Gerettet – auf Zeit

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In Köln wird in einer Ausstellung an die Kindertransporte nach Belgien erinnert…

Von Roland Kaufhold

„Es sind unglaublich abenteuerliche Fluchtgeschichten, die diese jüdischen Kinder erzählen könnten“. Adrian Stellmacher von der Kölner Projektgruppe Jawne kommt in seinem dynamischen Auftreten bei den 70 Jugendlichen gut an, die sich vor der großformatigen Plakatwand mit 81 Kindern im LVR-Landeshaus im rechtsrheinischen Köln-Deutz versammelt haben. Die Jugendlichen sind aufmerksam, trotz der schwierigen Thematik. Fünf Schulklassen hatten sich bereits zwei Stunden zuvor im Filmforum NRWversammelt, um sich den Film Comme si c’était hier („Als wäre es gestern“) u.a. von Esther Hoffenberg anzuschauen. Diese aufrührende, 1980 in Belgien abgeschlossene Dokumentation der Rettungsaktionen für jüdische Kinder in Belgien wurde überhaupt das erste Mal in Deutschland gezeigt. Esther Hoffenberg ist für die Ausstellung und das begleitende Filmprojekt extra nach Köln gekommen.

„Ich denke, dass diese Ausstellung Kinder und Jugendliche wirklich anspricht. Die Verbrechen im 2. Weltkrieg werden gut auf die Gegenwart runtergebrochen.“ Die engagierte Lehrerin Zoe Köhn vom Düsseldorfer Cecilien-Gymnasium ist extra mit zwei Klassen der 9. Jahrgangsstufe nach Köln gekommen, um sich die Dokumentation „Gerettet – auf Zeit. Kindertransporte nach Belgien 1938/1939“ anzuschauen. „Wenn unsere Schüler verstehen, dass jeder Einzelne mitgewirkt hat, dann haben wir schon viel erreicht.“ Wenn von 30 Kindern 10 etwas von dieser verbrecherischen Geschichte mitbekommen dann habe es sich schon gelohnt.

„Schlepper haben die jüdischen Kinder von Deutschland nach Belgien gebracht. Anfangs konnten sie noch legal in Belgien leben, getrennt von ihren Eltern“, führt Adrian Stellmacher gegenüber den Schülern aus. Er zeigt er auf die zahlreichen Stelltafeln der ansprechend gestalteten Ausstellung: „Hier könnt ihr die einzelnen Lebensgeschichten noch einmal in Ruhe anschauen und in der Datenbank nachvollziehen.“ Einige jüdische Kinder waren hingegen ab 1938 legal nach Belgien gekommen, so insbesondere diejenigen, die mit den Kindertransporten einreisten.

Am 22.11.1938 hatte sich der belgische Justizminister, nach engagiertem Lobbying aus der Zivilgesellschaft, bereit erklärt, 250 Kinder und Jugendliche aufzunehmen. Zwei Monate später, als der Vernichtungswille der Deutschen offenkundig war, wurde die Zahl auf etwa 1000 erhöht. Die Zeit der scheinbaren Sicherheit dauerte für die jüdischen Kinder nicht lange an. Selbst die Sicherheit in der Fremde, in Gastfamilien und jüdisch-belgischen Zufluchtsorten, die Umstellung auf eine völlig veränderte Lebenssituation, war von nur kurzer Zeitdauer und trügerisch. Im Mai 1940 besetzten die Deutschen Belgien. Das Rettungswerk musste unter den Bedingungen der Illegalität fortgeführt werden. Beteiligt hieran waren zivilgesellschaftliche, jüdische, kirchliche und antifaschistische Gruppierungen wie die Antwerpener Organisation VoorHetJoodsche Kind van Duitschland. Etwa zwei Drittel der Kinder konnten gerettet werden. Viele von ihnen gingen später nach Israel, in die USA und England; einige von ihnen blieben in Belgien.

Eingebunden in die von einer Projektgruppe im Lern- und Gedenkort Jawne – dies ist der Name des früheren jüdischen Kölner Gymnasiums – erstellte Ausstellung ist ein Werk des Kölner Künstlers Ludwig Dunkel, selbst Sohn von Überlebenden: Es sind zwei skulpturale Objekte, darunter eine hölzerne Tischgruppe aus den 1920er Jahren ohne Tischplatte, die mehrfach von Kunststofffolie umwunden ist. Sie ermöglichen eine „übertragene Erinnerung“, durch die Erfahrungen von Geschichte und Gesellschaft „dauerhaft fixiert“ werden können, wie in einer von Werner Fleischer erstellten eigenen, bebilderten Begleitbroschüre zum Kunstwerk ausgeführt wird.

Künstler Ludwig Dunkel (Köln) und Filmemacherin Esther Hoffenberg

Viele Überlebensgeschichten werden in der Ausstellung in Köln nacherzählt. Vieles, hierzulande und wohl auch in Belgien selbst nicht-Erzähltes, ist sehr sorgfältig recherchiert worden. Überhaupt war bisher wenig Gesichertes über die Kindertransporte jüdischer Kinder von Nazideutschland nach Belgien bekannt. Zusätzlich hat die Projektgruppe im Lern- und Gedenkort Jawne, die drei Jahre an dem Thema gearbeitet hat, einen 64-seitigen, großzügig bebilderten Katalog zur Ausstellung erstellt.[i]

17 Kindertransporte retten 1000 jüdische Kinder

Ab 1938 konnten etwa 1000 jüdische Kinder vom Deutschen Reich nach Belgien gerettet werden, in insgesamt 17 Kindertransporten. Dort waren sie, nach der für die Kinder und ihre Eltern schmerzhaften Trennung, scheinbar in Sicherheit. Lange hielt diese Sicherheit nicht an: Im Mai 1940 besetzten die Deutschen auch Belgien, so dass die Kinder und Jugendlichen erneut konkret existentiell bedroht waren.

In Europa gab es nur wenig Solidarität für die bedrohten Juden. Einzig Großbritannien erklärte sich 1938 bereit, 10.000 jüdische Kinder aufzunehmen. Am 22.11.1938 erklärte sich der belgische Justizminister, nach scharfen Protesten aus der Zivilgesellschaft, bereit, vorerst 250 Kinder und Jugendliche aufzunehmen. Im Januar 1939 erhöhte er die Anzahl um weitere 750. Von den insgesamt 1000 jüdischen Kindern überlebten etwa 2/3 die Zeit der organisierten Verfolgung und Vernichtung. Im Ausstellungskatalog werden einige der Biografien nacherzählt. Viele von ihnen emigrierten danach, als Jugendliche bzw. als junge Erwachsene, nach Palästina oder in die USA. Einige blieben jedoch auch in Belgien.

In Belgien entstand ab 1938 ein Helfersystem, das die Kinder in Empfang nahm: Viele von ihnen kamen in jüdische Kinderheime, andere in Privatfamilien. Beteiligt waren hieran Organisationen wie die Antwerpener Organisation Voor Het Joodsche Kind van Duitschland, das Comité des Avocates sowie das Comité de Secours aux Réfugiés Protestants.

Nach der deutschen Besatzung Belgiens im Mai 1940 und dem Beginn der Deportationen nach Auschwitz erhielten die Kinder von einem mutigen Unterstützerkreis eine neue Identität, neue Papiere. Ihnen wurde erklärt, dass sie ihren bisherigen Namen vergessen und nun einen neuen tragen mussten. Einige wurden auch in einem tollkühnen Rettungsprojekt – welches in dem in Köln parallel zur Ausstellung gezeigten  Film Comme si c’était hier („Als wäre es gestern“) (1980) auf eindrückliche Weise dokumentiert wird – in Heimen für geistig behinderte Kinder versteckt. Alle Mitarbeiter wussten um die jüdische Identität der Kinder – und verrieten die Kinder nicht an die deutschen Besatzer.

Die Retterin Käthe Meta Lux

Köln spielte bei diesem Rettungsprojekt eine zentrale Rolle, etwa 60 jüdische Kinder aus Köln konnten nach Belgien gerettet werden. Das vermutlich jüngste Kind war Martha Szmulewicz aus Köln: Am 12.1.1939 wird das siebenmonatige Baby mit ihren zwei Geschwistern von ihren Eltern in Brüssel in Empfang genommen. 1943 wird die Familie verhaftet und nach Auschwitz deportiert. In Köln war die 1879 geborene Ökonomin Käthe Meta Lux maßgeblich an der Organisation der Kindertransporte beteiligt. Die promovierte Nationalökonomin wurde 1934 als Jüdin in Berlin aus dem Staatsdienst entlassen, ihre Familie floh 1939 nach Palästina. Käthe Meta Lux hingegen blieb in Deutschland und zog nach Köln. Als Fürsorgerin beim Provinzialverband für jüdische Wohlfahrtspflege in der Rheinprovinz koordinierte sie das europaweite Rettungsprojekt. Im Juli 1942 wurde sie nach Theresienstadt deportiert, wo sie am 5.1.1943 verstarb (Katalog S. 7).

In der anregenden Ausstellung sowie dem Ausstellungskatalog werden auch belgische Persönlichkeiten gewürdigt, die den jüdischen Kindern halfen. Hervorstechend war der Mut von Dr. Siegfried und Rosi Rothschild. Siegfried Rothschild, der in Dinslaken aufgewachsen war, leitete ab 1938 ein Waisenhaus in Antwerpen; er und seine Frau Rosi hatten zuvor u.a. im jüdischen Kinderheim AHAVA in Berlin gearbeitet. Ab 1940 galten sie als „unerwünschte Ausländer“. Rosi Rothschild blieb auch während der deutschen Besatzung in Belgien. Nach der von den Deutschen angeordneten Auflösung ihres Antwerpener Kinderheimes brachte sie die jüdischen Kinder an geheime Orte und rettete so deren Leben. Ihr Mann wurde u.a. in das Lager Gurs verschleppt, 1943 gelang ihm die Flucht in die Schweiz. Ende Mai 1945 kehrte er nach Belgien zurück (Katalog S. 10).

Änneke Winckel zeichnet in knapper Form den Überlebenskampf der etwa 60.000 Juden in Belgien wie auch den antifaschistischen Widerstand nach. Ab Mai 1942 ordneten die deutschen Besatzer auch in Belgien an, dass Juden den gelben „Judenstern“ öffentlich tragen mussten.

Köln nahm wegen seiner relativ großen jüdischen Gemeinde sowie ihrer jüdischen Schule Jawne mit ihrem Schulleiter Erich Klibansky eine zentrale Rolle bei der Rettung dieser Kinder ein.Berührend geraten ist das von Stellmacher verfasste Kurzportrait des 1931 geborenen Adi Bader: Seine ersten Lebensjahre verbringt er im Israelitischen Kinderheim in der Kölner Lützowstraße. Die Emigration in die USA scheitert. Sein älterer Bruder Martin kann im Dezember 1939 mit der Jugendalijah nach Palästina ausreisen. Adi wird von Maria Lommers in Belgien in ihre Familie aufgenommen, seine jüdische Identität hält sie verborgen. Nach drei Jahren ist auch dieser Ort nicht mehr sicher. Ab September 1942 kommt der Elfjährige zusammen mit 30 Mädchen und Jungen in ein Kinderheim in Schaarbeek, sie erhalten Deckidentitäten, später wird er in einem belgischen Kloster versteckt – er überlebt. Der größte Teil seiner Familie hingegen wird ermordet. Ende 1945 erhält er ein Lebenszeichen seines Bruders in Palästina. Wenige Wochen später emigriert er 14-jährig dorthin. Gut zehn Jahre später kehrt er nach Deutschland zurück und gründet eine Familie. 2009 publiziert seine Tochter seine familiären Lebenserinnerungen in dem Buch „Kölsche Jonge. Spuren einer jüdischen Familie“.

V.l.: Änneke Winckel (Projektgruppe Jawne), Regina Suchowolski-Sluszny und Esther Hoffenberg. Regina Suchowolski-Sluszny ist Vorstandsmitglied der Enfant Caché asbl./Het Ondergedoken Kind vzv., der Vereinigung der ehemals in Belgien versteckten jüdischen Kinder und Vorsitzende des Jüdischen Forums Flamens. Sie hat als Kleinkind bei einer nichtjüdischen Pflegefamilie überlebt.

Die ansprechend geratene Ausstellung im Kölner LVR-Landeshaus am Rhein verdient einen Besuch. Sie erzählt über das Rettungskapitel der Kindertransporte in Belgien, über das hierzulande bisher wenig bekannt ist. Parallel hierzu wurde von der Projektgruppe Jawne vom 17. – 19.1. in Köln eine Filmreihe mit belgischen Ehrengästen gezeigt (siehe Bild rechts.)

Die Ausstellung ist noch bis zum 2.2.2020 im Köln-Deutzer LVR-Gebäude zu sehen, wo auch der Katalog erworben werden kann.

Eine gekürzte Version dieses Beitrages ist in der Jüdischen Allgemeinen erschienen.

Fotos: Roland Kaufhold

[i] Claire Merkord, Anne Prior, Ursula Reuter, Adrian Stellmacher und Änneke Winckel: Gerettet – auf Zeit. Kindertransporte nach Belgien 1938/39. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung des Lern- und Gedenkorts Jawne, 66 S., gebunden, Copyright Lern- und Gedenkort Jawne, Köln 2019