Tmol Schilschom

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David Ehrlich habe ich nie kennengelernt. Über sein Leben als Schriftsteller und Poet, als Homosexueller aus dem weltoffenen Ramat Gan, der in das homophobe Jerusalem aus freiem Willen zog, und über seine akademische und journalistische Karriere las ich erst in den Nachrufen der Presse. Trotzdem stimmte mich die Nachricht über seinen Tod sehr traurig. Denn Ehrlich gründete und leitete ein Literaturcafé in Jerusalem, eine Oase der Normalität in einer Stadt, die immer verrückter geworden ist…

Von Benjamin Rosendahl
Erschienen bei: Re:Levant, 30.03.2020

Der Schriftsteller Meir Schalew meinte dazu, dass es früher einen Verrückten pro Wohngegend gab – heute wird man Schwierigkeiten haben, einen nicht-Verrückten pro Wohngegend zu finden. Das Cafe war sehr versteckt: Man musste durch ein Tor in der Nachlat-Schiwa-Gegend in einen Hinterhof gehen, und dort zwei Stockwerke hinaufgehen, um durch eine kleine Holztür zum Café zu gelangen. (Tmol Schilschom gibt es noch, aber es ist wegen Corona fürs Erste geschlossen, daher schreibe ich in der Vergangenheit).

Dort kam einem der Geruch heißen Tees mit marokkanischen Kräutern entgegen, vermischt mit der kühlen Brise Jerusalems, und den Worten der besten Poeten und Musikern des Landes entgegen. Die auf den Mosaik des Jerusalemer Steines stehenden Regale waren mit Weinen und Bücher gefüllt, die man auch kaufen konnte.

Ich habe sehr viele persönliche Erinnerungen an das Café: Meine Schwägerin arbeitete dort während ihrer Studienzeit als Kellnerin, und schüttete mit großem Charme den Gästen heißen Tee in den Rücken (der Charme ist ihrer Zeit in Kalifornien zu verdanken, wo man immer den Kunden anlächelt). Auch ging ich dort mit meiner heutigen Frau auf Rendezvous, als wir beide Studenten in der Hebräischen Universität waren. Das war im letzten Jahrtausend. Kürzlich, mehr als zehn Jahre, seitdem wir nicht mehr in Jerusalem leben, gingen wir, diesmal mit unserer Tochter, an den Tatort unserer romantischen Treffen zurück…

Waisenhochzeit

Tehya Dov schlägt (in “Haaretz”) eine Lösung für die Coronakrise vor: nach alter paganischer Tradition, die auch im Judentum ausgeübt wurde, wurden bei Epidemien zwei Waisenkinder in einem Friedhof verheiratet. Dieser Brauch sollte die himmlischen Entscheidungsträger besänftigen, und hat nach einigen Quellen dies auch getan…

The times, they are a-changing…

So sagt Bob Dylan, und kaum ein Satz passt besser auf die weltweite Coronakrise. David Grossmann philosophiert in “Haaretz” über die Frage, wie uns die Angst und die Quarantäne ändern wird, und ist sich eigentlich nur über eines klar: wir werden geändert herauskommen. Einige werden religiös werden, andere werden ihren Glauben verlieren. Einige werden Kinder in die Welt setzen, andere werden sich dazu entscheiden, keine Kinder in die Welt zu setzen.

Sigal Rahav-Meir stellt in dem Zusammenhang eine weitere Frage (auf “Jedioth” und in ihrer Internetpräsenz): Man hört derzeit viel von der Rückkehr zur Normalität. War unser dekadenter Lebensstil wirklich normal? Die enormen Summen, die wir für Bar-Mitzwahs und andere Familienfeiern ausgaben? Das ständige Reisen ins Ausland? Vielleicht, so Rahav-Meir, sollten wir uns keine Rückkehr zur Normalität wünschen, sondern eine neue Normalität – wo es normal ist, dass wir so viel Zeit wie möglich im Kreise unserer Familie verbringen, wo es normal ist, dass wir unsere Mahlzeiten selbst kochen und gemeinsam essen, wo es normal ist, dass ein Ausflug ein Spaziergang in Gehweite unserer Wohnungen sind?

Dann wird ein Treffen in einem kleinen Cafe in Jerusalem eine teure Reise in ein entferntes Land ersetzen.

Ein Café in Jerusalem

Zurück zum Literaturcafé: Es heißt Tmol Schilschom, wortwörtlich “gestern-vorgestern”. Gemeint sind vergangene Tage, eine Erinnerung aus einer Zeit, die lange vorbei ist. Und so kommen mir die Tage vor, als wir im Tmol Schilschom saßen, und bei einer Tasse Kaffee oder Tee über Gtt und die Welt diskutierten. Es scheint, als ob beide anderes für uns anderes vorhatten…

Familie Rosendahl im “Tmol Schilschom”

Benjamin Rosendahl ist Projektleiter, Übersetzer und Journalist. In München geboren, lebt er in Tel-Aviv mit seiner Frau Liron und der gemeinsamen Tochter Alma.

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Die Online-Zeitung wurde von Leah Grantz und Benjamin Rosendahl gegründet, da sie erkannt haben, dass bei vielen Reportagen wichtige Fakten und Informationen herausgelassen werden und ein anderes Israel dargestellt wird, als das, das sie kennen. Die beiden Gründer sind ursprünglich aus München und haben zu unterschiedlichen Zeiten Aliyah gemacht und leben seither in Israel. 
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