, da war er 22, begann er mit öffentlichen Auftritten: Er füllte Konzertsäle mit populären Songs wie Dona Dona und jiddischen Liebesliedern: „Niemand fragte mich was wegen der eigenen Lieder, aber alle wollten wissen, was diese jiddischen Lieder eigentlich sind. So wurde ich  bald nur dafür eingeladen und meine Liedermacher-Karriere hatte schnell ein Ende gefunden.“

Lin Jaldati und Cipe Lincovsky

Die jiddischen Lieder hatte er zu Hause kennengelernt, in seinem kleinen jüdischen Familien- und Freundeskreis, insbesondere in der Familie von Clement de Wroblewsky. Dieser und seine Frau Helga sammelten „französische, italienische, deutsche und jiddische Lieder. Sie sang mit dunkler Stimme: „Ojoj! SchmerelmitnFidl, Tewjemitn Bass…“ Es gab Rotwein und ekelhafterweise auch Schnecken, für die Kinder natürlich Bouletten und Saft. Und es gab Lagerfeuer, Geschichten über Partisanen, betrunkene Liebesbeteuerungen und heftige Diskussionen um das Vermächtnis des Antifaschismus, um die Zustände in der DDR, aber wir fühlten uns wie in Frankreich.“

Bald danach ging seine Mutter mit ihm zu Konzerten von Lin Jaldati, „der jahrelang einzigen bekannten Interpretin jiddischer Lieder der DDR. Die Amsterdamerin hatte Auschwitz überlebt und war mit ihrem Mann Eberhard Rebling nach der Befreiung nach Ost-Berlin gekommen. Sie sang weniger, als daß sie deklamierte und gestisch darstellte und meine Mutter sagte: „Die jiddischen Lieder sind doch wirklich schön!““

Eine weitere Impulsgeberin war die argentinisch-jüdische Schauspielerin Cipe Lincovsky. Diese hatte im Brecht-Theater Berliner Ensemble „zwei jiddische Abende gegeben, sie muss schon damals ungeheuer faszinierend gewesen sein. (…) Cipe spielte 1960 noch einmal eine Zeit an dem Theater in Ostberlin, meine Großmutter Isot Kilian, die ja „Brechts letzte Liebe“ gewesen war, organisierte das für sie. Cipe blieb fortan eine Freundin unserer Familie.“

Später folgten Lieder von Esther Ofarim und von Georg Kreisler, die ihn faszinierten und ihn seelisch wieder mit seinen Eltern und deren Biografien zusammen führten.

Ein weiterer wichtiger Impulsgeber war sein Vater Werner „Josh“ Sellhorn (1930 – 2009), ein bekannter Mentor für Jazz-Musik in der DDR. Jazz galt als „zügellos“, ergo als Musik des Klassenfeindes. Auch seine Abende mit Wolf Biermann, Bettina Wegner und Manfred Klug gefährdeten ihn zunehmend. 

Er veranstaltete regelmäßig einen „Jüdischen Abend“ mit ins Deutsche übertragenen Texten von Isaac Bashevis Singer, Ephraim Kishonetwa, Tucholsky und jiddischen Witze. Dazu spielte er Platten mit jiddischen Liedern, in der DDR eine absolute Rarität.

„Die deutsche jüngere Vergangenheit“, erinnert sich Troyke, „blieb immer präsent in meinem Leben, nicht nur durch die Erzählungen in der Familie, nicht nur durch die Lieder, auch im Alltag horchte ich erschrocken auf, wenn ich Sprüche hörte wie „wir haben gelacht bis zur Vergasung“ oder „Ich hab‘ Hunger, mir ist kalt, ich will zurück nach Buchenwald.“ Sowas kam von Mitschülern, also letztlich von ihren Eltern.“ Diese Präsenz der Vergangenheit bewirkte „daß ich die kommunistischen Ideale meiner Familie Stück für Stück ablegte.“

Karsten Troyke gab seine Studienwünsche auf, eine Zukunft in der DDR sah er nur noch in der Nische – so bei der evangelischen Kirche, wo er mit geistig-behinderten Kindern arbeitete.

1981, da war er 21, begann er in einem Kinderheim zu arbeiten – und begegnete dort der „Vergangenheitsbewältigung“ – erinnert sei auch an das erste Pogrom in Deutschland nach 1945: Das Pogrom in Erfurt 1975 gegen Arbeiter aus Angola – in ihrer unverschleierten Form: Wir fanden „etliche Suppenteller mit Hakenkreuzen und NSDAP-Zeichen im Alltagsgeschirr. (…) Wir bestellten neue Teller bei der Leitung. Statt neuer Teller waren am Tag darauf rote Punkte über die Hakenkreuze gemalt worden, mit Nitrolack. Das war uns Anlass, die Teller fallenzulassen wie auf einem Polterabend. Als ich wieder einmal gefragt wurde, ob ich mich nicht doch taufen lassen würde, sagte ich zu der Diakonisse: „Wissen Sie, ich habe mich nun so viel mit der jüdischen Geschichte befasst, ich denke, ich kann in meinem Leben kein Christ mehr werden.“ Sie sagte: „Hätten Sie sich doch besser mit der christlichen Geschichte beschäftigt!“ Darüber musste ich sehr lachen und meinte bedauernd: „Das ist es ja eben!““

Singen war anfangs Karstens Nebenberuf, es begeisterte ihn. Bald sang er „alles, was ich an jiddischen Liedern finden konnte, die Platten von Vater, Lieder, die mir ältere Überlebende vorgesungen hatten, Volkslieder, die Hans Laessig mich lehrte (ein ehemaliges Mitglied der „Roten Kapelle“), Bettina Wegners jiddische Lieder, Wolf Biermanns a capella-Version von „Soll sein, as ich boj in der Luft meine Schlesser„. Und Salomea Genin gab mir eine Mappe mit Liedern, die ihre Mutter erinnert und aufgeschrieben hatte. Sie sang mir die Melodien herrlich gefühlvoll mit Vibrato vor. Salomea wurde zu einer wichtigen Freundin. Die 1932 in Berlin geborene Jüdin hatte nach der Emigration in Australien seit 1951 versucht, einfach eine deutsche Kommunistin zu werden. Es ist ihr nicht gelungen. In den 1980er Jahren sprach sie über ihre Rückkehr zum Jüdischsein. Von ihr hörte ich zum ersten Mal das Wort „Identität“.“

Sara Bialas-Tenenberg

Nun begann er, auch seinen Vater nach den Wurzeln für dessen Interesse für die jüdische Literatur und Kultur zu befragen. Irgendwann erzählte dieser ihm, daß sein eigener Vater eigentlich Jude gewesen wäre, „denn er hatte eine jüdische Mutter, Ella Nathan. Also per Nazidefinition „Halbjude“.“

Die jiddische Sprache, die Karsten Troyke sich angeeignet hatte, wurde zu einem Teil seiner Identität. Maßgeblich trug dazu auch seine Freundschaft zu Sara – Sara Bialas-Tenenberg – bei.

„Sara, die eigentlich Stefania hieß, stammt aus Czestochowa, Polen. Daß ich sie erst 1987 traf, erscheint mir heute unwahrscheinlich, denn es ist mir, als hätten wir uns schon immer gekannt. Sie ist 1927 geboren, 1939 wurde in ihrer Heimatstadt ein Ghetto errichtet, ein halbes Jahr später wurde sie mit vielen anderen in einem vollen Waggon zum Arbeitslager Gabersdorf deportiert. (…) All dies hat sie überlebt, jedoch nie wirklich „verkraftet“. Die Zeit nach der Befreiung war ein schrecklicher Schock, denn die Familie war ausgelöscht worden. Nicht einmal das Haus war mehr da. Sie heiratete einen anderen Überlebenden und über das DP-Lager Ainring in Bayern und eine Zeit in Paris kamen sie nach Israel. 1961 kam sie als Kommunistin in die DDR. (…) Jedenfalls war es die neue sozialistische Welt, die sie wählte und es war eine böse Überraschung, daß es am Ende doch – auch im Osten – einfach nur Deutschland war.“

Sara kam, wie auch Salomea Genin, 1987 in Berlin zu den ersten „Tagen der Jiddischen Kultur“, wo Karsten Troyke unter Anderen auftrat. Hier begann auch die Zusammenarbeit mit Jalda Rebling, Tochter von Lin Jaldati (s.o.), Sängerin – und Organisatorin der Kulturtage.

Daraus wurden enge Freundschaften: Sara stand „nach der Vorstellung am Ausgang, wir rauchten zusammen, sprachen über Berlin-Köpenick, wo ich aufgewachsen war und wo sie jetzt wohnte – und verabredeten uns. Schnell stellte sich heraus, daß Sara weniger eine Lehrerin sein konnte, als vielmehr das Interesse an „ihren“ Liedern genoss und erzählte, erzählte, erzählte. Es war erschreckend, all die Einzelheiten aus dem KZ zu hören, und es war mir vertraut zugleich.“

Wenig später stand er gemeinsam mit Sara auf der Bühne, rührende Szenen, die auf das Publikum übersprangen.

Karsten Troyke fügt hinzu: „Aus allen Orten ihres Lebens erinnerte Sara Lieder, jiddische Volkslieder von ihren Eltern, Lieder aus dem KZ, Schlager aus dem DP-Lager, französische und israelische Lieder. Sie sang sie mir auf Kassetten und ich konnte oft die Melodie oder den Text nicht gut erkennen. Götz Lindenberg (mein langjähriger Pianist) und ich instrumentierten die Stücke, und wenn etwas nicht so klang, wie sich Sara erinnerte, sagte sie: „Dus is nischt git“ – nicht gut. Ich hatte inzwischen jiddisch lesen und schreiben gelernt und fing an, alles in Sara’s polnisch-jidischem Dialekt zu singen. In der Transkription passte ich das an und schrieb nun „jidisch“, statt „jiddisch“, weil das Wort ja nur mit einem hebräischen „D“ geschrieben wird. (…) Sara, ihre Söhne und ich reden bis heute fast nur noch jiddisch miteinander.“

In den letzten Jahren kamen seine – vorhergehend beschriebenen – gemeinsamen Auftritte mit Sharon Brauner, Harry Ermer und Daniel Weltlinger hinzu. Ihr gemeinsamer, berührender Song Dance me to the end of Love hat inzwischen Kultstatus.

Karsten Troyke feierte dieser Tage seinen 60. Geburtstag. Wir wünschen Masal tov, weiterhin viel Kreativität und Gesundheit, ad 120.

Alle Zitate aus: Karsten Troyke (2015): „Schreib über Deine Identität!“ In: Nea Weissberg & Jürgen Müller-Hohagen (Hg.): Beidseits von Auschwitz – Identitäten in Deutschland nach 1945, Lichtig Verlag, S. 178-184

Alle CDs und Auftritte von Karsten Troyke – gerade in der Corona-Krise!:
https://www.karsten-troyke.de/

Bild oben: (c) R. Kaufhold