Pisa-Schock: Versetzung gefährdet

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Blamage für die Startup-Nation. Im internationalen Vergleich schneiden Israels Schüler überdurchschnittlich schlecht ab. Das belegen die Ergebnisse der aktuellen Pisa-Studie. Doch das sollte eigentlich niemanden überraschen…

Von Ralf Balke

Am Dienstag war es wieder mal so weit. Es gab Zeugnisse mit Noten und Punkten. Doch diesmal sollten es nicht die Lehrer sein, die ihre Schüler bewerteten und darüber entschieden, wer gute oder schlechte Leistungen erbracht hatte. Vielmehr veröffentlichte wie alle drei Jahre seit der Jahrtausendwende die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, kurz OECD, die Ergebnisse ihrer Programme for International Student Assessment Tests, besser bekannt als Pisa-Studie. Darin dreht sich alles um die Performance von 15-jährigen Schülerinnen und Schülern in den Bereichen Lesekompetenz, Mathematik sowie Naturwissenschaften. Ungefähr 600.000 von ihnen unterzogen sich in 79 Staaten – darunter den 36 OECD-Mitgliedsländern und damit auch Israel – eigens einer Reihe von Prüfungen, die darauf ausgerichtet waren, ihre Fähigkeiten in genau diesen drei Feldern unter die Lupe zu nehmen, um so einen internationalen Vergleich zu ermöglichen.

Für Israel sollten die Ergebnisse alles andere als ein Grund zur Freude sein. So kamen israelische Schülerinnen und Schüler im Bereich Lesekompetenz auf gerade einmal 470 Punkte und lagen damit ziemlich deutlich unter dem OECD-Durchschnitt von 487. Zum Vergleich: Deutschland befand sich zwar mit 498 Punkten im oberen Drittel, Spitzenreiter sollten aber die Regionen Beijing, Shanghai sowie Jiangsu und Zhejiang mit 555 Punkten sein. Ähnlich mager sah es in Mathematik aus. Israel brachte es auf 463 Punkte, auch hier lag man unter dem OECD-Durchschnitt von 489 Punkten. Deutschland erzielte 500 Punkte, auf Platz Eins war erneut die Vier-Städte-Region in China mit satten 591 Punkten. Das gleiche Bild zeigte sich auch im Bereich Naturwissenschaften. Israel erhielt 462 Punkte, erneut weniger als der OECD-Durchschnitt von ebenfalls 489 Punkten. Deutschland steht zwar mit 503 Punkten etwas besser da, aber immer noch weit abgeschlagen von den vier Metropolen in China mit ihren 590 Punkten, die wieder einmal den Spitzenrang belegten.

Bemerkenswerterweise brachte die neueste Pisa-Studie noch einige andere Ergebnisse zutage: Der Anteil israelischer Schülerinnen und Schüler, die in einem der drei untersuchten Bereichen besonders gute Leistungen erbringen, entspricht ungefähr dem OECD-Durchschnitt. Bezogen auf die Felder Lesekompetenz und Mathematik liegt dieser jedoch deutlich über dem Mittelwert, wenn es um diejenigen geht, die darin auffällig schlechte Leistungen erbringen. Hinzu addieren sich noch einige Besonderheiten, die exklusiv das israelische Schulsystem betreffen. Es ist in vier Sektoren fragmentiert, und zwar in einen säkularen, einen ultraorthodoxen sowie einen religiös-zionistischen und einen arabischen. Und genau da zeigt sich ein eklatantes Gefälle: Während diejenigen mit Hebräisch als Muttersprache im Lesen auf 506 Punkte kamen, erreichten Schülerinnen und Schüler an arabischen Schulen gerade einmal 362 Punkte. Ähnlich das Bild in den beiden anderen Bereichen. In Mathematik schnitten die Hebräisch-Sprechenden mit 490 Punkten ab, die andere Gruppe dagegen kam nur auf 379 Punkte. Und in den Naturwissenschaften waren es immerhin 491 Punkte für die erste Gruppe und magere 375 Punkte für die zweite. Damit kann Israel in der Pisa-Studie einen einzigen Spitzenplatz für sich verbuchen, und zwar im negativen Sinne: In keinem anderen der 79 teilnehmenden Staaten ist der Unterschied zwischen den „guten“ sowie „schlechten“ Schülerinnen und Schülern so ausgeprägt wie hier. Für die politischen Vertreter der arabischen Israelis boten die Ergebnisse wenig überraschend Anlass zur Fundamentalkritik. „Wenn es um die Einbeziehung der arabischen Gesellschaft geht, offenbart die Pisa-Studie das Scheitern des Bildungsministeriums auf ganzer Linie“, twitterte beispielsweise Ahmad Tibi von der Vereinten Arabischen Liste.

Auch von Seiten der Opposition hagelte es heftige Kritik. Netanyahu-Herausforderer Benny Gantz von Blau-Weiß erklärte in einem ersten Statement: „Wir können nicht einfach so akzeptieren, dass Israel bei dem Thema Ungleichheit im Bereich Bildung absoluter Spitzenreiter ist. Israel sollte ein Vorbild auf diesem Gebiet sein.“ Damit bezog er sich ebenfalls auf die Aussage in der Pisa-Studie, dass israelische Schülerinnen und Schüler mit einer schlechteren Performance auffallend oft unter sich bleiben und kaum Möglichkeiten haben, an Schulen zu lernen, an denen bessere Leistungen erbracht werden. Diese Kluft hat viel mit der Herkunft und dem Einkommen der Eltern zu tun und ist ebenso in der Ausstattung der Schule und der Verfügbarkeit qualifizierter Lehrer zu beobachten. Wo es vergleichsweise schlecht um die Leistungen bestellt ist, sieht es auch übel mit der Lehrerzahl und den finanziellen Spielräumen aus und umgekehrt. Genau deshalb forderte Gantz Sofortmaßnahmen für das Schulsystems sowie weitreichende Reformen. Auch das Bildungsministerium meldete sich sofort zu Wort und versprach die Einrichtung einer speziellen Arbeitsgruppe, die die Defizite im arabisch-sprachigen Schulsektor erfassen und Verbesserungsvorschläge machen soll. Dabei sollte das Augenmerk vor allem auf den Gemeinden der Beduinen im Süden des Landes liegen, wo die Lage besonders prekär ist. Dennoch sei man von den Ergebnissen der Pisa-Studie überrascht, weil man doch in jüngster Zeit einiges unternommen hätte, das Gefälle zwischen dem jüdischen und dem arabischen Sektor zu verringern – offensichtlich ohne Erfolg.

Insgesamt hatten im Rahmen der Pisa-Studie in Israel 6.623 15-jährige Schülerinnen und Schüler an 174 Schulen sich den Prüfungen unterzogen. Vergleicht man die aktuellen Ergebnisse mit denen aus vorherigen Jahren, ist das Bild reichlich zwiespältig. Beispiel Lesefähigkeit: Bei der allerersten Pisa-Studie im Jahr 2000 betrug die Punktzahl in Israel gerade einmal 452 und sank bis 2006 auf erschreckende 439 Punkte. Danach verbesserten sich die Zahlen bis 2012 auf 486 Punkte. Jetzt bewegen sie sich zum zweiten Male nach unten. In Mathematik dagegen ließ sich seit 2006 eine kontinuierliche Verbesserung von 442 Punkte auf 470 Punkte im Jahr 2015 beobachten, nun aber zeigt die Kurve wieder abwärts. Ebenso in den Naturwissenschaften: Erst ging es stetig aufwärts mit den Punkten, aktuell dagegen gibt es eine leichte Verschlechterung. Anlass zur Sorge sollten den Verantwortlichen einige weitere Zahlen geben. Im Unterschied zu 2015 schnellte der Anteil israelischer Schülerinnen und Schüler, die bei den Leseprüfungen gnadenlos scheiterten um vier Prozentpunkte auf satte 31 Prozent nach oben. OECD-weit dagegen erlitten in dieser Disziplin nur neun Prozent Schiffbruch. Ähnlich katastrophal entwickelte sich die Versagerquote in Mathematik und den Naturwissenschaft: 34 Prozent beziehungsweise 33 Prozent, beide Werte liegen deutlich über dem OECD-Durchschnitt. Die Macher der Studie verweisen auf einen auffallend hohen Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Hintergrund der Schülerinnen und Schülern und ihrem Scheitern in den Tests. In kaum einem anderen Land sei dieser so eklatant wie in Israel.

Zudem spiegeln die Zahlen nur ein Teil des Bildes wider. Denn die Schülerinnen und Schüler an den ultraorthodox ausgerichteten Bildungseinrichtungen nahmen an der Pisa-Studie gar nicht erst teil. Angesichts der Tatsache, dass säkulare Fächer dort einen untergeordneten Stellenwert haben, hätte ihre Inklusion in den Testreihen die Ergebnisse aus Israel im internationalen Vergleich noch finsterer aussehen lassen. Und der Anteil der jungen jüdischen Israelis, die an einer nicht-säkularen Schule unterrichtet wurden, ist erschreckend hoch. Von den insgesamt 126.000 Schülerinnen und Schülern, die in diesem Sommer die 12. Klasse beenden konnten, hatten 27 Prozent an einer arabischen Schule Wissen vermittelt bekommen, fünfzehn Prozent an einer ultraorthodoxen und vierzehn an einer staatlich religiösen, aber nur noch 46 Prozent an einer säkular-staatlichen. Und während die Zahl derjenigen, die in einer Schule lernen, deren Lehrplan von den beiden ultraorthodoxen Parteien Schass sowie Vereintes Thora Judentum konzipiert wurde, stetig ansteigt – allein in den zehn Jahren, in denen Netanyahu Ministerpräsident ist, um 60 Prozent, absolvieren immer weniger Schüler eine „klassische“ Ausbildung, mit der man anschließend eine Universität besuchen kann oder auf den Arbeitsmarkt Chancen hätte. In einigen Städten ist die Entwicklung besonders dramatisch. In ganz Jerusalem waren es dieses Jahr nur noch 2.000 Kinder, die an einer säkular-staatlichen Einrichtung eingeschult wurden – gerade einmal elf Prozent aller Schulanfänger in der Hauptstadt. In Tel Aviv war es genau umgekehrt, nämlich 78 Prozent. Doch die Gesamtzahl der Erstklässler in der Küstenmetropole ist um zwei Drittel kleiner als die in Jerusalem.

Durch diese Trends – und die Ergebnisse der aktuellen Pisa-Studie verweisen nur zum Teil auf die Misere im israelischen Bildungswesen – ist die Zukunft des Landes in Gefahr. Oder anders formuliert: Wenn rund die Hälfte aller Kinder und Jugendlichen eine Bildung auf Dritte-Welt-Niveau erhält, dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Wirtschaft ebenfalls auf dieses Level abstürzt. Auch das Militär schlägt mittlerweile Alarm, weil immer mehr Wehrpflichtige große Wissensdefizite aufweisen, die man nun ausgleichen müsse. Aktuell sehen die Zahlen noch rosig aus. Kaum ein anderes Land verzeichnet in der Altersgruppe zwischen 35 und 54 so viele Akademiker wie Israel. Doch damit dürfte bald Schluss sein, wie die OECD bereits festgestellt hat, und das nicht nur, weil die Zahl derer, die nach der Schule ein College oder eine Universität besuchen, neuerdings nicht mehr ansteigt, sondern sogar schrumpft. Israel ist das einzige Land in der westlichen Welt, in dem der Anteil von akademisch Gebildeten in der Alterskohorte der jüngeren Erwachsenen kleiner ist als in der Gruppe derer, die jetzt kurz davor ist, in Rente zu gehen.

Offensichtlich steckt der Fehler im System. Denn seit 2015 wurden die Ausgaben im Bildungsbereich um umgerechnet rund 2,5 Milliarden Euro erhöht. Doch immer noch sind im OECD-Vergleich die Klassenräume deutlich voller und die Zahl der Unterrichtsstunden geringer als anderswo. Der Lehrerberuf ist aufgrund miserabler Bedingungen und Gehälter alles andere als begehrt und Eltern, die darauf achten, dass ihre Sprösslingen gute Startchancen für das spätere Leben haben, müssen tief in die Tasche greifen, um wichtige Bildungsangebote, die an staatlichen Schulen nicht mehr im Programm sind, selbst zu finanzieren. Das können sich immer weniger leisten. Doch das Kernproblem wird nicht angepackt: Die Autonomie der Schulen unter ultraorthodoxer Aufsicht.

Bild oben: T-Shirt für die Erstklässler in Tel Aviv