Der Spielleiter der Oberammergauer Passionsspiele Christian Stückl über die schwere Bürde der antisemitischen Tradition des Volkstheaters…
Von Gerhard Haase-Hindenberg
Zuerst erschienen in: Jüdische Allgemeine v. 07.06.2020
Es war ein Versprechen, das im Jahr 1634 zur Gründung der Oberammergauer Passionsspiele führte. Sollte Gott fortan den oberbayerischen Ort von der Pest verschonen, so der Schwur, werde man künftig alle zehn Jahre die Passionsgeschichte von Jesus von Nazareth szenisch darstellen. Es war der Beginn einer inzwischen mehr als 300-jährigen Volkstheater-Tradition, die auch zu einer unseligen Tradition des christlichen Antijudaismus wurde. Damit wollte Spielleiter Christian Stückl schon bei seinem Amtsantritt 1990 aufräumen, doch er stieß auf hartnäckigen Widerstand. Am 16. Mai sollte nun endlich eine stark veränderte Version des Passionsspiels aufgeführt werden, die weitgehend auch den Forderungen der Experten des amerikanischen Rates der jüdisch-christlichen Beziehungen (CCJR) entgegenkommt. Nun aber stoppte das Coronavirus die diesjährigen Passionsspiele. So ist nun erst für den 14. Mai 2022 jene Aufführung geplant, in der Jesus und seine Anhänger nicht als frühe Christen, sondern als innerjüdische Gruppe gezeigt werden sollen.
Herr Stückl, die Oberammergauer Passionsspiele waren über drei Jahrhunderte mit teils offenen, teils subtilen antijüdischen Klischees behaftet. Nach dem Holocaust forderten jüdische Künstler wie Leonard Bernstein, Arthur Miller oder Billy Wilder, am Stück entsprechende Änderungen vorzunehmen. Damals waren Sie noch ein Kind. Wann haben Sie davon erfahren?
Ich bin in einem Wirtshaus in Oberammergau aufgewachsen, und mein Großvater und auch mein Vater waren sehr stark ins Passionsspiel involviert. Schon als Kind habe ich mitbekommen, dass am Stammtisch ständig über das Thema Antisemitismus diskutiert worden ist. Ich hatte auch schon mal etwas von der Schoa gehört, aber im Zusammenhang mit dem Passionsspiel konnte ich das gar nicht einordnen. Dann habe ich in den Siebzigern bei uns im Haus das »Schwarzbuch« gefunden, einen Forderungskatalog des Rabbiners Marc Tanenbaum vom American Jewish Committee, der beschrieben hat, was im Stück alles antisemitisch ist, und ich konnte nicht verstehen, warum bei uns im Dorf so wenig Bereitschaft bestand, damit umzugehen.
Nach dem Krieg waren es ja noch dieselben Leute, die das Stück schon in der Nazi-Zeit aufführten …
Sicher! Mein Vorvorgänger ist sehr stark in der NSDAP involviert gewesen, und nachdem er »entnazifiziert« und wiedereingesetzt worden war, hat er behauptet, dass er von den Nazis vereinnahmt worden sei. Aber wenn man genau nachschaut, dann stellt man fest, dass er es war, der das Spiel im Sinne der Ideologie verändert hatte. Er hat dann seine ganze Gruppe wieder um sich geschart, und sie haben sich 30 Jahre lang gesträubt, irgendeine Veränderung am Text vorzunehmen. Bis dann in den Siebzigern Kardinal Döpfner kam und »Nostra Aetate«, eine Erklärung zum Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen, auf den Tisch gelegt hat. Als man daraufhin noch immer nichts verändern wollte, wurde uns der kirchliche Segen entzogen. In den Achtzigern hat dann Kardinal Ratzinger den Segen wieder erteilt, und da sah man schon gar keine Notwendigkeit, etwas zu verändern. Als ich dann 1990 Spielleiter wurde, kannte ich die Forderungen von jüdischer Seite fast auswendig. Ich habe gesehen, wo antisemitische Ansätze zu erkennen waren. Weil ich erst 24 Jahre alt war, hatte mir die katholische Kirche einen Theologen vor die Nase gesetzt, und der sagte: »Wir müssen aufpassen, dass wir uns von den Juden nicht unser Evangelium zusammenstreichen lassen.«
Zehn Jahre später machten Sie sich dann mit Ihrem Dramaturgen Otto Huber an eine erste Reform des Textes …
… und dabei ging es nicht nur um die Umsetzung des Forderungskatalogs, sondern auch darum, dass wir bei uns selbst mal nachschauen, wo denn überall Antisemitismus steckt. Das Passionsspiel besteht aus zehn Spielszenen, und dazwischen kommen immer lebende Bilder aus dem Alten Testament. Diese waren besonders problematisch. Man hat nämlich immer die Josephsbrüder gleichgesetzt mit den Hohepriestern als denjenigen, die Jesus ans Kreuz nageln wollten. Also die bösen Josephsbrüder verkauften ihren Bruder nach Ägypten, und so verkauften die Juden ihren Jesus an Pilatus. Gemeinsam mit Otto Huber haben wir diese Bilder durch neue ersetzt. Dabei ging es darum, zu zeigen, dass das Christentum das Alte Testament nicht aufhebt, sondern dass Jesus sein Leben lang ein gläubiger Jude war. Es geht also nicht um einen Konflikt zwischen einem aufkommenden Christentum und dem Judentum, sondern um einen innerjüdischen Konflikt.
Wie machen Sie denn Jesus als Juden deutlich?
Ursprünglich stand im Ratssaal, dort, wo Jesus verurteilt wird, die Menora. Wir haben gesagt, sie muss da raus, und die Menora muss dorthin, wo Jesus ist, nämlich an den Abendmahltisch, der ein Seder ist. Die Segenssprüche von Jesus am Sedertisch beginnen nun mit: »Baruch ata Adonai elohejnu melech haolam …« Über eine der schwierigen Szenen hat Lion Feuchtwanger schon 1910 gesagt, die Vertreibung der Händler aus dem Tempel hätten die Oberammergauer so groß gemacht, dass man meinen könnte, Jesus sei gestorben, weil er sich mit den Kleingewerbetreibenden angelegt hat. Wir haben uns gefragt, warum Jesus das gemacht hat, und dabei herausgefunden, dass er sich auf die Tempelrede von Jeremia bezieht, in der es heißt: »Mein Haus, spricht der Herr, ist ein Haus des Gebets!« Wir haben uns dann gefragt, wenn Jesus die Händler vertreibt, was er dann wohl dort betet, und wir kamen auf das Schma Israel. Der nächste Schritt war der, Judas anders zu charakterisieren. Für die aktuelle Fassung habe ich es so dargestellt, dass die Situation des Verrats gar nichts mit Geld zu tun hat. Er bekommt es hinterher, will es aber nicht und wirft es sofort in den Rat zurück. Judas ist in der neuen Fassung weniger ein Verräter als vielmehr ein Zelot, der Jesus dahin bringen will, dass er sich zum König über Israel macht. Er reagiert aus Enttäuschung, hat aber nicht den Vorsatz, ihn zu verraten. Wir schärfen auch die Figur des Pilatus und zeigen ihn als denjenigen, der maßgeblich am Jesusmord beteiligt ist. Schließlich sind wir so weit gegangen, dass der Hohepriester Kaiphas von den Ideen Jesu fast begeistert ist, von Pilatus aber gezwungen wird, Jesus den Römern auszuliefern.
Experten des amerikanischen Rates der jüdisch-christlichen Beziehungen (CCJR) kamen in einer Untersuchung der Neufassung des Stücks zu dem Ergebnis, dass Ihnen nicht durchweg gelungen ist, antisemitische Klischees zu tilgen.
Wir haben es mit 2000 Jahren christlichem Antijudaismus zu tun, der sehr stark in den Köpfen drin ist, und vielleicht übersehen wir auch selbst manche Dinge. Aber als in den 70er-Jahren Rabbiner Tanenbaum nach Oberammergau kam, gab es darüber gar keine Gesprächsbereitschaft. Ich aber war erst kürzlich wieder in New York und habe mich mit Rabbinern getroffen. Wir sind in der Diskussion, und das wirkt sich natürlich aus.
Ist demnach die aktuelle Kritik der jüdischen Experten aus Ihrer Sicht unberechtigt?
Eine Art von Berechtigung steckt da immer dahinter. Über die Jahrhunderte gab es so schwere Verletzungen, wie eben die Überzeichnung bestimmter Figuren wie beim Hohepriester Kaiphas, an die wir eben jetzt noch mal rangegangen sind. Wir sagen aber auch, dass wir keinen Koscherstempel wollen. Ich fürchte, dass wir einen bestimmten Antijudaismus nie ganz rauskriegen, weil die 2000-jährige Beziehung der Christen zum Judentum so verpestet ist. Wir können nur kontinuierlich im Dialog mit den jüdischen Organisationen und ihren Experten bleiben und weiterarbeiten.
Das Gespräch führte Gerhard Haase-Hindenberg.
Bild oben: Christian Stückl bei „Ausgehetzt“, Demonstration in München am 22. Juli 2018 gegen den Rechtsruck in der bayerischen Politik, (c) Henning Schlottmann, wikicommons