Placebo-Effekt oder wirksame Prävention?

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Israel greift zu drastischen Massnahmen, um die Ausbreitung des Corona-Virus zu verhindern. Hunderte Israelis befinden sich bereits in Quarantäne – Staatsbürgern asiatischer Länder wird die Einreise verweigert. Die politische Paralyse und anstehende Wahlen machen es nicht unbedingt einfacher…

Von Ralf Balke

Ihn dürfte es sehr wahrscheinlich nicht treffen. Denn wenn Staatspräsident Reuven Rivlin von seinem Besuch in Australien zurückkehrt, wird er wohl kaum anschließend zwangsweise in die Quarantänestation müssen. Doch anderen Israelis könnte genau dieses Schicksal drohen, wenn sie aus ihrem Urlaub oder von einer Geschäftsreise den Heimweg antreten. Grund dafür ist der Corona-Virus, auch bekannt unter der Bezeichnung COVID-19. Zwar will die Weltgesundheitsorganisation WHO noch nicht von einer Pandemie sprechen. Der sprunghafte Anstieg der Zahl der infizierten und verstorbenen Personen in immer mehr Ländern bereitet den Verantwortlichen weltweit jedoch großes Kopfzerbrechen, so auch in Israel.

Gesundheitsminister Yaakov Litzman erklärte deshalb am Montag, dass man bereits Überlegungen anstelle, Reisende, die zuvor in Italien und Australien gewesen waren, nach ihrer Rückkehr automatisch unter Quarantäne zu stellen. „Wir empfehlen Israelis daher, derzeit nicht nach Italien zu fliegen“, so Litzman im Militärradio. Bis zum Dienstagvormittag wurden in Israel selbst offiziell nur zwei Personen identifiziert, die den Corona-Virus in sich tragen. Vier weitere befinden sich in Behandlung in Japan. Sie gehören zu einer Gruppe von fünfzehn Israelis, die sich zusammen mit rund 3.700 anderen Passagieren an Bord des Kreuzfahrtschiffes Diamond Princess befanden, das zwei Wochen vor der japanischen Küste von den Behörden zwangsweise festgesetzt wurde, nachdem eine Person, die in Hongkong zugestiegen war, sich als infiziert erwies. Todesfälle sind in Israel bis dato noch keine zu beklagen, aber die Situation kann sich schlagartig ändern – Italien und Südkorea sind erschreckende Beispiele.

Doch hunderte von Israelis befinden sich bereits seit Tagen in Quarantäne. Sie hatten das Pech, einer größeren Reisegruppe aus Südkorea über den Weg zu laufen, die vom 8. bis zum 15. Februar auf Pilgerfahrt im Heiligen Land unterwegs war. Nach ihrer Rückkehr wurden neun der Touristen positiv auf den Corona-Virus getestet. Weil die Inkubationszeit bis zu zwei Wochen dauert und auch Personen, die noch nicht erkrankt, aber infiziert sind, COVID-19 weitergeben können, wollte man einfach auf Nummer sicher gehen. Das Gesundheitsministerium in Jerusalem hatte sofort eine Liste aller Stationen veröffentlicht und detailliert festgehalten, wann die frommen Südkoreaner wo genau unterwegs gewesen waren. Personen, die für fünfzehn Minuten und länger sich in unmittelbarer Nähe – sprich weniger als zwei Meter Abstand – zu ihnen aufgehalten hatten, sollten die eigenen vier Wände die kommenden zwei Wochen besser nicht mehr verlassen. Unter den Betroffenen in Israel befinden sich zahlreiche Schüler und Lehrer, die zeitgleich mit den Südkoreanern bestimmte Orte wie Masada am Toten Meer besucht hatten. Darüber hinaus wurden Mitarbeiter und Reiseführer in den diversen Naturparks, in denen die Pilgergruppe unterwegs war, zur Sicherheit nach Hause geschickt. Ähnliche Massnahmen ergriff ebenfalls das palästinensische Gesundheitsministerium in Ramallah, weil die Südkoreaner auch Nablus, Bethlehem, Jericho und Hebron besucht hatten.

Zudem haben die Behörden Reisewarnungen für einige asiatische Staaten ausgesprochen, nur wird die Liste immer länger. Seit Montag müssen sich Israelis, die aus China, Hongkong, Macao, Thailand sowie Singapur kommen, einer Quarantäne unterziehen. Nicht-Israelis, die sich bis zu zwei Wochen zuvor in einem dieser Länder aufgehalten hatten, wird die Einreise komplett verweigert. Gleiches gilt für die Staatsbürger aus asiatischen Ländern wie China oder Südkorea. Nach Bekanntgabe des Vorfalls mit der Pilgergruppe, untersagte man am Sonntag den nicht-israelischen Passagieren des Korean Air-Fluges 957 aus Seoul nach der Landung in Tel Aviv das Verlassen der Maschine. Die Südkoreaner an Bord wurden samt Flieger direkt wieder nach Hause geschickt – ein Vorgehen, das zwischen Jerusalem und Seoul für schlechte Stimmung sorgte. In einer Note beschwerte sich das südkoreanische Außenministerium für den diskriminierenden sowie ruppigen Umgang mit seinen Staatsbürgern. Man hoffe, dass sich so etwas nicht wiederhole, zudem sei man bereit, gegebenenfalls alle Südkoreaner aus Israel auszufliegen.

„Ich glaube nicht, dass die Maßnahmen in Israel unverhältnismässig sind“, lautet dazu die Einschätzung von Dr. Eyal Leshem, seines Zeichens Direktor am Zentrum für Reisemedizin und Tropische Krankheiten des Sheba Krankenhauses in Tel Hashomer. Trotzdem glaubt auch er nicht daran, dass die Maßnahmen des israelischen Gesundheitsministeriums die Ausbreitung des Virus wirklich verhindern können. Wohl aber ließe sich durch solche Schritte wie die verhängten Reisebeschränkungen das Tempo reduzieren, mit dem COVID-19 weitergegeben wird. Auf diese Weise wird Zeit gewonnen, um Krankenhäuser und Ärzte besser vorzubereiten, so der Experte. „Die Menschen müssen verstehen, dass wir nur ein begrenztes Zeitfenster haben, um den Corona-Virus irgendwie unter Kontrolle zu bringen“, heißt es dazu ebenfalls aus dem Gesundheitsministerium in Jerusalem. „Ansonsten wird er sich auf das ganze Land ausbreiten.“ Aus Gründen der Solidarität und der Sorge um kranke sowie alte Menschen sollten die Quarantäneanordnungen strikt befolgt werden. Denn wie überall gilt die Regel: Senioren und chronisch Kranke, deren Immunsystem bereits geschwächt ist, haben im Falle einer Infektion mit COVID-19 schlechte Karten. Diese hat aber auch das Gesundheitssystem in Israel ganz generell. Sein Manko lautet: Seit bald einem Jahr gibt es keine wirklich funktionierende Regierung, weshalb auch kein Haushalt verabschiedet werden konnte und es bei der Finanzierung von Krankenhäusern und sonstigen Einrichtungen wenig Planungssicherheit gibt. Überall herrscht ein Mangel an Betten in der Intensivpflege oder anderen Bereichen. Im Falle einer plötzlichen Infektion von Tausenden von Israelis mit dem Corona-Virus würde das Gesundheitssystem schlichtweg kollabieren, weil es bereits heute schon ohne eine Epidemie über keine nennenswerten Ressourcen als Reserve mehr verfügt.

Und deshalb sieht alles ein wenig nach unbeholfenem Aktionismus aus. So will man zu dem Tel Aviv Marathon am Freitag keine ausländischen Athleten zulassen – sie könnten ja Virusträger sein. Einige Stimmen forderten sogar eine Verschiebung der Wahlen zur Knesset am 2. März. Ministerpräsident Benjamin Netanyahu erklärte, dass es dafür keinen Grund gebe. „Ich glaube, dass wir derzeit alles unter Kontrolle haben.“ Hinzu kommen einige ganz banale Fakten, die in Israel die Situation verkomplizieren könnten. Das Land ist schlichtweg deutlich dichter besiedelt als beispielsweise das vom COVID-19 stark betroffene Italien, wo die Verantwortlichen gleich ganze Ortschaften abriegelten und unter Quarantäne stellten. Aber angenommen, in Petah Tikva oder Holon gäbe es plötzlich 200 Infizierte. Wie ließen sich diese Städte isolieren? Der gesamte Großraum Tel Aviv wäre lahm gelegt, was allein schon aus wirtschaftlicher Perspektive ein Desaster gigantischen Ausmaßes werden könnte.

Bereits jetzt ist der Schaden gewaltig, und zwar sowohl auf diplomatischen Parkett als auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Einige asiatische Staaten könnten es langfristig übel nehmen, dass Israel seine Grenzen für ihre Bürger dicht gemacht hatte. Vor allem China, immerhin Israel zweitgrößter Handelspartner, war nicht gerade begeistert davon. Beijings Botschafter vor Ort sagte vor wenigen Tagen, dass ihn der Einreisestopp für Chinesen „an den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust erinnere“, was wiederum viele Israelis verärgerte, woraufhin der Diplomat sofort zurückruderte und sich entschuldigte. Alex Pevzner vom Jerusalem Institute for Security Studies erklärte, dass „die Regierung und die Chinesen selbst sehr empfindlich reagieren können, wenn es um ihr Image geht. Und wenn man in China liest, dass Israel seine Grenzen für Chinesen schloss, dann hat das gewiss negative Konsequenzen.“ Ähnliches gilt für Südkorea, wo Israel eigentlich immer hoch im Kurs stand. Das israelische Verhalten der vergangenen Tage dürfte das geändert haben. Zugleich bemüht sich das Außenministerium in Jerusalem um Schadensbegrenzung und veröffentlichte ein Video, in dem man seine Solidarität mit China in diesen schweren Zeiten zum Ausdruck brachte und Beijing Unterstützung im Kampf gegen den Corona-Virus versprach.

Das COVID-19 dürfte Israel insgesamt rund ein Prozent seines Bruttoinlandsproduktes (BIP) kosten – vorausgesetzt, es entsteht kein „Albtraum-Szenario“, das jedenfalls erklärte Shira Greenberg, Chefvolkswirtin im Finanzministerium. Schon die vergangenen drei Monate haben Ausfälle gebracht, die ungefähr 0,2 Prozent des BIPs entsprechen. Anders formuliert: Bleibt der Virus halbwegs unter Kontrolle, wird die Wirtschaftsleistung um umgerechnet zwischen eins bis vier Milliarden Euro geringer ausfallen als ursprünglich für das Jahr 2020 prognostiziert. Die israelische Zentralbank reduzierte die Wachstumsprognose bereits von 3,0 Prozent auf 2,9 Prozent. Die Gründe dafür sind die Arbeitskräfte in Quarantäne, die zusätzlichen Ausgaben, um das Gesundheitswesen irgendwie auf eine Notfallsituation vorzubereiten, sowie die ausbleibenden Touristen und kostspieligen Grenzkontrollen. Einigen Unternehmen kommt der Corona-Virus schon jetzt teuer zu stehen. Verkehrsminister Bezalel Smotrich bezifferte den Schaden, der für EL AL bereits entstand, auf 50 Millionen Dollar, weil die Airline ihren Betrieb nach Beijing oder Hongkong ganz einstellte oder wie im Fall Bangkok halbieren musste. An der für den 11. März vorgesehenen Eröffnung der Direktverbindung von Tel Aviv nach Tokio will man aber definitiv festhalten.

Doch die letzten Worte sind noch nicht gesprochen. „Die Unsicherheit konzentriert sich auf zwei ganz wesentliche Aspekte“, bringt es Professor Amir Yaron auf den Punkt. „Und zwar auf den Einfluss, den das Virus auf die ökonomische Entwicklung Chinas und damit die gesamte Weltwirtschaft haben wird“, so der Chef der israelischen Zentralbank. „Ebenso von Bedeutung ist die Zeit, die es dauert, bis die Krankheit entweder eingedämmt oder ganz vorbei sein wird.“ Sollten wichtige Volkswirtschaften längerfristig aufgrund einer COVID-19-Epidemie in Mitleidenschaft geraten, dann „wird eine substanziellere Wirkung erwartet, deren Ausmaß zum jetzigen Zeitpunkt schwer einzuschätzen ist.“

Bild oben: Screenshot aus einem Aufklärungsvideo des israelischen Gesundheitsministeriums