Übersetzbarkeit

0
52

Die seit 2017 unregelmäßig erscheinende Zeitschrift Jalta. Positionen zur jüdischen Gegenwart widmet sich in ihrer 7. Ausgabe dem Thema der Übersetzbarkeit. Die Herausgeber_innen Micha Brumlik, Marina Chernivsky, Max Czollek, Hannah Peaceman, Anna Schapiro und Lea Wohl von Haselberg sowie zahlreiche Autor_innen stellen sich die Fragen: „Was braucht es, um zwischen den Sprachen zu übersetzten? Wann ist Übersetzung ein Akt der Ermächtigung, wann einer der Aneignung, der die Besonderheit der Differenz nivelliert und ihr eine Funktion zuweist? Welche Machtverhältnisse kommen zum Ausdruck, wenn etwas unübersetzbar bleibt oder seine Unübersetzbarkeit behauptet wird?“…

Von Patrick Helber

In den Beiträgen geht es nicht nur um die Übersetzbarkeit von Texten, sondern auch um das Vermitteln von und zwischen unterschiedlichen jüdischen und nicht-jüdischen Standpunkten. Eine Voraussetzung für die Übersetzung stellt dabei die Überlappung von Räumen dar. Nur so können sich Menschen mit unterschiedlichen Meinungen und Sprechpositionen und / oder Texte in unterschiedlichen Gattungen und Sprachen begegnen. Die Genese eines solchen Raumes ist Prämisse von Jalta. Die Zeitschrift will einen „jüdisch-nicht-jüdischen Diskursraum“ schaffen, in dem über „jüdische Gegenwart“ nachgedacht und eine „intellektuelle und politische Auseinandersetzung“ stattfinden kann. Dabei auftauchende Widersprüche und deren Aushalten und Ausfechten bejahen die Herausgeber_innen ausdrücklich. Sie gehören zum „Sound und […] Programm dieses neuen postmigrantischen Judentums“. Die Mehrsprachigkeit zeichnet dabei nicht nur den postmigrantischen Sound des Judentums und die „radikale vielfältige Gesellschaft“ Deutschlands der Gegenwart aus, sondern ist auch ein Leitmotiv in der Geschichte der jüdischen Diaspora.

Das auf Hebräisch und Deutsch abgedruckte Gedicht „ish bin juden dichtar“ von Mati Shemoelof verknüpft dabei gegenwärtige und vergangene Sprache und Stimmen in Berlin und verdeutlicht, inwiefern Übersetzen immer auch ein Vermitteln zwischen Positionen und ein Überlappen von Räumen darstellt. Ersichtlich ist dies auch durch den Titel „Bagdad, Haifa, Berlin“ (AphorismA 2019), den Shemoelof für seinen Gedichtband wählte. Als arabischer Jude in Berlin sind Teile seines Gedichts „ish bin juden dichtar“ auf gebrochenem Deutsch, aber mit hebräischen Buchstaben verfasst. Der Originaltext erschließt sich nur einem Publikum, das sowohl Hebräisch als auch Deutsch lesen oder verstehen kann. Shemoelof verhandelt darin seine gesellschaftliche Position innerhalb der jüdischen Gemeinschaft als Mizrahi und als Migrant und Jude in Deutschland. Sein Übersetzer Jan Kühne bemerkt im Beitrag „Vom Misrachipoet zum Juden Dichtar. Mati Shemoelof setzt über“ die Ähnlichkeit Shemoelofs Sprache zum Jiddischen und hebt hervor, dass der Text auch die Shoah thematisiert und eine Brücke in die post-faschistisch Gegenwart schlägt: „ish bin juden, und ish bin arabisch. / warum kain viele hebre’ish in dein stadt, / aber so viele andere immigrant.“

Mirjam Wenzel, die Direktorin des Jüdischen Museums Frankfurt a. M. thematisiert im Beitrag „Dritte Orte. Warum Jüdische Museen umstritten und relevanter den je sind“ Kontroversen um Jüdische Museen in den USA, Polen und Deutschland. Sie rekapituliert die Geschichte Jüdischer Museen, deren Gründungen in Europa um 1900 stattfanden, ihre Zerstörung durch die Nationalsozialisten und bemerkt, dass gegenwärtig „nationale Perspektiven auf jüdische Geschichte und Kultur“ die „Bindung an die jüdische Gemeinde- und Lokalgeschichte“, die ursprünglich im Zentrum stand, abgelöst haben. Am Beispiel des Jüdischen Museum Berlins (JMB) thematisiert Wenzel den Rücktritt des Direktors Peter Schäfer 2019, der aufgrund der Ausstellung „Welcome to Jerusalem“ (2017-2019), eines Besuchs des iranischen Kulturrates, den der Iran politisch gegen Israel instrumentalisierte und eines einseitigen Tweets des JMB gegen den Bundestagsbeschluss zum Antisemitismus der BDS-Initiative massiv kritisiert wurde. Laut Wenzel hat das JMB „für diese Einladung des Nahostkonflikts ins eigene Haus einen hohen Preis gezahlt“. Wenzel macht eine „Frontstellung zwischen Jüdischen Museumsmacher*innen und jüdischen wie nicht-jüdischen Wissenschaftler*innen und Kurator*innen“ und deren Interesse an einem diversen Publikum und „jüdischen Publizist*innen, Vertreter*innen jüdischer Organisationen und Gemeinden“ aus. Letztere würden die „Identifikation der jüdischen Gemeinschaft mit Einrichtungen einfordern“. Zentral sei „die Frage, was jüdisch sei“. Im Sinne von Jalta plädiert Wenzel für das Museum als „Dritten Ort“, einen Raum in dem „innerjüdische Debatten“ und „die Selbstverständigung anderer kultureller Diasporagemeinschaften“ Platz haben. Dass sich ihr Beitrag allerdings gerade auf Stuart Halls Verständnis von Diaspora beruft, bringt nolens volens auch den Nahostkonflikts in ihre Argumentation. Hall lehnte den Zionismus ab und sah darin „die Rekolonisierung Palästinas“, legitimiert „in der Leidensgeschichte des jüdischen Volkes, aber auch in einem allumfassenden Anspruch auf eine Opferrolle, die keine Grenzen kennt“.[1] Die unkritische Übernahme postkolonialer Konzepte, bei all ihrer Notwendigkeit in Deutschland, birgt insbesondere im Kontext jüdisch-israelischer Räume die Übersetzung antisemitischer Argumentationsmuster durch die Hintertüre. Wie an der Diskussion um Achille Mbembe deutlich wurde, steht diese einem Dialog im Weg, ergo dem Übersetzen vom jeweiligen Ufer, sodass ein kreatives und emanzipatorisches Treffen im „dritten Raum“ nicht stattfindet.

Yossi Bartals Beitrag „Auch in Berlin sind wir nicht allein“ beschäftigt sich mit den gesellschaftlichen und politischen Verflechtungen, die ausgewanderten jungen Israelis in Berlin begegnen. Dabei greift er sowohl die gegenwärtige israelische Politik unter Benjamin Netanjahu, als auch die Vereinnahmung von Israelis durch die bundesrepublikanische Gedenkpolitik an. Bartal meint, „[n]ichts verkauft sich besser als Sex, der Holocaust und der Israel-Palästina-Konflikt – und dem Themenkomplex ,Israelis in Berlin‘ scheint es zu gelingen, alle drei Dinge mit einem Hauch von feuilletonistischer Tiefgründigkeit zu vereinen“. Laut Bartal wird in Israel „ Auswanderung offiziell geächtet und sogar als Verrat angesehen. Die Tür hinter sich zuzuschlagen […] ist aus diesem Grund eine der wenigen effektiven Protestgesten gegen die herrschende Politik.“ So könne einem Land der Rücken gekehrt werden, das „Körper als ein Kampfmittel gegen die palästinensische Bevölkerung“ betrachte. Bartal zeigt schonungslos auf, dass ein Interesse unter weißen Deutschen besteht, Israelis in Berlin zu instrumentalisieren, um sich von der nationalsozialistischen Vergangenheit abzugrenzen und gleichzeitig die Gefahr von Antisemitismus oder Homophobie auf alterisierte Gruppen, wie Muslime zu projizieren. Dass zugleich auch ein Bedarf an ,israelkritischen‘ jüdischen und israelischen Stimmen im post-faschistischen Deutschland existiert, verschweigt er allerdings. „Alibijuden“, wie Gideon Botsch die Juden in der rassistischen und antisemitischen AfD in seinem Beitrag im selben Heft kritisiert, sind auch unter linken ,Israel-Kritiker_innen‘ beliebt. Auch ihre Stimmen werden instrumentalisiert, um den jüdischen Staat zu Dämonisierung und sich zugleich dem Vorwurf des Antisemitismus zu entziehen. Die Kehrseite von „erstickende[r] Liebe“ ist Schuldabwehrantisemitismus im Gewand von Palästina-Solidarität. Zur radikalen Diversität jüdischer und israelischer Communitys in Deutschland gehören außerdem nicht nur die aus politischen Motiven Ausgewanderten. In Deutschland aufgewachsene und lebende Israelis of Color haben beispielsweise eine andere Sicht auf den jüdischen Staat. Er steht für die positive Erfahrung einer jüdischen Normalität und die Ruhe vor rassistischen „Wo kommst du wirklich her?“-Fragen im Berliner Alltag.

Weitere Texte beschäftigen sich u.a. mit der Schwierigkeit der Comicübersetzung („Vom Ursprung der Welt. Zum Übersetzungsprozess von Liv Strömquists Comic Kunskapens Frukt in den Ursprung der Welt“ von Katharina Erben), heute weitgehend unbekannten antisemitischen Übergriffen in der Bundesrepublik („Die antisemitische Welle“ im Winter 1959/1960 von Michael Becker) oder der Schaffung eines „dritten Raumes“, um so „Vielseitigkeit, Widersprüchlichkeit und Kontroversen“ diskutierbar zu machen, bei den Jüdisch-Muslimischen-Kulturtagen in Heidelberg („Jüdisch-Muslimische Kulturtage Heidelberg oder die Frage, wie wir Gesellschaft zusammen gestalten wollen“ von Susanne Mohn, Nasrin Farkhari, Yasemin Soylu, Caroline Thiemann und Danijel Cubelic). Auch ein sehr persönliches Interview mit Sawsan Chebli, geführt von Marina Chernivsky ist in der Ausgabe enthalten. Chebli verdeutlicht darin, dass Politiker_innen wie Übersetzer_innen agieren und sie selbst bei dieser Tätigkeit sowohl mit rassistischen Anfeindungen von weißen Deutschen als auch mit Ablehnung und der Verurteilung als „Verräterin“ aus der „arabischen Community“ zu kämpfen hat. Chebli schließt sich dem Leitsatz vom „Diskursraum“ der Herausgeber_innen an: „miteinander zu reden, auch wenn das manchmal unbequem ist“.

Die Ausgabe Übersetzbarkeit ist also ein Plädoyer zur Genese eines vielstimmigen, vielsprachigen und machtkritischen Streitraums. Ein harmonisches Endresultat ist dabei glücklicherweise nie das Ziel und im Aufsatz „Sergüzeşt. Das, was jemandem passiert“ von Meltem Kulaçatan kommt neben ansonsten dominanter Diskussion um intersektionelle Identitäten auch die Frage der Ökonomie und Herrschaft hervor, die Übersetzbarkeit verunmöglichen kann: „Sie habe abends oft keine Kraft mehr, noch Vokabeln zu lernen, und sie merke, dass sie sich zu alt dafür fühle“, berichtet eine türkische Frau, die in Deutschland an einem Imbiss im August 2019 schuftet.

Summa summarum machen die unterschiedlichen Beiträge die Lektüre zu einem inspirierenden, informativen, wenn auch nicht widerspruchsfreien Erlebnis. Für Abwechslung sorgt außerdem die Kombination von Prosa, Poesie, Interviews und Farbabbildungen, u.a. eine selbstbewusst menstruierende Eiskunstläuferin aus dem Comic Der Ursprung der Welt, „walla“!

Micha Brumlik/Marina Chernivsky/Max Czollek/Hannah Peaceman/Anna Schapiro/Lea Wohl von Haselberg (Hrsg.): Übersetzbarkeit. Jalta. Positionen zur jüdischen Gegenwart, 07, Neofelis Verlag 2020, 140 S., 16,00 €, Bestellen?

Patrick Helber, Jahrgang 1984, lebt in Berlin und ist Historiker, Museumsmensch, Radiomacher und Schreibmaschine. Seine Dissertation erschien unter dem Titel „Dancehall und Homophobie. Postkoloniale Perspektiven auf die Geschichte und Kultur Jamaikas“ im Transcript-Verlag.

[1]Stuart Hall: Vertrauter Fremder. Ein Leben zwischen zwei Inseln, Argument / InkriT, 2020, S. 151-152.