Erneut scheiterten die Koalitionsverhandlungen zwischen Ministerpräsident Benjamin Netanyahu und dem Oppositionskandidaten Benny Gantz. Jetzt liegt der Ball wieder bei der Knesset. Mitten in der verheerenden Coronavirus-Krise ist das Land damit auch weiterhin ohne Regierung…
Von Ralf Balke
„Es waren zwei Königskinder, die hatten einander so lieb, sie konnten beisammen nicht kommen, das Wasser war viel zu tief.“ Langsam aber sicher könnte diese alte Volksballade so etwas wie der Soundtrack zu dem Endlosdrama um die Bildung einer neuen und funktionsfähigen Regierung in Israel werden. Denn auch über sechs Wochen nach den Wahlen am 2. März haben es der amtierende Ministerpräsident Benjamin Netanyahu und der Kandidat der größten Oppositionspartei, Benny Gantz, immer noch nicht geschafft, sich auf die Modalitäten einer Koalition der Nationalen Einheit zu verständigen. Nun verstrich in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag das allerletzte Ultimatum. Bereits am Montag war die Zeit abgelaufen, die Gantz nach dem israelischen Gesetz zur Verfügung stand, um eine Regierung auf die Beine zu stellen. Nach dem Urnengang hatte Staatspräsident Reuven Rivlin ihn als Ersten ins Rennen geschickt, innerhalb der vorgeschriebenen Frist von 28 Tagen mit einem Resultat aufzuwarten. Normalerweise hätte Rivlin bei einem Misserfolg Gantz weitere zwei Wochen gewähren können. Doch dazu war das Staatsoberhaupt schon nicht mehr bereit – allenfalls zusätzliche 48 Stunden durften es noch sein. Aber auch in dieser Zeit konnte kein Ergebnis erzielt werden.
Eigentlich wäre es üblich gewesen, nach dem Scheitern von Gantz eine andere Person, die gute Karten gehabt hätte, eine Regierung zu bilden, daraufhin den Auftrag zu erteilen. Das wäre dann Netanyahu gewesen. Doch offensichtlich war Rivlin selbst dazu keineswegs mehr gewillt. Offensichtlich will er so den Druck auf alle Beteiligten erhöhen, sich endlich zusammenzuraufen. Damit geht nun das Mandat an die Knesset. Konkret bedeutet dies: Jeder Abgeordnete dort kann den Versuch wagen, innerhalb der nächsten 21 Tage eine Mehrheit von mindestens 61 der 120 auf sich einzuschwören und eine Regierungsmannschaft zu präsentieren – das gilt übrigens weiterhin auch für Netanyahu und Gantz. „Ich hoffe, dass die Knesset-Abgeordneten in der Lage sein werden, eine Mehrheit zu bilden, um so bald wie möglich eine Regierung zu bilden“, erklärte Rivlin am Donnerstagmorgen. „Nur so ließe sich ein vierter Wahlgang verhindern.“
Dabei hat es vor wenigen Wochen noch so ausgesehen, als ob die Coronavirus-Krise alle Beteiligten dazu gebracht hätte, angesichts der verheerenden Entwicklungen, die die Pandemie für das Land mit sich bringt, nun auf einen grünen Nenner zu kommen. So wurde in einer dramatischen Wende Gantz völlig überraschend am 26. März zum Knessetsprecher gewählt. Er ersetzte damit Yuli Edelstein vom Likud, der es vorgezogen hatte, seinen Platz zu räumen, bevor ihn der Oberste Gerichtshofes dazu hätte zwingen müssen. Gantz aber sollte diesen wichtigen Posten nur so lange ausüben, bis eine Koalition der Nationalen Einheit schließlich das Ruder übernimmt und er dort ein Ministeramt erhält. Ausgehandelt war ein Rotationsverfahren. Erst sollte Netanyahu Regierungschef werden, im Oktober 2021 dann er.
Gantz selbst hatte erklärt, dass ihn die aktuelle Situation, die einem nationalen Notstand gleiche, dazu bewogen hätte, diesen Schritt zu gehen. Damit brach er ein altes Versprechen, niemals unter einem Ministerpräsidenten Netanyahu ein Amt zu übernehmen. Aber auch Netanyahu hatte ein gepflegtes Interesse, diesen Move zu unterstützen und die Kröte Rotation zu schlucken. Denn wenn er es irgendwie schaffen würde, Gantz in eine Koalition mit einzubeziehen, dann wäre auch das Damokles-Schwert in Gestalt einer 61-köpfigen Anti-Bibi-Mehrheit in der Knesset wieder verschwunden, das gerade über ihm schwebt. Diese Zahl an Parlamentariern ist nämlich notwendig, um eine geplante Gesetzesvorlage mehrerer Parteien zu verabschieden, die die Wahl einer Person zum Ministerpräsidenten untersagt, gegen die gerade ein Gerichtsverfahren läuft. Und Gantz zählte ursprünglich zu den Unterstützern genau dieser Initiative.
Gantz hatte mit diesem Schritt sogar eine Spaltung seines Blau-Weiß-Bündnisses in die drei ursprünglichen Parteien Chosen LeIsrael, Telem sowie Yesh Atid in Kauf genommen. Die geschah dann auch prompt, weil zahlreiche Parlamentarier aus dieser Liste da nicht mitspielen wollten. „Gantz hat sich wohl entschieden, ohne Kampf in eine Netanyahu-Regierung hineinzukriechen und verrät damit unsere Wähler“, erklärte ein sichtlich verärgerter Yesh Atid-Chef Yair Lapid. Das stimmt nur zum Teil. Laut einer Umfrage des TV-Kanals 12 befürworten 56 Prozent der Blau-Weiß-Wähler die Entscheidung von Gantz, aber nur 20 Prozent von ihnen glauben, dass Netanyahu auch wie geplant im Oktober 2021 den Stab an ihn weiterreichen wird. Generell finden 61 Prozent aller Israelis das Ganze richtig, 31 Prozent sind dagegen. Das Ergebnis dieser Wende in den Verhandlungen wäre dann eine Art Koalition der Nationalen Einheit „light“ geworden. Im Gespräch war ursprünglich eine Regierung, die vom Likud, der Chosen LeIsrael-Partei von Gantz, Yoaz Hendel sowie Zvi Hauser, zwei Überläufern aus Telem, die unter dem Namen Derech Eretz ihre eigene Gruppe gebildet hatten, den beiden politischen Vertretungen der Orthodoxen, also Vereintes Torah-Judentum und Shass, den zwei Rechtsaußenparteien sowie der Gesher-Vorsitzenden Orly Levy-Abekassis getragen werden sollte. Die Arbeitspartei hätte mit an Bord sein sollen. Doch interne Opposition gegen dieses Vorhaben scheint das gerade wieder zu verhindern.
Was die weiteren Koalitionsverhandlungen aber erst zum Stocken und nun zu einem Scheitern brachte, war der Streit über die Ressortverteilung. Um alle beteiligten Parteien zufriedenzustellen, hieß es, dass die neue Regierung satte 36 Minister zählen würde. Zahlreiche Schlüsselministerien wären an die Getreuen von Gantz gegangen, was wiederum den Vertretern der beiden Rechtsaußenparteien nicht gefiel. Am Ende platzten die Gespräche aber darüber, wer das Justizministerium erhalten soll. Weil in diesem Ressort alle wichtigen Entscheidungen in dem Korruptionsverfahren gegen Netanyahu gefällt werden, dürfe dieser Posten keinesfalls an eine Person gehen, die dem Ministerpräsidenten vielleicht nicht hundertprozentig wohlgesonnen ist, hieß es vor allem aus dem Likud. Zwar erklärten Gantz und Netanyahu, dass sie trotz der Entscheidung von Rivlin, ihre Gespräche fortsetzen würden. Aber eine Regierungsbildung scheint so wieder in weiter Ferne gerückt.
All das ist umso dramatischer, weil zu der politischen Krise, die bereits seit Ende 2018 andauert, nun auch die Coronavirus-Krise hinzugekommen ist. Und die Auswirkungen der Pandemie sind für das Land katastrophal. Zwar steht im internationalen Vergleich Israel sehr gut da, wenn es um die Zahlen der Infizierten und an COVID-19 Verstorbenen geht. Am Donnerstagmorgen gab es 12.591 positiv auf den Coronavirus getestete Personen. 140 sind mittlerweile an den Folgen einer Infektion verstorben. Im Ranking der Analyseagentur Deep Knowledge Group, die zahlreiche Staaten nach ihren Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz vor dem Virus untersucht hatte, landete Israel auf Platz Eins, auf den Rängen dahinter folgen Deutschland und Südkorea. Doch das Ganze hat einen hohen Preis: Der Lockdown war umfassender als anderswo, was zur Folge hatte, dass das Wirtschaftsleben quasi zum Erliegen kam und die Arbeitslosenzahlen förmlich durch die Decke gingen. Bereits Anfang April waren über eine Million Israelis arbeitslos gemeldet. Das sind mehr als 24 Prozent aller Beschäftigten – zum Vergleich: Vor Ausbruch der Pandemie betrug die Arbeitslosenquote in Israel gerade einmal 3,7 Prozent. Mancherorten wie in Eilat, wo der Tourismus die meisten Menschen beschäftigt, liegt die Quote sogar bei schwindelerregenden 70 Prozent.
Während abhängig Beschäftigte für einen begrenzten Zeitraum Arbeitslosenunterstützung in Höhe von bis zu 75 Prozent ihres Einkommens erhalten, haben Selbständige und Freiberufler in Israel keinerlei Anspruch auf irgendwelche Leistungen. Konzepte wie das Kurzarbeitergeld sind unbekannt. Zwar hat die amtierende Regierung ein Paket mit Hilfsmaßnahmen beschlossen, so dass rund 175.000 von ihnen mit einem Zuschuss von bis zu 6.000 Schekel, umgerechnet rund 1.250 Euro, rechnen können. Doch wer die astronomischen Lebenshaltungskosten in Israel kennt, weiß genau, dass man mit diesem Geld nicht sehr weit kommt. Zudem hat man in Jerusalem einen Rettungsplan vorgestellt, um der Wirtschaft mit 80 Milliarden Schekel, also knapp 20 Milliarden Euro, unter die Arme zu greifen, damit sie die Folgen der Pandemie irgendwie meistern können. Aber auch diese Summe dürfte bei weitem nicht ausreichen. Und die Kosten der Coronavirus-Krise sowie die durch sie bedingten Steuerausfälle in diesem Jahr dürften das Land vor wirtschaftliche und soziale Probleme stellen, wie es sie noch nie in seiner Geschichte erleben musste.
Die unmittelbare Zukunft scheint auf jeden Fall ziemlich finster. So geht der Internationale Währungsfonds (IWF) davon aus, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) aufgrund der Auswirkungen der globalen Coronavirus-Pandemie im Jahr 2020 um 6,3 Prozent schrumpfen wird und womöglich erst 2022 wieder auf das gegenwärtige Niveau zurückkehren wird. Sie widersprechen damit den Analysten der Bank of Israel, die in ihrer Prognose von einem Rückgang der Wirtschaftsleistung in diesem Jahr von lediglich 5,3 Prozent ausgehen und bereits für 2021 mit einem Wachstum von 8,7 Prozent rechnen, wodurch die Folgen der Pandemie bald mehr als nur ausgeglichen wären. Man gehe sowieso davon aus, dass die Wirtschaft bis Juni wieder voll funktionsfähig sein wird. Die Researcher des IWF erwarten dagegen nicht nur ein größeres Minus für dieses Jahr als ihre Kollegen von der Bank of Israel. Sie prognostizieren darüber hinaus auch einen bescheideneren Aufschwung von nur fünf Prozent für das Jahr 2021. Und was die Arbeitslosigkeit betrifft, so nennt der IWF bis zum Ende diesen Jahres eine Quote von zwölf Prozent und glaubt an einen Rückgang auf 7,6 Prozent im kommenden Jahr. Im Vergleich zu anderen entwickelten Volkswirtschaften fallen die Vorhersagen für Israel damit deutlich pessimistischer aus. Generell glaubt man beim IWF, dass die kommende weltweite Rezession die Dimensionen der Finanzkrise von 2008 „in den Schatten stellen“ wird und nach der Großen Depression der 1930er Jahre die wohl zweitgrößte Krise aller Zeiten sein könnte. Ohne funktionsfähige Regierung eine solche Situation zu meistern, dürfte wohl eine weitere Herausforderung sein.
Bild oben: The President of Israel, Reuven Rivlin taskPräsident Rivlin beauftragt Beni Gantz (l.) mit der Regierungsbildung, 23. oktober 2019, (c) Haim Zach / GPO